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Wie viel Arbeitszeit brauchen wir, um nicht in Schieflage zu geraten? | ©Getty Images/Francesco Carta fotografo

Arbeiten wir zu viel – oder doch zu wenig?

In Deutschland gewinnt die 4-Tage-Woche an Beliebtheit, Griechenland hingegen ermöglicht wieder 6 Tage Arbeit. Wie viel Flexibilität können wir uns leisten?

Die deutschen Beschäftigten haben es gut, zumindest auf dem Papier. Im europäischen Vergleich wird nur in den Niederlanden, Norwegen und Dänemark weniger gearbeitet als hier. Die durchschnittlich geleistete Wochenarbeitszeit hat mit 34,7 Stunden seit 1991 (38,4 Stunden) deutlich abgenommen.

Blickt man noch weiter zurück auf die frühere Bundesrepublik, dann hat sich seit 1970 die Zahl der Arbeitsstunden pro Jahr von knapp 2.000 auf rund 1.300 reduziert. Gleichzeitig ist die Quote derjenigen, die in Teilzeit arbeiten, mit fast 40 Prozent auf einem Rekordhoch. In Sachen Teilzeitquote liegt Deutschland im europäischen Vergleich auf dem dritten Rang.

Dennoch hat die Diskussion um die Reduzierung von Arbeitszeiten in Deutschland weiterhin eine hohe Dynamik. Zuletzt bewegte sie die halbe Republik – bzw. legte sie lahm –, als die Gewerkschaft der Lokführer die 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich forderte und anschließend monatelang insgesamt sechs Mal streikte.

Am Ende einigten sich beide Parteien auf ein Optionsmodell, mit dem Mitarbeitende im Schichtdienst künftig selbst über ihre Wochenarbeitszeit im Korridor von 35 bis 40 Stunden entscheiden können. Bezahlt werden sie allerdings „nur“ nach ihrer tatsächlich geleisteten Arbeitszeit.

Griechenland dagegen hat vor Kurzem genau mit einem entgegengesetzten Vorstoß Schlagzeilen gemacht: Hier wird die Option der 6-Tage-Woche wieder eingeführt. Seit diesem Monat können Beschäftigte – gegen einen attraktiven Aufschlag – ihre Arbeitsstunden freiwillig erhöhen. Das Land möchte damit dem Fachkräftemangel entgegensteuern.

Die fetten Jahre verabschieden sich

Befürworter der 4-Tage-Woche argumentieren, dass Beschäftigte zufriedener und weniger gestresst sind, eine verbesserte Work-Life-Balance sowie ein geringeres Risiko für Burn-out haben – und trotzdem genauso produktiv sind. Studien und Pilotprojekte in England, Island, Südafrika oder den USA belegen das.

Von den 61 Unternehmen, die an einem Versuch in Großbritannien teilnahmen, haben ein Jahr später 54 an der 4-Tage-Woche festgehalten. In Deutschland läuft übrigens seit Februar die bisher größte heimische Pilotstudie zur 4-Tage-Woche, an der knapp 50 Unternehmen teilnehmen. Wissenschaftlich begleitet wird das Experiment von der Universität Münster. Ich bin gespannt, welche Ergebnisse dabei herauskommen.

Dennoch sehe ich auch Herausforderungen, was das Thema angeht. Wenn man volkswirtschaftliche Kennzahlen wie die „durchschnittliche Vakanzzeit“ ansieht, ist offensichtlich, dass viele Positionen lange unbesetzt bleiben, weil Fachkräfte fehlen. Und wenn in den nächsten Jahren viele Arbeitskräfte in Rente gehen, wird das Problem sicherlich nicht kleiner. Wenn wir zudem den derzeit stotternden Konjunkturmotor wieder in Fahrt zu bringen wollen, scheint die Forderung nach „weniger Arbeiten“ eher kontraproduktiv.

Was man nicht außer Acht lassen sollte: Es gibt nicht nur eine Variante der 4-Tage-Woche, sondern unterschiedliche Modelle dafür. Während die Umverteilung der Arbeitszeit von fünf auf vier Tage in manchen Bereichen sicherlich gut funktioniert, ist die Reduzierung der Arbeitszeit um 20 Prozent bei vollem Lohnausgleich in vielen Branchen schlicht und einfach nicht umsetzbar. Die Realität ist: Unternehmen haben oft einen begrenzten Handlungsspielraum, was finanzielle und personelle Ressourcen angeht.

Die Schere zwischen Wunsch und Wirklichkeit sieht übrigens auch die Mehrheit der deutschen Beschäftigten. Die von uns jährlich durchgeführte XING Wechselbereitschaftsstudie zeigt, dass nur ein Drittel (30 %) der Meinung ist, ein Modell mit reduzierter Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich könne sich innerhalb der nächsten fünf Jahre durchsetzen. Als größtes Problem wird dabei seitens der Befragten der Arbeitskräftemangel gesehen. Und der ist – trotz einer leichten Erholung am Arbeitsmarkt – gekommen, um zu bleiben.

Das Zauberwort heißt Flexibilität

Was wir daraus lernen? In mir persönlich reift die Erkenntnis, dass wir neue Arbeitsmodelle noch nicht konsequent genug leben. Denn wir machen oft noch zu starre Vorgaben. Was spricht dagegen, dass Beschäftigte innerhalb eines gewissen Rahmens ihre Arbeitszeit nach ihren individuellen Bedürfnissen gestalten?

Vielleicht würden sich einige sogar für Mehrarbeit entscheiden – um zum Beispiel finanzielle Engpässe aufzufangen oder auch Karriereziele schneller zu erreichen. Das würde darüber hinaus auch zur Lohngerechtigkeit beitragen: Denn die deutschen Arbeitnehmer haben im vergangenen Jahr 1,3 Milliarden Überstunden geleistet, wovon 58 Prozent unbezahlt waren. Eine Regelung wie in Griechenland, die im Wesentlichen die tatsächliche Situation mit einem gesetzlichen Rahmen versieht, kann hier als Anreiz für Beschäftigte wirken.

Möchte jemand im Gegenzug aber weniger arbeiten bei angepasstem Lohn, dann können Unternehmen, das in den meisten Fällen möglich machen, wenn sie nur wollen. Hier greifen bewährte Teilzeitmodelle bis hin zum Teilen eines Arbeitsplatzes (Job-Sharing). Das Zauberwort heißt Flexibilität, und zwar auf allen Seiten. Unternehmen müssen für sich selbst entscheiden, ob die 4-Tage-Woche für sie machbar ist oder nicht.

Gerade in Engpassbranchen kann es schwierig sein, weil Fachkräfte fehlen. Andererseits kann das Angebot einer 4-Tage-Woche dazu beitragen, eben diese Fachkräfte ans Unternehmen zu binden oder sie überhaupt zu gewinnen. Aber auch, um die am Arbeitsmarkt so dringend benötigten stillen Reserven aus ihrer Reserve zu locken. Am Ende gibt es kein Modell, das für alle passt – aber mit einer ordentlichen Schippe Flexibilität geht vieles, für viele.

Was ist eure Erfahrung mit unterschiedlichen Arbeitszeitmodellen? Ich freue mich auf den Austausch!

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Dr. Julian Stahl schreibt über Job & Karriere, Politik & Gesellschaft, Wirtschaft & Management

Als Arbeitsmarktexperte bei XING hat Dr. Julian Stahl stets den Überblick über die Trends und Herausforderungen in der Arbeitswelt. Er analysiert Dynamiken und die damit verbundenen Auswirkungen für Arbeitnehmende und Unternehmen. Julian lebt in Hannover und liebt es, mit seiner Familie zu reisen.

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