Bodenständig statt abgehoben: Warum immer mehr Menschen zu Selbstversorgern werden
Das eigene Lebensumfeld bewusster gestalten
Von den meisten Produkten, die uns umgeben, kennen wir die Geschichte nicht mehr. Wir wissen nicht, wie sie gemacht wurden und wo sie herkommen. Damit geht auch die Aufmerksamkeit für Rohstoffe und deren Verarbeitung verloren. Eine Gegenbewegung zum Massenkonsum und Materialismus ist die Selbstversorgung, die derzeit einen enormen Boom erlebt. Warum? Weil Bodenständigkeit, Einfachheit, Unmittelbarkeit und Selbstbestimmtheit unverzichtbare Werte im Leben sind, weil Selbstversorgung Ausstieg aus den Zwängen und Verhängnissen der Globalisierung bedeutet. Selbstversorgung ist zumindest eine Möglichkeit, das eigene Lebensumfeld bewusster zu gestalten. So pachten viele junge Städter Ackerboden zur Selbstversorgung. Sie möchten mit den Händen in der Erde arbeiten und die Natur wieder spüren. Und sie wollen saisonales Bio-Obst und Gemüse aus der Region essen.
Verbraucher haben damit die Behandlung ihrer Lebensmittel selbst in der Hand, umgehen lange Transportwege und können sich die Auswahl nach eigenen Bedürfnissen zusammenstellen. Hinzu kommt, dass angebautes Essen nicht nur nährstoffreicher ist, sondern auch besser schmeckt. Das Unternehmen „Ackerhelden", das 2012 gegründet wurde, stellt landesweit Bioland-zertifizierte Felder zum Selbsternten bereit. In Deutschland gibt es hunderte Urban-Gardening-Projekte, die zugleich echte Verbundenheit Gemeinschaft stiften und von Forschern als Vorstufe der Stadt der Zukunft bezeichnet werden.
Seit 2008 leben weltweit mehr Menschen in Städten als auf dem Land. Bis 2030 rechnet der Bevölkerungsfond der Vereinten Nationen mit fünf Milliarden Städtern. Mit den Gärten wird urbane Landwirtschaft erprobt. Anbau und Ernte erfolgen dort, wo auch gegessen wird. Mit der Selbstversorgung ist zugleich der Wunsch nach etwas Handfestem verbunden und dem Rückblick auf das, was gut war und auch heute noch zu einem besseren Leben beiträgt. Öko-Pioniere integrieren dieses Wissen auch in ihre Kommunikationsmaßnahmen. So finden sich in einem Katalog eines Onlineversenders Produkte und Ideen rund um das nachhaltige Leben enthält. In der Rubrik „Gut zu wissen..." heißt es: „Fragen Sie Eltern oder Großeltern: Die meisten von ihnen kennen den wahren Wert von Lebensmitteln noch und haben nach dem Prinzip kochen gelernt, dass möglichst alles Verwendung findet." (Quelle: memolife)
Überleben in der Krise
2010 erschien im Kopp Verlag von Marion und Michael Grandt „Das Handbuch der Selbstversorgung", das sich dem Überleben in der Krise widmet: Wie wahrscheinlich ist der Zusammenbruch? Wie ist unsere Versorgungslage in Wirklichkeit? Wie viel Nahrung und Wasser braucht der Mensch? Was ist zu tun, wenn es keine Lebensmittel mehr zu kaufen gibt, wenn Geld kein Zahlungsmittel mehr ist, und es keine ärztliche Versorgung mehr gibt?
Wenn es zu einem Crash kommen sollte, der zu Versorgungsengpässen führt, bleiben nach Meinung der Autoren nur wenig Alternativen: Flucht aus der Stadt, Selbstversorgung, Tauschmittel. Das Buch zeichnet ein düsteres Szenario der Zukunft, eine unheimliche Stimmung, die schleichend zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung wird, wenn wir uns darin verlieren. Angst essen Leser auf. Der (sich selbst) bewusste Leser weiß jedoch, dass Zukunft auch Optimismus braucht. „Ja, aber ich kann eh nichts ändern." Sätze wie diese befriedigen Menschen wie den österreichischen Unternehmer Josef Zotter nicht.
Der Chocolatier wollte schon immer Lebensmittel herstellen, die kompromisslos ehrlich und fair zu Mensch und Umwelt sind. Für die Produktion werden ausschließlich bio-zertifizierte und fair gehandelte Rohstoffe. Zudem wird Schokolade direkt von der Bohne weg produziert (Bean-to-Bar). Der Großteil der Branche verwendet Halbfertigprodukte, aber Zotter stellt seine Schokoladen direkt am Standort selbst her. Die Kakaobohnen werden nach Bergl, Riegersburg, geliefert und verlassen die Manufaktur erst als fertige Schokoladentafel. Dadurch werden Transportwege eingespart. Er ist europaweit der einzige Hersteller, der von der Bohne weg komplett in Bio- und Fairtrade-Qualität produziert.
Zum Schoko-Laden-Theater in Bergl gehört auch der „Essbare Tiergarten“. Er ist eine Art Bio-Erlebnis-Landwirtschaft. Grundsätzlich geht es hier um eine „erfahrbare“ Auseinandersetzung mit der Frage: Woher kommen unsere Lebensmittel? Hier leben viele alte, zum Teil vom Aussterben bedrohte Nutztierrassen aus dem Arche-Austria-Programm. Artgerechte Tierhaltung, Bio-Vegetation, ein geschlossener Biozyklus und die Öko-Essbar, in der Besucher Bio-Speisen direkt von den eigenen Weiden und Gärten inmitten der Natur genießen können. Die Öko-Essbar kocht regional, saisonal, hausgemacht, bio und artgerecht. Außerdem wird nur mit Sonnenenergie gekocht, denn schon jetzt ist der Essbare Tiergarten dank der großen Photovoltaikanlage komplett energieautark.
Was alle Bodenständigen verbindet
Allen Bodenständigen gemeinsam ist der Wunsch nach einem Ort, an dem sie selbstbestimmt sein und Sorge tragen können: für sich und eine überschaubare Welt, die sie mit den Händen bearbeiten und wachsen sehen können - in einer der Natur gemäßen Geschwindigkeit, denn sie macht keine Sprünge. Viele Menschen verbinden damit auch eine Rückbesinnung auf alte Werte und die Suche nach einem Ort, an dem man sich wohlfühlt, sich selbst und Ruhe finden kann. Durch zahlreiche Lebensmittelskandale auch im Bio-Bereich besinnen sich viele Menschen wieder auf sich selbst und ihre Fähigkeiten. Sie verlassen sich nicht mehr auf die Versprechen von Lebensmittelanbietern und Unternehmen. Dabei ist es egal, ob es der heimische Garten mit Eigenheim ist oder nur wenige Quadratmeter auf dem Balkon oder auf dem Dach.
Weiterführende Informationen:
Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Gartenzeit: Wie wir Natur und Kultur wieder in Gleichklang bringen. Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2017.
Klimawandel in der Wirtschaft. Warum wir ein Bewusstsein für Dringlichkeit brauchen. Hg. von Alexandra Hildebrandt. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2020.