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Proctoring - © Adobe Stock

Aufsicht bei Online-Tests: Warum Proctoring eine höchst problematische Sache ist. Und noch nicht mal etwas bringt …

Es gibt im Zusammenhang mit dem Thema Online-Assessment zwei Fragen, die eigentlich immer mit am Tisch sitzen – wenn man so will die zwei „Gretchenfragen des Online-Assessments“:

Die erste Frage dreht sich darum, ob man es sich in Zeiten zurückgehender Bewerbungseingänge und zunehmenden Wettbewerbs um Talente noch leisten kann, Bewerber einem Test auszusetzen. Sinngemäß: „Wir haben eh schon so wenige BewerberInnen, und dann sollen die auch noch einen Test machen?“

Nun, die Antwort auf diese Frage ist sehr kurz und einfach: Ja.

Gerade wenn man nicht mehr so aus dem Vollen schöpfen kann wie früher, muss man bei der Auswahlentscheidung genau hinschauen. Man kann ja buchstäblich nicht mehr einfach den nächsten in der Schlange nehmen, wenn man bei der Auswahlentscheidung danebengelegen hat. Der entscheidende Hebel im War for Talent ist Retention, und damit es möglichst lange hält, sollte erst recht am Anfang möglichst genau hingeschaut werden. Außerdem ist es, wie gerade erst wieder eine Studie eindrucksvoll unterstrichen hat, schlichtweg falsch, anzunehmen, dass Tests Bewerbende abschrecken. Vielmehr ist – speziell bei guten KandidatInnen – genau das Gegenteil der Fall.

Doch ich will mich heute vor allem der zweiten Frage zuwenden. Diese dreht sich um die Verlässlichkeit der Tests, und zwar im Sinne der Verfälschbarkeit der Ergebnisse durch Schummeln. Wenn eine Person den Test ohne Aufsicht von zu Hause macht, wie stellt man denn sicher, dass auch tatsächlich diese Person den Test absolviert hat? Und kann dabei nicht beliebig geschummelt werden?

Gut, wir machen das mit den Online-Tests ja nun so ein paar Tage – genau genommen ca. 23 Jahre … – und früher war dies auch im Prinzip die einzige Gretchenfrage, quasi das Allererste, was man gefragt wurde. Das hat sich über die Jahr(zehnt)e deutlich relativiert, weil man inzwischen verstanden hat, dass das erstens mit dem etwaigen Schummeln bei Online-Tests doch gar nicht so einfach ist, es einem zweitens auch gar nicht wirklich viel bringen würde (bzw. sogar im Gegenteil die eigene Bewerbungschance deutlich reduzieren, wenn nicht gar komplett zunichte machen würde), vor allem aber drittens, dass es sich um ein empirisch gesehen zu vernachlässigendes Problem handelt. Wer hier noch einmal tiefer einsteigen möchte, dem empfehle ich diese Zusammenfassung.

Die Wahrscheinlichkeit, dass bei einem Online-Test geschummelt wird, ist eh schon sehr gering und nicht höher als die Wahrscheinlichkeit, dass jemand ein Zeugnis fälscht oder eine Station im Lebenslauf erfindet. Und mal Hand aufs Herz, liebe RecruiterInnen, überprüft Ihr diese Informationen wasserdicht durch Backgroundchecks, Referenzen oder den Einsatz von Detektiven? Genau.

Warum bringe ich dieses Thema jetzt also wieder auf, wenn es sich doch gezeigt hat, dass es eigentlich ein zu vernachlässigendes „Problem“ darstellt?

Das hat was mit einem Thema zu tun, was in den letzten ein, zwei Jahren aufgekommen ist: Das sogenannte Proctoring**.**

Und wie das manchmal so ist, rückt unter einem neuen Schlagwort auch eine olle Kamelle wie das Thema Schummeln beim Online-Assessment wieder vermehrt in den Fokus. Auch wir werden danach gefragt. Darum möchte ich nachfolgend das Thema einmal vorstellen und einordnen, nicht primär danach, ob man es machen kann (ja, kann man), sondern vor allem, ob es sinnvoll ist (nein) und welche Probleme damit einhergehen (jede Menge, sehr gravierende, mit erheblichen Risiken verbundene – rechtlich, ethisch und bzgl. der Akzeptanz).

Der ausführliche Beitrag auf dem Recrutainment Blog erklärt, was Proctoring ist, wie es funktioniert und was daran wirklich äußerst problematisch ist (Gesichtserkennung, Keystroke-Patterns, Installation lokal laufender Software, Closed Book/Open Book, Datenschutz, hohe False-Rates, Eingriff in Persönlichkeitsrechte, Abgrenzung: Was ist ein Verdachtsfall, Barrierearmut, Akzeptanz, Rattenrennen-Problematik, Kosten, sehr geringer Nutzen …

Kommentare

Joachim Diercks schreibt über Recruiting, Online-Assessment, Personalmktg.

Gründer und Geschäftsführer von CYQUEST. Entwickelt Instrumente für Personalauswahl ("Online-Assessment", "Matching"), Employer Branding und Personalmarketing. Gastdozent für Eignungsdiagnostik an der HS Fresenius. Buchautor, Referent und Keynote-Speaker. Herausgeber Recrutainment Blog.

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