Bauchgefühl bei Start-up-Investments
„Alles, was unser Bauchgefühl uns zuflüstert, hört sich erstmal gut und plausibel an. Ich höre nur kurz in mich hinein – und da ist auch schon die Bewertung einer Sache, eines Themas, einer Person“, sagt Alexander Stoeckel.
Stoeckel ist Director Venture Capital bei Philip Morris International und arbeitet seit über 14 Jahren im Venture-Capital-Bereich – davon war er 12 Jahre für eine private, in der Schweiz ansässige Venture-Capital-Gesellschaft tätig. Start-up-Investoren, die sich auf Beteiligungen an jungen und frühphasigen Unternehmen spezialisieren, haben regelmäßig auch Misserfolge in ihrem Portfolio zu beklagen. Umso mehr sind sie darauf angewiesen, dass ihre Erfolgsbeteiligungen wirklich gut „funktionieren“. „Denn diese wenigen ‚Stars‘ müssen die Verluste, die aus anderen Investments des Investors herrühren, kompensieren und darüber hinaus noch eine kleine Rendite für den Investor abwerfen.“
Besonders wichtig ist es in seinem Beruf, sich möglichst rasch eine fundierte Meinung über den gegenwärtigen und möglichen künftigen Wert einer Geschäftsidee und/oder Technologie zu machen, die von einem Gründerteam präsentiert werden. Die Herausforderung besteht vor allem darin, „dass diese Beurteilung auf Grundlage von wenigen belastbaren Informationen erfolgen muss, da bei jungen Unternehmen kaum Geschäftszahlen oder andere belastbare Informationen vorliegen.“ Häufig ist das Team auch noch nicht komplett, und das Produkt befindet sich nicht selten in einem Prototypenstadium.
Gewiss hat das Bauchgefühl auch für Alexander Stoeckel eine Daseinsberechtigung: „Die Natur hat das Bauchgefühl ursprünglich offenbar mit sehr handfesten Intentionen entwickelt. Sie wollte, so wird angenommen, dass Menschen sehr schnell und auch unter ungünstigen Bedingungen, d. h., wenn der jeweiligen Person wenige Fakten vorliegen, vergleichsweise gute Entscheidungen treffen.“ Allerdings sind bauchgefühlgetriebene Einschätzungen und Vorurteile seiner Meinung nach nicht selten das Ergebnis der Faulheit des Beurteilers, „der lieber schnell zu einem Urteil kommt, als sich zuerst einmal mühselig mit den Fakten vertraut zu machen und dann zu urteilen.“ Gründer und Investoren, die sich nachhaltig darum bemühen, die Faktengrundlage ihrer Entscheidungen zu verbessern, treffen seiner Meinung nach die besseren und agieren erfolgreicher. Deshalb seien TV-Formate wie die „Höhle der Löwen“ oder „Sharktank“ oder „Dragons’ Den“ auch etwas irreführend, weil sie suggerieren, dass sich die Start-up-Investoren die Präsentation der Gründer anhören, ein paar Fragen stellen und dann investieren. Die schnellste Entscheidung, von der er je hörte, traf ein Privatinvestor aus dem Silicon Valley, der sich nach einem eintägigen Meeting mit den Gründern eine Nacht Bedenkzeit erbat – und dann eine Mio. US$-Dollar investierte. „Die meisten Investoren nehmen sich Zeit, das Geschäftskonzept der Gründer systematisch zu durchleuchten, Fragen zu stellen und sich ein möglichst umfassendes Bild von der ihnen vorliegenden Investitionsmöglichkeit zu machen“, sagt Stoeckel.
Gerade als Investor ist es wichtig, sich das Gesamtkonzept des Unternehmens (Executive Summary) detailliert anzusehen und sich dann den wesentlichen Bausteinen des Business Plans (Team, Produkt, Markt, Wettbewerb, Geschäfts- und Vertriebsmodell, Finanzplan, Investitionsangebot und Unternehmensstrategie) zu widmen. In seinem Arbeitsbereich wird das Gesamtkonzept des Start-ups und „die Strategie der jeweiligen Fonds oder Investoren übereinandergelegt und geprüft, ob und zu welchem Portfolio das untersuchte Jungunternehmen gegebenenfalls passen könnte.“ Häufig werden auch externe Experten mit bestimmten Spezialisierungen (Steuerfachleute, Juristen, Ingenieure, Generalisten, Allgemeinärzte oder Experten bestimmter Fachdisziplinen) einbezogen.
Auch in diesem Prozess besteht die Gefahr, „dass das Beurteilungsschema entweder zu engmaschig gestrickt oder zu durchlässig konzipiert ist oder auch zu schematisch und ohne die nötige Umsicht bearbeitet wird.“ Tragisch sind vor allem jene Fälle, bei denen das Screening zwar vollständig, aber zu wenig umsichtig durchgeführt wurde. „Wenn wir als Investoren also starre Schablonen über Start-ups legen, um so vermeintlich künftige Stars zu identifizieren, führt das in die Sackgasse.“
Er hat Internationale Betriebswirtschaftslehre an der European Business School (ebs) in Oestrich-Winkel und Paris sowie an der International School of Management (ISM) in Dortmund und San Diego studiert. Zudem absolvierte er seinen Master of Business Administration (MBA) im Jahr 2006 an der University of Oxford. Im Verlauf seiner beruflichen Karriere war Stoeckel u. a. als Dachfondsmanager bei einer Privatbank, als Vorstandsassistent bei einer führenden Wirtschaftsprüfungsgesellschaft sowie als selbstständiger Start-up-Coach tätig. Im Jahr 2007 wurde er von einer in der Schweiz ansässigen Risikokapitalgesellschaft angestellt und in den folgenden Jahren zum Principal, Partner und schließlich Verwaltungsratsmitglied des Unternehmens ernannt. 2019 wechselte Stoeckel zu Philip Morris International, wo er zunächst das PM Equity Partner Team in Lausanne leitete, bevor er zum Director Venture Capital Morris International ernannt wurde.
Negative Ausprägungen des Bauchgefühls erlebte er als Gast und Jury-Mitglied zu einer Start-up-Pitch-Session in Zürich, wo sich Start-up-Gründer:innen und ihre Unternehmen vor potenziellen Investoren präsentierten. Zu ihnen gehörte auch eine junge Frau, deren unternehmerisches Konzept darin bestand, Skianzüge aus recyclierter Sportbekleidung herzustellen und zu vermarkten. „Die einzelnen Stücke zeichneten sich durch blasse, verwaschen wirkende Farben aus, was der Kollektion eine Art ‚Urban Streetstyle meets Hippster meets Skianzug‘-Optik verlieh.“ Der „Berlin-Style“ richtete sich an junge, trendige, ökologiebewusste Skifahrer. Die Jury stellte auch ihr nach der Präsentation Fragen zum Unternehmenskonzept. Ein „Business-Angel-Veteran“, ein erfahrener Investor, sagte: „Ich sehe einfach nicht, wie ein Skifahrer sich einen Ihrer Anzüge kauft und damit in eine Hütte in, sagen wir, St. Moritz schlendert.“ Da der Investor selbst Ski fährt und andere Menschen kennt, die das ebenfalls tun, „war es aus seiner Sicht auch legitim zu hinterfragen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass er und/oder seine Freunde die recyclierten Skianzüge des Start-ups kaufen würden.“ Da sie es nicht tun würden, so schloss er daraus, dass das Start-up keine Zukunft hätte, berücksichtigte aber nicht, dass gerade junge Menschen heute ein ausgeprägtes ökologischem Bewusstsein haben. Informationen, die seinem Bauchgefühl oder Vorurteil widersprachen, blendete er aus. Er vertraute seinem Bauchgefühl so sehr, dass er annahm, dass seine Freunde denken und urteilen würden wie er (Phänomen der unzulässigen Verallgemeinerung).
Alexander Stoeckel dagegen erkannte sehr klar, dass die Förderung und Finanzierung von grünen Start-ups ein wichtiger Baustein zu einer weiteren Transformation der Wirtschaft hin zu einer Green Economy sind: „Wenn wir uns vor Augen führen, dass Ökologie in der Bevölkerung in Europa zunehmend an Bedeutung gewinnt, nicht nur in der jüngeren Generation, dann können wir zumindest ein Fragezeichen hinter die Aussage des Investors setzen und sollten die Gründerin fragen, wer denn statistisch gesehen ihre Kunden sind. Sind das primär Männer oder Frauen? Hat sie schon einmal eine Kundenumfrage gestartet und weitere Daten bei ihren Kunden erhoben? … Wie viele ökologiebewusste Skifahrer gibt es denn? Ist denn das Skifahren insgesamt nicht eher ökologiefeindlich? Ist die Zielgruppe, die angepeilt wird, nicht sehr klein? Und vermutlich wäre diese Frage nicht nur neutraler und analytischer, sondern ein guter Einstieg in eine spannende Diskussion geworden. Vielleicht ließen sich dadurch diese Zweifel des Investors widerlegen.“ Das Beispiel zeigt zugleich, wie wichtig Kriterien für eine transparente und objektive Nachhaltigkeitsbewertung von Start-ups sind, die der erfahrene Investor nicht beachtet hat:
Unternehmenskontext (Ausschluss-, Risiko- und Positivkriterien)
Gründerteam (Nachhaltigkeitsorientierung und Nachhaltigkeitserfahrung)
Unternehmenskonzept (Nachhaltigkeitskonzept und Stakeholdermanagement und Transparenz)
Produkte und Dienstleistungen (Lösungsbeitrag zu Nachhaltigkeitsherausforderungen und Wirkungsmanagement).
In verschiedenen Publikationen zeigt Alexander Stoeckel, wie wichtig es ist, bei der Durchsicht der Fakten unvoreingenommen, neutral und objektiv zu sein – das gelingt allerdings nicht, wenn das Bauchgefühl zuvor schon das „richtige“ Urteil zu kennen meint. Es deshalb eine ständige Herausforderung für Investoren ist, „sich und die eigene Objektivität immer wieder kritisch zu hinterfragen.“ Eine einfache und hilfreiche Strategie besteht für Stoeckel darin, das eigene Urteil als „These“ zu begreifen und mit Dritten zu diskutieren. In der Start-up-Industrie sind das beispielsweise gemeinsame Investmententscheidungen, die z. B. in Zusammenarbeit mit einem Investment Committee oder auch in einer Partnergruppe gefällt werden: „Wir legen unsere Thesen dar und Dritte, die frisch auf das Objekt schauen, erkennen womöglich in unserer Beurteilung unsere Beeinflussung durch unser Bauchgefühl und sagen uns: Untersuch das doch noch mal genauer.“
Ein Gespräch mit Alexander Stoeckel, Director Venture Capital Philip Morris
Alexander Stoeckel: Bauchgefühl bei Start-up Investments. In: Bauchgefühl im Management. Die Rolle der Intuition in Wirtschaft, Gesellschaft und Sport. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. SpringerGabler Verlag 2021.
Alexander Stoeckel: Medizinische Denkschule auf Start-up-Finanzierungen angewendet. In: Visionäre von heute – Gestalter von morgen. Inspirationen und Impulse für Unternehmer. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2018.