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Auf digitaler Mission

Von Heike Bruch, Walter Jochmann, Anna-Patricia München, Frank Stein

Die Digitalisierung ist in vollem Gange, aber die Expertise für eine schlüssige Strategie fehlt? Damit befinden sich viele Unternehmen in guter Gesellschaft. In einer Studie der Marktforschung Lünendonk gaben nur 14 Prozent der befragten Unternehmen an, Digitalisierungsstrategien selbst zu entwickeln – alle anderen griffen auf externe Hilfe zurück. Dass es in den Topetagen an Expertise mangelt, belegt auch eine Studie der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin. Die Forscher schauten sich die Biografien von 411 Vorständen börsennotierter deutscher Unternehmen genauer an: 92 Prozent wiesen keinerlei Digitalerfahrung auf.

Das sind besorgniserregende Zahlen. Sie offenbaren, warum die digitale Transformation so viele Organisationen vor Probleme stellt. Aus unserer Forschung wissen wir: Digitalisierung scheitert, wenn Unternehmen die Kompetenz nur von außen einkaufen. Wie können extern angeheuerte Chief Digital Officer oder gar ein ganzes Team in einem Digital Hub eine Belegschaft glaubhaft davon überzeugen, dass ein tief greifender Wandel notwendig ist? Der Erfolg, davon sind wir überzeugt, kann sich nur einstellen, wenn die Veränderung von oben initiiert wird. Der Prozess der Digitalisierung kann nicht ausschließlich delegiert werden, Topmanager müssen ein Stück des Weges selbst mitgehen. Das heißt: Das Topmanagement muss den digitalen Wandel anstoßen, steuern und vorantreiben. Dabei sind die Führungskräfte in zweierlei Hinsicht in der Pflicht: Sie müssen sich selbst im Digitalen weiterbilden, und sie müssen die Mitarbeiter motivieren, die Veränderungen nach Kräften zu unterstützen.

Das sind wesentliche Erkenntnisse aus unserer qualitativen Studie über den Erfolgsfaktor Mensch im digitalen Wandel. Wir – das Institut für Führung und Personalmanagement der Universität St. Gallen (I.FPM-HSG), die Personal- und Managementberatung Kienbaum und die Forschungseinrichtung Kienbaum Institut@ISM – führten in den Jahren 2017 und 2018 teilstrukturierte Interviews mit Vertretern des Top- und Personalmanagements von 13 kleinen, mittelständischen und großen Unternehmen in Deutschland und der Schweiz. Darunter waren ThyssenKrupp, Haufe-Umantis, Kühne + Nagel, Salesforce, Novartis, Daimler und die Deutsche Bahn. Bei allen stand die Digitalisierung oben auf der Managementagenda.

Die Auswertung ergab sechs zentrale Handlungsfelder für Unternehmen:

  1. Digitalkompetenz im Topmanagement aufbauen.

  2. Moderne Führungskonzepte etablieren.

  3. Lernagilität von Beschäftigten fördern.

  4. Kundenkontakte in den Mittelpunkt stellen.

  5. Beschäftigungsfähigkeit sichern.

  6. Digitale Vereinsamung bekämpfen.

Keiner dieser Ansätze ist für sich genommen neu. Doch zusammengefasst können sie einen fundamentalen Wandel in die Wege leiten. Das ist vor allem angesichts einer Entwicklung wichtig: Laut einer Studie des I.FPM-HSG ist die digitale Transformation in vielen Unternehmen weit fortgeschritten, aber die Digitalisierung der Arbeit – auch als "New Work Transformation" bekannt – hinkt hinterher. Wenn aber Belegschaft und Organisation nicht ausreichend auf die Digitalisierung vorbereitet sind, kann dies den ganzen Wandel ins Stocken bringen. Führungskräfte müssen daher beides im Blick haben: das Geschäft anpassen und die Mitarbeiter mitnehmen.

Gerade für traditionelle Industrieunternehmen ist das eine Herausforderung. Die Digitalisierung verändert einfache Tätigkeiten in der Produktion drastisch, eingefahrene hierarchische Strukturen müssen flexiblen Modellen weichen. Ein Beispiel ist der Stahlkonzern ThyssenKrupp. Er befindet sich mitten in einem tief greifenden Wandel. Arbeitsdirektor Oliver Burkhard hält dabei die Personalentwicklung für erfolgsentscheidend. "Was uns erwartet, ist nicht ein rechnergestützter Taylorismus, sondern ein rechnergestützter Humanismus", sagte er uns – anders ausgedrückt: Beim digitalen Wandel muss der Mitarbeiter im Mittelpunkt stehen.

Wie sollten Unternehmen auf den sechs Handlungsfeldern vorgehen? Folgende Empfehlungen können wir aus unserer Studie ableiten:

Eine Initiative von oben muss, das ist selbsterklärend, bei den Topmanagern anfangen. Sie können das Thema jedoch nur glaubhaft vorantreiben, wenn sie selbst über digitale Kompetenzen verfügen. Bisher ist das die Ausnahme – meist wird delegiert, etwa an externe Dienstleister oder einen Verantwortlichen fürs Digitale. Petra Jenner kennt dieses Muster aus erster Hand. Sie ist seit mehr als 25 Jahren in der IT-Branche tätig, seit zwölf Jahren als Topmanagerin. Heute verantwortet sie die Commercial Business Unit von Salesforce in Mitteleuropa. Zu ihren Hauptaufgaben gehört es, die Transformationsprogramme des Cloudanbieters zu unterstützen. Sie hat beobachtet, dass in vielen Unternehmen eine gewisse Hilflosigkeit beim Umgang mit dem digitalen Wandel herrscht. "Weil die Führung ratlos ist, wie sie den Prozess gestalten soll, verlässt sie sich häufig auf den Rat von Externen", sagte sie uns im Interview. "Auf der Topmanagementebene sucht man sich dann einen Chief Digital Officer mit entsprechender Erfahrung, der aber den Rest der Organisation nicht kennt."

Das kann aus mehreren Gründen nicht funktionieren.

**Erstens:**Ein Chief Digital Officer oder externer Dienstleister kann zwar Fachkenntnisse in die strategische Diskussion einbringen und Impulse setzen. Doch derartige Spezialisten können dem Topmanagement nicht die Verantwortung für den Digitalisierungsprozess insgesamt abnehmen. Um strategische Visionen zu entwickeln, braucht es ein ganzheitliches Verständnis der Chancen und Risiken im eigenen Markt, ebenso wie ein Gespür für die Abläufe und Fähigkeiten der Organisation. Dieses fehlt, wenn digitale Expertise bei einer einzelnen Person liegt, die vielleicht sogar nur temporär hinzugezogen wird.

Und zweitens: Wenn das Topmanagement das Thema an einen Spezialisten auslagert, kann es nicht glaubwürdig machen, dass es mit vollem Einsatz hinter dem Wandel steht. Das jedoch ist wichtig: Führungskräfte haben immer eine Vorbildfunktion. Soll die Belegschaft Veränderungen akzeptieren, muss die Unternehmensleitung mit ihrem Verhalten zeigen, dass sie die gewünschten neuen Verhaltensweisen selbst verinnerlicht hat.

Wie das funktionieren kann, zeigt das Beispiel eines deutschen Maschinenbauers aus unserer Studie, bei dem die Topmanager sich einer Art digitalem Check-up unterziehen. Sie bewerten über ein Internettool zunächst ihren individuellen Reifegrad, ihre strategischen Fähigkeiten, ihre Führungskompetenzen sowie ihre Kenntnisse und Erfahrungen im Umgang mit digitalen Technologien, neuen Medien und modernen Arbeitsformen. Aus den Ergebnissen leitet sich ihr Lernbedarf ab. An den Check-up schließen sich deshalb Entwicklungs- und Schulungsmaßnahmen an. Das Unternehmen erreicht damit zwei Ziele: Die Führungskräfte werden zum einen für den digitalen Wandel und ihre Verantwortung sensibilisiert; zum Zweiten setzen sie sich mit ihren Stärken und Schwächen in dem Bereich auseinander. Indem sie die Bereitschaft zeigen, an sich zu arbeiten, nehmen sie gegenüber der Belegschaft die notwendige Vorbildfunktion ein.

Die Kompetenzen, um die es hier geht, umfassen einmal das Verstehen der digitalen Welt, ihrer Entwicklung und ihrer Bedeutung für das Geschäft. Doch es geht noch darüber hinaus, wir bewegen uns in den Bereich der sozialen Kompetenzen. Denn die digitale Transformation ist in erster Linie ein Veränderungsprozess, bei dem es darum geht, die Mitarbeiter mitzunehmen. Wer Menschen für neue Technologien begeistern will, braucht diese Fähigkeiten: Empathie, Kommunikation, Multitasking, Kooperation, aber auch Experimentierfreude, Frustrationstoleranz, Neugier, Entscheidungsfreude, Verantwortungsbereitschaft sowie das Denken in Lösungen und Chancen.

Bei Haufe-Umantis findet eine sehr ausgeprägte Variante der Initiative von oben statt. Das Schweizer Softwareunternehmen hat sich das Leitmotiv "Führen und Folgen" gegeben. Gefolgschaft geschieht hier auf freiwilliger Basis. "Das, was wir lernen müssen, ist geteilte Führung. Das heißt, jeder führt und jeder folgt", erklärte uns Hermann Arnold, Mitgründer und Verwaltungsratspräsident von Haufe-Umantis. "Ich muss mich selbst führen, ich muss meine Projekte führen, und in bestimmten Situationen muss ich andere führen, zum Beispiel Kollegen oder Kunden, Zulieferer oder auch meinen Chef; und gleichzeitig muss ich verstehen, dass ich in anderen Konstellationen wiederum folge." Damit das funktioniert, hat sich Haufe-Umantis eine demokratische Führungskultur verordnet: Die Chefs werden in einem regelmäßigen Rythmus gewählt und können auch abgewählt werden. Dies gilt nicht nur für das mittlere Management, sondern auch für den Verwaltungsratspräsidenten und die Geschäftsführung. Selbst die Ziele für das jeweilige Geschäftsjahr stehen auf einer demokratischen Grundlage: Nicht das Management gibt sie vor, sondern die Belegschaft, die sie in einem gemeinsamen Prozess erarbeitet.

Generell gewinnen Konzepte transformationaler Führung im digitalen Wandel an Bedeutung – in der praxisorientierten Literatur ist es auch mit "digitaler" Führung gleichzusetzen. Nach den Ergebnissen unserer Studie zeichnet er sich durch Merkmale aus, die Hans C. Werner, der Personalchef des Telekomanbieters Swisscom, uns gegenüber wie folgt zusammenfasste: "Man muss Menschen motivieren, inspirieren, ihnen eine Richtung und Orientierung geben, Empathie und Wertschätzung zeigen, ein feines Netz von Beziehungen aufbauen und einen Team-Spirit entwickeln, um schließlich gemeinsam die Extrameile zu gehen."

Das sind hohe Anforderungen, aber sie sind unumgänglich, um in Zeiten des Umbruchs die Mitarbeiter bei der Stange zu halten. Wenn sich die Beschäftigten unsicher fühlen, kommt es zu Widerständen. Führungskräfte müssen dies auffangen, indem sie das Warum des Wandels erklären, ein positives Zukunftsbild zeichnen und die Mitarbeiter dazu motivieren, sich in den Prozess einzubringen. "Insgesamt wird das Team, die Gruppe, wichtiger als der Einzelne. Führungskräfte sollen sich stärker zurücknehmen und andere erfolgreicher machen", sagte uns Ulrich Weber, der bis 2017 Vorstand für Personal und Recht bei der Deutschen Bahn war. Der Konzern habe deshalb in seinem Führungsbild stark auf eine transformationale Führung umgeschwenkt, bei der die Unterstützung der Mitarbeiter sowie deren Inspiration eine große Rolle spiele.

Auch die geteilte Führung, das sogenannte Shared Leadership, rückt in den Fokus. Denn die digitalen Technologien ermöglichen die Zusammenarbeit über alle Hierarchieebenen hinweg. Manager können mit ihrer Hilfe Verantwortung abgeben und an einzelne Mitarbeiter delegieren.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Moderne Führungskonzepte sind nicht gleichzusetzen mit Führungslosigkeit. Ganz im Gegenteil: Die neuen Konzepte erfordern stärkere Führungsqualitäten, und zwar von Mitarbeitern, die Verantwortung übernehmen. In der digitalen Welt geschieht Zusammenarbeit oft in hierarchiefreien Netzwerken. Sie ziehen ihren Vorteil daraus, dass die Mitglieder selbstständig Themen vorantreiben. Genau das sieht moderne Führung vor, und Manager müssen ihren Teams den Rahmen dafür geben. Das allein reicht jedoch nicht aus. Wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, müssen Führungskräfte Mitarbeitern auch dabei helfen, sich die notwendigen Fähigkeiten anzueignen.

Durch die Digitalisierung bekommt eine Metakompetenz neues Gewicht: die Lernagilität. Sie zeichnet Personen aus, die sich für Neues offen zeigen; bereit sind, Veränderungen mitzutragen und mitzugestalten; die erforderlichen Fähigkeiten selbstständig lernen und sich psychologisch flexibel zeigen. Thomas Bösch, Personalleiter des Pharmakonzerns Novartis in der Schweiz, spricht von einer Kernkompetenz. Lernagilität sei eine der wichtigsten Voraussetzungen, um auf die Schnelllebigkeit und Unsicherheit der Arbeitswelt reagieren zu können. Sie bezeichne "nicht nur ein Verhalten, sondern auch ein Selbstverständnis, das die Veränderungsbereitschaft im Sinne des lebenslangen Lernens direkt anspricht."

Im klassischen Talentmanagement war Lernagilität wenig gefragt, da es von einer linearen Entwicklung ausgeht: Menschen qualifizieren sich mit ihrer Ausbildung für einen Beruf und entwickeln sich dann über verschiedene Positionen in der Organisation weiter. Künftig sehen Lebensläufe nur noch selten so aus. Die Digitalisierung sorgt für Brüche und Karrieresprünge; und sie erfordert von Mitarbeitern, sich ständig anzupassen und dazuzulernen.

Die Personalabteilung muss auf die veränderten Anforderungen reagieren und Instrumente bereitstellen, um Lernagilität bei Mitarbeitern zu erkennen und zu fördern. Wies sie Beschäftigte bisher auf Basis ihrer Qualifikationen oder Erfahrungen einer Funktion zu, so muss sie künftig die übergeordneten Kompetenzen (zum Beispiel Veränderungsmanagement) und Potenzialtreiber (zum Beispiel Neugier) zugrunde legen. "Es muss weniger um Jobs und Bezeichnungen von Positionen gehen, sondern um die Frage: Was sind die Skills und wie kann sich der Mitarbeiter weiter in dieser Skill-Landschaft entwickeln?", sagte uns Jürg Stuker, Verwaltungsrat bei der Schweizer Digitalagentur Namics.

Novartis beispielsweise hat sich von einem starren Kompetenzmodell gelöst. Das Unternehmen orientiert sich in der Personalentwicklung nun an zwei Potenzialfaktoren: Lernagilität und andauernde Leistung. Je nachdem wie Mitarbeiter bei beiden Aspekten bewertet werden, bietet Novartis ihnen eigene Entwicklungspfade mit individuellen Handlungs- und Weiterbildungsempfehlungen an. Der Erfolg des Konzepts hängt auch von der Mitarbeit der Vorgesetzten ab, weshalb es an die Zielerreichung gekoppelt ist. Sie müssen die Lernagilität ihrer Teammitglieder fördern.

Unsere Auswertung der Experteninterviews hat gezeigt: Durch die Digitalisierung werden Jobs wichtiger, bei denen Mitarbeiter mit Kunden in Kontakt treten. Dabei handelt es sich meist um Tätigkeiten, die sich nicht automatisieren lassen. "Der Kunde im Mittelpunkt" sei ein Thema, das viele Unternehmen derzeit stark beschäftige, sagte uns Salesforce-Managerin Jenner. "Man will eine maßgeschneiderte Lösung bieten, was ein entscheidender Marktvorteil ist und was gerade die Arbeit mit dem Kunden immer komplexer und anspruchsvoller macht. Es wird also bei solchen Mitarbeitern massiv investiert, die eine höhere Interaktion mit dem Kunden haben."

An Bedeutung gewinnen damit vor allem Tätigkeiten, bei denen persönliche Beratung stattfindet, die Kreativität und Innovation verlangen oder durch die das Unternehmen die Kundenbindung mittels emotionaler Erlebnisse steigern will. Der digitale Wandel macht den Mitarbeiter somit nicht obsolet – er wertet ihn auf. Alexander Villiger, Personalleiter der Graubündner Kantonalbank, sieht den "Menschen mit seinen Emotionen, seiner Begeisterungsfähigkeit, seiner Expertise" mittelfristig als Differenzierungsfaktor seines Unternehmens. Zwar werde der Kunde auch von den Fortschritten bei künstlicher Intelligenz und besseren IT-Systemen profitieren. Den entscheidenden Zusatznutzen jedoch stifte die Beratung durch einen persönlichen Ansprechpartner. Nötig seien dafür Mitarbeiter, die bereit seien, "zuzuhören, Bedürfnisse entgegenzunehmen und mit den Kunden gemeinsam Lösungen zu kreieren, die intelligenter sind, als wenn man es rein der Maschine überlässt".

Der stärkere Fokus auf den Kundenkontakt zeigt sich auch bei Kühne + Nagel. Der Schweizer Logistikdienstleister hat eine Plattform eingeführt, auf der Mitarbeiter nicht nur besser miteinander zusammenarbeiten, sondern sich auch mit den Kunden austauschen können. Dies geht einher mit einer sogenannten One-File-Politik: Sie besagt, dass Beschäftigte alle Arbeitsschritte eines Auftrags parallel bearbeiten können – etwa über digitale Dokumente, auf die alle gleichzeitig zugreifen können. Kühne + Nagel will so sequenzielle Prozesse ablösen und Doppelarbeit vermeiden. Das Unternehmen automatisiert auch Verwaltungstätigkeiten und Aufgaben, bei denen es um reine Datenverwaltung geht. Dadurch können Beschäftigte "mehr Fokus auf Aufgaben legen, bei denen es um die direkte Interaktion mit dem Kunden geht", sagte Lothar Harings, Chief Human Resources Officer bei Kühne + Nagel. Das heißt auch, dass zwischenmenschliche Aspekte wichtiger werden. Der Logistiker hat deshalb seine Anforderungsprofile an Mitarbeiter angepasst: Sie rücken nicht mehr das Prozesswissen, sondern kundenspezifisches Wissen für das Lösungsgeschäft in den Vordergrund. Die Personalabteilung begleitet diese Umstellung mit Schulungen.

Schon heute lässt sich in vielen Branchen beobachten, wie digitale Technologien Aufgaben übernehmen, die sich standardisieren lassen. Um ihre Jobs fürchten nicht nur Fabrikarbeiter, sondern auch Büroangestellte, die Routinetätigkeiten erledigen. Unternehmenslenker müssen sich daher Gedanken um die weitere Beschäftigungsfähigkeit ihrer Mitarbeiter machen. Mittel der Wahl sollte eine strategische Personalplanung sein. Sie besteht im ersten Schritt darin, den Qualifizierungs- und Entwicklungsstand der Mitarbeiter und von Jobgruppen zu analysieren. Im zweiten Schritt müssen Unternehmen ihre Beschäftigten weiterbilden und Berufsbilder neu definieren. Der Kundenkontakt, wie im vorigen Kapitel beschrieben, könnte dabei ein Schwerpunkt sein. Mitarbeiter, die verstehen, wie sich die Erwartungen der Kunden verändern und wie sie über digitale Kanäle gut mit ihnen kommunizieren können, haben auf dem Arbeitsmarkt der Zukunft gute Karten.

Wie für andere Unternehmen ist die strategische Personalplanung auch für die Swisscom eine große Herausforderung. Der Anspruch sei, zwei bis drei Jahre vorauszuplanen, sagte uns Personalleiter Werner – und das sei Knochenarbeit. Es gehe darum, eine Bestandsaufnahme aller Mitarbeiter zu machen, die zukunftsrelevanten Fähigkeiten zu definieren und herauszufinden, wo Lücken bestehen, und dann "im Eins-zu-eins-Gespräch zu diskutieren, ob Mitarbeitende den Schritt gehen können und wollen". Das Unternehmen hat eine Liste von gewünschten Fähigkeiten definiert, die es Skills nennt. Sie soll helfen, Engpässe und Stellenabbau zu vermeiden, und als Grundlage dienen, rechtzeitig Maßnahmen zur Mitarbeitergewinnung oder Schulungen in die Wege zu leiten. In diesen Prozess bindet die Swisscom alle Beteiligten ein. Die Führungskräfte etwa sind angehalten, ihre Teammitglieder bei der Weiterbildung zu unterstützen und mit ihnen Entwicklungsperspektiven zu erarbeiten. Von den Mitarbeitern erwartet das Unternehmen jedoch auch Eigeninitiative – und geht dabei in Vorleistung: Es hat den Beschäftigten einen Anspruch darauf eingeräumt, fünf Arbeitstage im Jahr für ihre berufliche Entwicklung einsetzen zu können.

Wir haben in unserer Studie ein paradoxes Phänomen beobachtet: Obwohl Mitarbeiter mehr miteinander kommunizieren und zusammenarbeiten, vereinsamen viele, zum Beispiel im Homeoffice. Zudem fühlt sich so mancher durch die Digitalisierung verunsichert. Beschäftigte haben den Eindruck, die Übersicht und die Kontrolle über ihre Arbeit zu verlieren. Das führt zu Frust und kann erhebliche Widerstände gegen die digitale Transformation auslösen.

Die Gründe dafür liegen auch in den modernen Arbeitsformen – wie neuen Arbeitszeitmodellen, mobilem Arbeiten oder virtuellen Teams. Zunächst einmal bringt diese Flexibilität den Beschäftigten und den Unternehmen Mehrwert. Sie kommt individuellen Erwartungen entgegen und lässt Teams effizienter arbeiten, unabhängig vom Aufenthaltsort. Doch gleichzeitig bricht sie stabile soziale Strukturen auf, die bislang für die Identifikation, Sinnstiftung und Interaktion der Mitarbeiter wichtig waren.

Unternehmen müssen dem entgegenwirken. Die Lösung dafür lautet "Bindung durch Einbindung". Führungskräfte müssen die Beschäftigten auf veränderte Strukturen vorbereiten und ihnen Mitspracherechte gewähren, wenn sie neue Arbeitsinhalte und -formen einführen. Bei der Graubündner Kantonalbank etwa können die Beschäftigten an einer "digitalen Roadmap" mitarbeiten, die Teil der Digitalisierungsstrategie ist. Das Institut hat Mitgestaltung sogar in seine Grundwerte aufgenommen – quasi als Versprechen an die Belegschaft. Solche Maßnahmen können das Zusammengehörigkeitsgefühl stärken, Unsicherheit abbauen und negative Konsequenzen digitalisierter Arbeit reduzieren oder verhindern.

Auch die Schweizerische Bundesbahn (SBB) bindet die Mitarbeiter frühzeitig ein: "Unser Programm ,fit4future', das die Weiterentwicklung unserer digitalen Kompetenzen und Berufsbilder zum Inhalt hat, machen wir gemeinsam mit unseren Führungskräften und unseren Mitarbeitern. Das ist der wirksamste Hebel, Ängste zu reduzieren und Offenheit für Veränderung zu schaffen – weil so das Warum des Wandels verinnerlicht und aktiv an der Lösung mitgearbeitet wird", erklärte Markus Jordi, Mitglied der SBB-Konzernleitung und Leiter Human Resources.

Die Verunsicherung der Beschäftigten wahrzunehmen und frühzeitig abzubauen ist aus unserer Sicht womöglich die wichtigste Führungsaufgabe im digitalen Wandel. Denn im Kern geht es hier um den Menschen, sein Bedürfnis nach sozialen Strukturen und Kontakten und damit seine psychosoziale Gesundheit.

Wenn Unternehmen annehmen, die Digitalisierung bestehe nur aus neuen Technologien, Produkten und Geschäftsmodellen, dann machen sie einen entscheidenden Fehler: Sie lassen den Menschen außer Acht, der den Wandel ja planen, einleiten und durchsetzen muss. Das betrifft alle Ebenen der Organisation. Vorreiter und Vorbild müssen die Topmanager sein, die ihre Mitarbeiter vom Wandel überzeugen und für ihn begeistern müssen. Sie dürfen dabei nicht vergessen, dass Veränderungen Widerstände hervorrufen. Wenn neue Arbeitsformen und Jobanforderungen auf eine verunsicherte Belegschaft treffen, verspricht ein engagiertes und kompetentes Auftreten des Topmanagements Erfolgschancen.

Beachten Unternehmen die hier vorgestellten Gestaltungsfelder, können sie davon ausgehen, dass ihnen eine grundlegende und nachhaltige Digitalisierung gelingen kann. Die Ergebnisse und Fallbeispiele aus unserer Studie können Topmanager dabei unterstützen. Unternehmen sollten nicht darauf bauen, dass ihnen Externe die wohl wichtigste strategische Aufgabe der heutigen Zeit abnehmen können. Sie müssen sich selbst die dafür nötigen Fähigkeiten aneignen. Und damit sind nicht die Prozesse, sondern die Menschen gemeint, aus denen eine Organisation letztlich besteht: die Führungskräfte und ihre Mitarbeiter. 

Die Autoren

Heike Bruch ist Professorin für Leadership und Direktorin des Instituts für Führung und Personalmanagement an der Universität St. Gallen.

Walter Jochmann ist Managing Director und Partner bei Kienbaum Consultants International sowie Geschäftsführer am Kienbaum Institut@ISM.

Anna-Patricia München ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Führung und Personalmanagement an der Universität St. Gallen.

Frank Stein ist Consultant bei Kienbaum Consultants International. Zuvor war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kienbaum Institut@ISM.

© HBM 2019

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