Anleitung zum gelingenden Leben: Warum die stoische Philosophie hochaktuell ist
Je unruhiger, unüberschaubarer und unberechenbarer die Welt um uns herum wird, desto ausgeprägter ist unsere Sehnsucht nach Ruhepolen. Beständigkeit und Stabilität in einer haltlosen Welt finden immer mehr Menschen in der stoischen Philosophie, die in der Antike eine Anleitung zur Lebensbewältigung in einer unruhigen Welt war. Der Mensch findet sein Glück „im reflektierten Bei-sich-Sein, im Einklang mit sich und der Welt, mit der vernünftig geordneten Natur.“ Als Boris Becker nach 231 Tagen Gefängnis vor einigen Wochen bei seinem ersten TV-Interview zu sehen war, berichtete er, wie er zum Stoizismus gefunden hat. Viele Eigenschaften, die dieser Philosophie zugeschrieben werden, erinnerten ihn daran, dass er sie auch als Tennisspieler hatte: Disziplin und Präsenz im Moment.
Ihren Anfang nahm die Stoa etwa 300 vor Christus (von Zenon von Kition gegründet). Der Phönizier Zenon lehrte in einer Säulenhalle (Stoa) auf dem Marktplatz von Athen. Er war davon überzeugt, dass es möglich ist, durch Kontrolle der eigenen Affekte und durch Gleichmut gegen die äußeren Verhältnisse zum guten Leben zu gelangen. Im Fokus der stoischen Philosophie steht das Ich, seine gelungene Selbstbehauptung. Von Beginn an war die Stoa eine Krisen-Philosophie, die mit einfachen Antworten auf den Zerfall der griechischen Stadtstaaten reagiert. Im Jahr 64 nach Christus schrieb der römische Politiker Seneca, der die Gedanken der frühen griechischen Stoiker weiterentwickelte: „Furchtlosigkeit und bleibende Seelenruhe. Diese wird gewonnen, wenn die Seele erhaben denkt und beharrlich festhält, was sie für gut erkannt hat.“ Im 15. Brief an Lucilius bemerkt er: „Nicht auf Worten beruht die Philosophie, sondern auf Handlungen.“ – sie zeigt, was man tun und lassen muss.
Die Stoiker gingen davon aus, dass wir einen bestimmten Platz in einer großangelegten Weltordnung einnehmen, den wir auf bestmögliche Weise auszufüllen haben. Dabei geht es um eine Balance zwischen unserer schicksalshaften Bestimmung und dem, was uns dieser „Platz“ an Gestaltungsfreiheit möglich macht. Die Beschränkung, dass nicht alles möglich ist, gilt als eigentliche Voraussetzung für ein gelungenes Leben.
Distanz zur Welt
Geduld und Ruhe
Gelassenheit als eine Form der „Tüchtigkeit“ (Kompetenz)
Gefasstheit
Pflichterfüllung
Selbstbeherrschung
Unempfindlichkeit gegenüber dem Schicksal.
Es geht allerdings nicht darum, sich in aller „Ataraxie“ (Affektfreiheit) von der Welt der Gefühle zurückzuziehen, sondern darum, sich nicht im Sturm der Welt zu verlieren. Gerade, wenn wir gefühlsmäßig überzulaufen drohen, wird an die menschliche Vernunft appelliert und die Fähigkeit, sich zu sich selbst und der Welt ins Verhältnis zu setzen, um besser mit bestimmten Situationen umgehen zu können. Die Stoa bewährt sich als Lebenslehre, „die Menschen in die Lage versetzen soll, in der Begegnung mit den Dingen der Welt dem einmal eingeschlagenen Weg zu folgen und – dies ist das Entscheidende – die Ruhe zu bewahren“, schreibt der Philosoph Ralf Konersmann in seinem Buch „Die Unruhe der Welt“. Vor allem mit Staatsmännern sei die Erwartung verbunden, dass sie im Getümmel die Übersicht behält: Deshalb sei das Bild der „ruhigen Hand“, das Gerhard Schröder oft zitierte, für Politiker so attraktiv. „Es suggeriert, dass es eine Zentrale gibt, die über alles wacht und weiß, wann es einzugreifen gilt“, so der Philosoph. Auch Helmut Schmidt hat wiederholt Marc Aurel als Vorbild genannt.
Der Unternehmer Erich Sixt bekannte sich ebenfalls in einem früheren Spiegel-Interview zur Stoa: Wenn er nicht schlafen kann, sagte er, greift er zu Marc Aurel. Der altrömische Kaiser spricht dann über Jahrtausende zu ihm. Das schenkt ihm Seelenfrieden und unterstützt ihn darin, Probleme zu versachlichen. Dazu braucht es allerdings ständiges Training, das dazu führt, dass Menschen im Einklang mit sich und der geordneten Welt sind.
Indem er sich auf das konzentriert, was in seiner Macht steht (was er beeinflussen und verändern kann), wird der Mensch nach Seneca frei. Allem anderen, was nicht von ihm abhängt, sollte er gelassen begegnen und sich ins Unabänderliche fügen (Seneca in seinem 96. Brief an Lucilius). Dies findet sich auch im Gelassenheitsgebet, das vom US-amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr verfasst wurde und häufig auch dem württembergischen Prälaten und Theosophen Friedrich Christoph Oetinger zugeschrieben wird, was jedoch auf einer Namensverwechslung beruht https://de.wikipedia.org/wiki/Gelassenheitsgebet. Im Deutschen bekannt ist die Version: „Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“
Bum-Bum-Stoa: Wie Boris Becker im Gefängnis die Philosophie entdeckte
Kerstin Kullmann: Leben im Limit. In: DER SPIEGEL 40 (29.9.2018), S. 113.
Bauchgefühl im Management. Die Rolle der Intuition in Wirtschaft, Gesellschaft und Sport. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. SpringerGabler Verlag. Heidelberg, Berlin 2021.
Ralf Konersmann: Die Unruhe der Welt. S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2015.
Visionäre von heute – Gestalter von morgen. Inspirationen und Impulse für Unternehmer. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2018.