Blau-Ära: Warum die Lieblingsfarbe der meisten Menschen im Trend liegt
„Wir sind eindeutig in der Blau-Ära“, sagt der Farbpsychologe und einer der Erfinder der lila Kuh Harald Braem. Blau ist auch die Lieblings- und Sehnsuchtsfarbe der meisten Menschen auf unserem blauen Planeten, wo es etwa 15.000 Blaus gibt. Im Jahr 2015 ergab eine Online-Umfrage von YouGov in Deutschland, China, Australien und sieben weiteren Ländern, dass Blau in allen zehn Ländern die beliebteste Farbe ist. darauf setzten auch Facebook, Twitter und Skype. Im 18. Jahrhundert erfand Novalis die Blaue Blume, und der englische Spätromantiker Lord Byron dichtete: „Roll on, thou deep and dark blue ocean …“ Von dieser tieferen Warte aus lassen sich gute Gründe für einen gelasseneren Blick auf die Zukunft finden, wenngleich es auch schwer fällt in einer immer dunkler werdenden Gegenwart.
Was macht das Blaue für uns so faszinierend? Warum sammeln Menschen blaue Dinge? Und warum spielt Blau für Fotografen eine so bedeutende Rolle? Vielleicht, weil darin etwas gesehen wird, das uns innewohnt. Als der US-amerikanische Dichter Stephen Kuusisto beispielsweise an seinen Augen operiert wurde, schwebte ihm ein Mosaik aus „mikroskopisch blauen Steinen“ durch seinen Schädel. Er berichtet in seiner Autobiographie „Der Planet der Blinden“ von einem Blau, dem er in der äußeren Welt noch nie begegnet ist. Auch die amerikanische Autorin Maggie Nelson, Jahrgang 1973, ist von der blauen Farbe „eingenommen“. Seit ihrer Jugend sammelt sie blaue Objekte: Kacheln, Steine oder Dinge aus Plastik. Von ihren Freunden und Bekannten lässt sie sich regelmäßig „blaue Berichte“ schicken. Ihr Buch „Bluets“ („Bleuet“ bedeutet auf Französisch Kornblume) genießt in den USA fast Kultstatus. Es ist ein hoffnungsvolles Büchlein, weil es die Schönheit des Selbstverständlichen zeigt: dass der Himmel immer blau ist. Am Tage, bei Nacht und besonders in der Dämmerung.
Für die Aufräum- und Einrichtungsexpertin Edith Storck spielt Blau ebenfalls eine wichtige Rolle: Seit 1962 sammelt auch sie blaue Gegenstände. Auf die Frage „Was ist für Sie eine blaue Welt?“: „Es blaut die Nacht“ (Händels Arie der Cleopatra) sei ihre erste liebste Bläue, gesungen von Felicitas Palmer. Auch die blauen Gedichte von Else Lasker-Schüler, “Mein blaues Klavier“, gehören für sie dazu, ebenso das Azurgottesblau von Chagall oder die blaugekritzelten Badewannen von Jan Fabre. All dies prägt auch ihr Büro. An der freien Wand steht ein zweisitziges Blaues Sofa. „Die Blaue Couch“ heißt auch eine Radiosendung beim Bayerischen Rundfunk. Die „echte“ steht in der Bayern 1-Redaktion, direkt vor dem Sendestudio. Viele namhafte Zeitgenossen haben hier schon zum Interview Platz genommen: Schauspieler, Sänger, Politiker, Wirtschaftsführer, Wissenschaftler, Publizisten oder Spitzensportler.
Eine interessante Beobachtung ist auch, dass auch Öko-Versandhändler im Sortiment nicht immer – wie man vermuten würde – auf die Nachhaltigkeitsfarbe Grün setzen, sondern auf Blau. So finden sich hier blaue Bio-Sneaker-Socken, Yogamatten, Fitnessbänder, T-Shirts, Duschtücher, Notizbücher, Ordner, Jacken, Schuhe Bürodrehstühle, Fahrradtaschen, Abfalleimer, Stifte oder Aufbewahrungsboxen (Quelle: memolife). Das mag ein Zufall sein oder ist dem Blick geschuldet, der alles blau sehen möchte, aber auch wenn es so sein sollte, so fügt sich am Ende alles zu einem Gesamtbild zusammen, das durch die Farbe Blau für das Auge eine sonderbare Wirkung und Energie hat.
„Farben führen zu Assoziationen mit konkreten materiellen, fassbaren Ideen“, schrieb der französische Künstler Yves Klein, dessen liebe zur Farbe Blau in die Kunstgeschichte einging. Sie erinnert ihn an den Himmel und das Meer. Auch für den Chemiker Erick leite Bastos ist es einfach nur „eine fantastische, faszinierende Farbe.“ Es lohnt sich, aktuelle Phänomene und Trends in Beziehung mit dem „Alten“ zu setzen, das das Neue erklärt und umgekehrt. Goethe spielt dabei eine wichtige Rolle. „Wie wir den hohen Himmel, die fernen Berge blau sehen, so scheint eine blaue Ferne vor uns zurückzuweichen – wie wir einen angenehmen Gegenstand gern verfolgen, so sehen wir das Blau gerne an“, schreibt er in seiner Farbenlehre. In den Jahren 1791 bis 1810 veröffentlichte er seine wesentlichsten Arbeiten dazu. Die Reihe dieser Publikationen wurde mit der kleinen Schrift „Beiträge zur Optik“ (1791) eingeleitet und gipfelte in dem Hauptwerk „Zur Farbenlehre. Didaktischer, polemischer, historischer Theil“ (1810). Das Werk umfasst 1400 Druckseiten. Im Zuge seiner Bemühungen war Goethe auch schon früh das Phänomen der Blaublindheit gestoßen, dem er in seiner Farbenlehre nicht weniger als zehn Paragraphen gewidmet hat. Er nannte es „Akyanoblepsie“.
In seinen zweibändigen Materialien zur Geschichte der Farbenlehre hatte er erstmals auf das Fehlen der Farbe Blau im griechischen Sprachgebrauch hingewiesen. Für Homer und die anderen frühen Dichter sei Blau keine Farbe in unserem Sinne gewesen, sondern die Eigenschaft der Dunkelheit. Die Farbe Blau entsteht nach Goethe, der die „Ohnmacht des Blauen“ (ein eigentümliches Moment des Nicht-Sehens) sehr deutlich empfand, am „entgegengesetzten Pol der Dunkelheit“. Im Garten der Villa Guilia beobachtete der Italienreisende, wie das Grün der Pflanzen ins Gelbliche und Bläuliche wechselte, sich also in die Farben zurückbildete, aus denen es herkam „und damit ähnlich dem Zusammenhang der Dinge im Bereich der Botanik an selber Stelle, im Reich ihrer ästhetischen Erscheinung das Ursprüngliche“ kundtat.“
Dem Blauen widmete sich auch ausführlich der Physiker und Philosoph der Frühromantik, Johann Wilhelm Ritter. Seine „Fragmente aus dem Nachlasse“ (1810) enthalten die Notiz, dass das Auge als einziger Körperteil die blaue Himmelsfarbe anzeigt: „Auffallend ist es, daß am ganzen Menschen nichts Blaues ist, als etwa das Auge.“ Auch Hildegard von Bingen erklärt schon in ihrer medizinischen Schrift „Causae et curae“, die unter anderem klinisch exakte Beschreibungen und theologische Deutungen der Symptome des melancholischen Zustands enthält, dass das Augenpaar (auch wenn es nicht immer blau ist) nach dem Gleichnis des Firmaments geschaffen sei.
Die Analogie zwischen Himmel und Augen spielt in allen Zeiten eine wichtige Rolle. Nach einem Interview mit Hermann Hesse schreibt der deutsche Journalist und Schriftsteller Heinrich Wiegand am 22. Juli 1926 in sein Tagebuchüber, dass die Augen des Dichters die Intensität des wirklichen Schauens, die hohe Schule des Sehens, wiederzugeben scheinen: „Das Erstaunlichste: die Augen. Wenig Weiß, viel Iris, eine Fülle heller Bläue. Ein durchdringender gefüllter Blick. Erstaunlich darum, weil Hesse kurzsichtig ist, augenleidend. Aber auch wenn er die Brille abnimmt, ist es nicht der Blick eines Kurzsichtigen, sondern ein fester, strahlender.“
Die Beschäftigung mit der Farbe Blau kann dazu beitragen, unseren eigenen festen Blick auf die Dinge immer wieder zu schulen, weil wir ohne ihn nicht urteilsfähig wären und die Welt nicht nachhaltig gestalten können.
Weiterführende Literatur:
Kai Kupferschmidt. Blau. Wie die Schönheit in die Welt kommt. Hoffmann und Campe, Hamburg 2019.
Kai Kupferschmidt: blau. In: DIE ZEIT (10.10.2019), S. 41.
Maggie Nelson: Bluets. Aus dem Englischen von Jan Wilm. Hanser Berlin, München 2018.
Meredith Haaf: Blau wie der Himmel und das Nichts. In: Süddeutsche Zeitung (9.1.2019), S. 12.
Heinrich Wiegand: Ein Tag mit Hermann Hesse. Tagebuchnotizen vom 22. Juli 1926. In: Michels 1987, S. 107-124. Hier: S. 108 f.
Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Von Lebensdingen: Eine verantwortungsvolle Auswahl. Amazon Media EU S.à r.l. 2017.
Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Wohnen 21.0: Grundzüge des Seins von A bis Z: global – lokal –nachhaltig. Amazon Media EU S.à r.l. 2018.