Abschied für immer: Dank an einen großartigen Menschen
Eine Trauerrede auf XING? Ist das nicht zu persönlich? Vom Tod im geschäftlichen Kontext schreiben? „Das passt doch nicht“, denken vielleicht vor allem jene Menschen, für die der Tod auch nicht ins Leben „passt“. Auf ihrem Karriere- und Erfolgsweg kommt er nicht vor. Aber er gehört dazu, weil er uns besinnen lässt auf das, was wirklich wichtig ist. Dass ich die Trauerrede an meinen Vater hier veröffentliche, hat mehrere Gründe: Als ich Ende 2019 die Nachricht erhielt, zu den XING Top Minds 2019 zu gehören, konnte ich mich nicht freuen, weil er zeitgleich die Diagnose erhielt, unheilbar an Krebs erkrankt zu sein. Das tägliche Bloggen auf XING und die Sachlichkeit einiger Themen waren in dieser Zeit auch ein wichtiger Stabilitätsfaktor. Die Trauerrede nehme ich hier auf, weil sie Ende und Anfang von etwas markiert, das auch auf XING stattfindet und meine späteren Blogbeiträge immer wieder beeinflussen wird.
Trauerrede für J. am 9. September 2020
Liebe Trauernde,
es ist schwer, im Hier und Jetzt zu sein, weil J. nicht mehr da ist, aber genauso schmerzen auch die Erinnerungen. Diese Zeit ist für uns Trauernde auch wie sterben, weil das Leben, das wir gelebt haben, nicht mehr weitergeht wie zuvor. Wir können nicht glauben, dass er einfach weg ist. Dass ich einmal eine Abschiedsrede für ihn halten würde, hätte ich mir niemals vorstellen können. Wie oft hat er mich mit Dir, liebe Mutti, zu Vorträgen begleitet. Es waren immer unvergessliche Familienreisen. Während ich Geschäftstermine wahrnahm, habt Ihr eine schöne Zeit in der jeweiligen Umgebung verlebt. Das letzte Mal im Oktober 2019 in Weimar, wo Ihr morgens in den Goethe-Park an der Ilm spazieren gegangen seid. Es war der bislang schönste Herbsttag Eures Lebens.
Diese Abschiedsrede ist gleichzeitig eine Dankesrede an einen großartigen Menschen, und ich hoffe so sehr, dass er jetzt bei uns ist und uns zuhört:
Typische Wörter von Trauerrednern wie „Unser J.“ hättest Du abgelehnt, denn man kann anderen nicht gehören – nur sich selbst. Für die meisten von uns warst Du immer „Papa J.“. Es hat Dir gefallen, von allen gebraucht und gemocht zu werden. Du warst ein ruhiger und genügsamer Mensch, der in seinem Leben vielleicht mehr für andere getan hat als für sich selbst. Über den Tod hast Du nie gesprochen – nur dass Du wieder in die Natur eingehen möchtest unter einem Baum. „Wären es doch noch ein paar Jahre.“ hast Du in der letzten Zeit oft gesagt. Doch es waren nach der schockierenden Diagnose im November 2019 nur noch neun Monate.
In dieser Zeit drehte sich alles um Krankenhaus, Blutwerte, Chemo, Bestrahlung, CT und MRT. Wir haben die gemeinsame Zeit dennoch so gut wie möglich genutzt und gemeinsam genossen. Rückblickend wirkt alles wie ein Kreis, der sich geschlossen hat – und vielleicht sind die neun Monate auch symbolisch zu sehen: Es ist auch die Zeit, in der ein Kind im Bauch der Mutter heranreift und sich alles von Grund auf ändert. Ankunft und Abschied haben viel gemeinsam. Vielleicht fällt uns das Abschiednehmen leichter, wenn wir uns alles noch einmal bewusst machen und dann erkennen, wie alle Teile ineinandergreifen:
Im November schrieb ich an einem Buch zum Thema Klimawandel, Endlichkeit und Dringlichkeit – auch über Roger Willemsens Krebserkrankung. Genau an dem Tag, an dem ich das Vorwort abgab – es war der 14. November 2019 - erhielten wir Deine Diagnose. Wir erlebten, dass sich das Leben von einer Sekunde auf die andere ändern kann. Das Buch verlor angesichts dieses Ereignisses an Bedeutung, dennoch wünschte ich mir, dass Du sein Erscheinen noch erleben kannst, denn es war Euch beiden gewidmet.
Dieser Wunsch und viele weitere haben sich erfüllt: Ich betete zum lieben Gott, dass er uns noch einen gemeinsamen Urlaub in Bad Ischl schenkt, dass Du noch einmal nach Altdorf kannst zu all jenen, die uns immer begleitet haben und sich um Dich sorgten: unseren türkischen Gemüsehändler, den Zeitungsmann und das Café Riedner. Vor allem aber hast Du Deine Schwester noch im Dezember 2019 getroffen, mit K. und C. haben wir im Garten gegrillt, ebenso mit R., den du noch gebeten hast, die Hecken zu schneiden. „Es muss doch alles fertig sein“, sagtest Du, als hättest Du etwas geahnt.
Ende Juni hast Du mit den Fahrern der Betonmischanlage einen Abschiedstermin zum Grillen in der Firma ausgemacht. Es war mein 50. Geburtstag. Ich bin so froh, Dich nicht darum gebeten zu haben, zu Hause zu bleiben, sondern von Deinen Kollegen Abschied zu nehmen. Du sagtest danach, dass es jetzt gut sei, und dass Du ja nie wieder dorthin fahren wirst. Alle Wünsche sind erfüllt worden. Sollten wir dafür nicht dankbar sein? Jeder Wunsch hätte augenblicklich Junge bekommen – man hört ja nicht auf zu wünschen: noch ein paar Jahre und noch ein paar weitere …
Merkwürdig war, dass ich einen Tag vor Deinem Tod, als Mutti bei Dir im Krankenhaus war, im Radio den Song „Circle of life“ von Elton John zum ersten Mal bewusst wahrnahm. Darin heißt es: „Einige von uns bleiben auf der Strecke / Und einige von uns steigen auf zu den Sternen / Und einige von uns kommen leicht mit allen Problemen klar / Und einige müssen mit den Narben leben… / Im Kreislauf des Lebens.“ War das ein Zeichen von vielen anderen?
Am Tag Deines Firmenabschieds regnete es genauso stark wie in dem Moment, als Mutti und ich einen Tag nach Deinem Tod aus dem Bestattungsinstitut kamen und am 29. August zum ersten Mal in diesen Bestattungswald kamen, um Dein zukünftiges Haus kennenzulernen. Du hast den Regen im Krankenhaus so sehr ersehnt. Vielleicht wolltest Du uns sagen, dass jetzt alles gut ist. Merkwürdig war auch, dass mir eine Woche nach Deinem Tod, am frühen Abend während des Rasenmähens, eine große Kröte nicht von der Seite wich: Erst, als ich ganz nah an sie herankam, hüpfte sie in großen Sprüngen durch den halben Garten in Richtung Gartenteich – wir haben sie dort aber nie wiedergesehen.
Auf Grund ihrer Erdverbundenheit erscheint sie in Märchen oft als Wegweiser, Ratgeber und Lehrer, was sie auch zu einer Botin der Mutter Erde macht. Bei den Kelten war sie ein weiteres Symbolbild der Entwicklungsstadien der Menschen: Kindheit – Erwachsenenalter – Alter; Wachsen – Fruchtbarkeit – Vergehen. Die Energie der Kröte wird außerdem als Verbindung zwischen dem Leben und dem Tod aufgefasst. Etwas ähnliches erlebten wir am 31. August: Wir sind den gleichen Weg spazieren gegangen, wie Du ihn so oft gegangen bist. Dann kam ein Rotkehlchen ganz dicht an uns heran. Im Volksglauben heißt es: „Fliegt dieser niedliche Vogel in Ihr Leben oder singt er für Sie, so will er Ihnen den Abschied und das Loslassen von Etwas erleichtern.“ Vielleicht interpretieren wir zu viel in solche Begegnungen hinein – aber der Gedanke, dass es Zeichen von Dir sein könnten, hat etwas Tröstliches.
Auf Deinen Abschied warst Du nicht vorbereitet – und auch wir nicht. Du hast Dich trotz Chemotherapie die meiste Zeit gut gefühlt und schautest hoffnungsvoll in die Zukunft. Du hast Dich gefreut, wenn Dir andere sagten, wie gut Du aussiehst und dass man Dir die Krankheit nicht ansieht. Doch die letzten vierzehn Tage im Krankenhaus veränderten alles. Der schmerzhafte Abschied von Dir war das schlimmste, was wir je erlebt haben. Nie haben wir uns ohnmächtiger und trauriger gefühlt. Die Tage vor und unmittelbar nach Deinem Tod hatten etwas Unheimliches: Drei Tage vor Deinem Tod widmete ich mich im XING-Blogbeitrag der Farbe Schwarz – der Beitrag hieß „Dunkle Zeiten“. Immer und immer wieder fügte ich den Text in die Eingabemaske, aber die Buchstaben und Abstände waren nicht wie sonst, und es dauerte, bis der Text hochgeladen war. Auch TV, Internet und Telefon im Haus gingen plötzlich nicht mehr – es war, als würden wir plötzlich nur auf uns und unsere Trauer zurückgeworfen sein. Alles brach plötzlich zusammen. Das Leben war plötzlich stehengeblieben. Und nur Du warst gegenwärtig.
Alles konntest Du bauen und reparieren, Du hast Schränke vor dem Wegwerfen gerettet und aufbereitet, hast Tische, Schränke, Regale und Vogelhäuser designt und gebaut – und Dich so lange mit einem Problem beschäftigt, bis Du es gelöst hast. Und natürlich kümmertest Du Dich um alles Technische und unsere PC. Noch als Du krank warst, hast Du Dich, während wir noch schliefen, ins Büro geschlichen, damit das Update vor dem Frühstück fertig ist und ich sofort weiterarbeiten kann. Natürlich warst Du kein IT-Profi, sondern ein Amateur, der eine enorme Reaktionsfähigkeit und stets das richtige Bauchgefühl hatte. Ein „Amateur“ ist jemand, der das Lernen und Üben liebt. Das Wort kommt vom lateinischen Wort amator („Liebhaber“). Amateure erhalten keinen Gehaltsscheck für ihre Anstrengungen – dennoch lässt sich viel von ihnen lernen. Zum Beispiel, dass echte Motivation und Leidenschaft von innen kommen und nichts mit Geld und Berechnung zu tun haben.
Wir sind so dankbar für die Zeit mit Dir, und Dein Tod zeigt uns einmal mehr, was wirklich wichtig ist und worauf es im Leben ankommt. Du hast Dich in den letzten Monaten immer fasziniert mit der Apple Watch beschäftigt und hast den Kauf wegen der Krankenhausaufenthalte immer hinausschieben müssen. Zeit und alles, was Du damit messen wolltest (Deine Schritte oder Deine Blutwerte), spielt für Dich jetzt keine Rolle mehr.
Auch der Apple-Boss Steve Jobs, der nur ein Jahr älter war als Du, musste erfahren, dass es einen Bereich gab, in dem alles Streben nach Perfektion nichts half. 2004 wurde bei ihm ein Tumor an der Bauchspeicheldrüse festgestellt. Ein Jahr nach der Diagnose, am 12. Juni 2005, hielt er seine legendäre Rede vor Studenten an der kalifornischen Stanford University. Mehr als zehn Millionen Menschen haben sie damals auf Youtube angesehen. Einige davon noch einmal nach dem Tod des Visionärs am 5. Oktober 2011.
Er sprach von einer Operation, die seinen seltenen Krebs besiegt habe – doch das war ein Irrtum: „Als ich 17 war, las ich irgendwo ein Zitat, das ungefähr so lautete: ‚Lebt man jeden Tag, als wär es der letzte, liegt man eines Tages damit richtig.‘ Das ist hängengeblieben. Seitdem frage ich jeden Morgen mein Spiegelbild: ‚Wenn heute der letzte Tag meines Lebens ist, würde ich dann gern das tun, was ich heute tun werde?‘ Und wenn die Antwort an zu vielen Tagen hintereinander nein lautet, weiß ich, dass ich etwas ändern muss.“ Seine wichtigste Botschaft ist auch an uns Trauernde gerichtet: „Eure Zeit ist beschränkt, also verschwendet sie nicht damit, dass ihr das Leben von jemand anderem lebt… Und am allerwichtigsten: Habt den Mut, eurem Herzen und eurer Intuition zu folgen.“