Navigation überspringen
article cover
Gefangen in Konzernstrukturen | © Derek Berwin/Getty Images

Clash of Cultures: Ein Unternehmerkind im Konzern

Mir war schon klar, dass Aktienkurse und die dahinterstehenden Bilanzen für börsennotierte Konzerne wichtig sind. Was mir nicht bewusst war: Dass sie heilig sind! Und was das für Konsequenzen hat …

Mit 16 war für mich klar: „Familienbetrieb? Nein, danke!“ Ich träumte von einer Konzernkarriere, wollte es mir selbst beweisen. Unabhängig sein vom Familienbetrieb meiner Großeltern. In einem Umfeld arbeiten, in dem ich nicht die Enkelin der Chefin war. Ich wollte als eine unter vielen die Karriereleiter hochklettern – und nur für meine Leistung gesehen werden. Ein großer Konzern war dafür genau die richtige Anlaufstelle. Und siehe da: Ein Bewerbungsverfahren später trat ich mein duales Studium in so einem Konzern an. Nach einigen Tagen der Akklimatisierung musste ich allerdings feststellen: „Das habe ich mir anders vorgestellt“. Viel arbeiten konnte ich hier. Auch gab es zahlreiche Karrieremöglichkeiten. Gleichzeitig traf ich aber auch auf viele Dinge, die mich zutiefst irritierten: Die Quartalsdenke Mir war schon klar, dass Aktienkurse und die dahinterstehenden Bilanzen für börsennotierte Konzerne wichtig sind. Was mir nicht bewusst war: Dass sie heilig sind! Nahezu jede Entscheidung wurde an diesem übermächtigen Faktor gemessen: „Was bedeutet das für unsere Quartalsabschlüsse? Welche Auswirkung könnte das auf die Aktienkursentwicklung haben?“. Das war das K.O.-Kriterium für alle Entscheidungen. Dabei kamen Diskussionen zustande, die aus meiner Sicht als Familienunternehmerkind schon fast burlesk anmuteten: „Ist die Investition aus betrieblicher Sicht sinnvoll?“ „Ja.“ „Sollten wir sie dringend umsetzen?“ „Ja, unbedingt!“ „Sähen dadurch die Bilanzen kurzfristig etwas schlechter aus als im Quartal zuvor?“ „Ja, schon.“ „Dann machen wir es nicht!“ Als Familienunternehmerin denke ich in Generationen Nicht selten stand ich kopfschüttelnd neben meinen Kollegen und bewunderte sie für ihr stoisches Schulterzucken, mit denen sie solche Entscheidungen quittierten. Klar: Bilanzen müssen wir Unternehmer*innen im Blick haben, schließlich beeinflussen sie unsere Kreditwürdigkeit. Allerdings muss ich als Geschäftsführerin eines Familienunternehmens oftmals wichtige Entscheidungen treffen, die sich zwar langfristig rentieren – zunächst aber zulasten der Bilanzen gehen. Schließlich ist mein Ziel, das Familienunternehmen für die nächste Generation zu erhalten. In der Forschung spricht man hier vom Transgenerational Momentum. Langfristiger Unternehmenserhalt erfordert manchmal Entscheidungen, die kurzfristig nicht den Gewinn maximieren. Im Konzern lernte ich das Gegenteil kennen: Das Denken von Quartalsabschluss zu Quartalsabschluss. Eine Denke, die so gar nicht in meinen Kopf ging. Auf dem Entscheidungsweg verdurstet Im Familienbetrieb werden Entscheidungen oftmals wie folgt getroffen: Zum Geschäftsführer gehen, Frage stellen, Entscheidung treffen, weiterarbeiten. Es war ein Kulturschock, als ich die Entscheidungsfindung im Konzern kennenlernte. Formalisierte Entscheidungs- und Kommunikationsweg, die teilweise so lang waren, dass ich auf halber Strecke zu verdursten drohte. Ein Beispiel: Ich benötigte eine Schreibtischunterlage. Also fragte ich mich durch meine Abteilung, bis ich an die Büromittelabteilung verwiesen wurde. Dort angekommen, erfuhr ich: Ich müsse zunächst einen Antrag stellen, der von meiner Vorgesetzten bewilligt werden musste. Am Ende des Tages war ich einen ganzen Tag lang unterwegs – nur um eine Unterlage nicht zu bekommen. Ich gab auf und brachte mir am nächsten Tag einfach eine von zuhause mit. Heute weiß ich: Diese ewigen Entscheidungsprozesse haben nichts mit fehlendem Verantwortungsbewusstsein zu tun. Festgeschriebene und standardisierte Abläufe können sehr sinnvoll sein. Und Familienunternehmen können sich davon eine Scheibe abschneiden, denn: Wir vertrauen manchmal zu sehr auf einzelne Personen und deren Improvisationsvermögen. Damals konnte ich aber nicht nachvollziehen, warum so viel bürokratischer Aufwand dafür gemacht wurde. Das Konzern-Organigramm: Eine Kletterwand? Als ich eines freitagnachmittags im Büro Zeit hatte, suchte ich im Intranet das Organigramm des Konzerns. Ich wollte wissen: Wo stehen wir Studenten eigentlich? Irgendwo ganz unten, etwa auf der 17. Organisationsstufe nach dem Vorstand, wurde ich fündig. Genau in diesem Moment realisierte ich, wie unwichtig ich als Person eigentlich für diesen Konzern war. Erst jetzt verstand ich auch die Dimension des Satzes, „die Karriereleiter hochklettern“. Im Konzern gibt es unendlich viele Stufen zwischen Menschen wie mir damals, am Fuße der Pyramide, und dem Top Management an der Spitze. Ein Paradies der Aufstiegsmöglichkeiten – oder doch eher eine Sisyphos-Kletterwand? Als Kind hörte ich in der Unternehmerfamilie manchmal den Satz: „Die Person hat unseren Betrieb verlassen, weil sie mehr Aufstiegsmöglichkeiten suchte". Fluch und Segen eines Familienbetriebs: Wir haben flache Hierarchien – allerdings dementsprechend weniger Aufstiegsmöglichkeiten. Viel gelernt! So sehr ich das duale Studium im Konzern genoss – so sehr fühlte ich mich wie ein Marsmännchen auf der Erde. Die Denkweise, mit der ich groß geworden war, schien hier gar nicht zu greifen. Das lag nicht an den Kolleg*innen, von denen habe ich viel gelernt und sie sind tolle Menschen. Aber: Die Konzerndenke passte einfach nicht zu meiner Sozialisation in einem Familienunternehmen. Viele typische Eigenschaften aus dem Familienbetrieb wurden mir erst während der Zeit im Konzern bewusst. Eigenschaften, auf die ich in meinem täglichen Arbeitsleben nicht verzichten möchte. Darum drehte ich der Konzernwelt nach meinem Studium auch bewusst den Rücken zu. Wie steht ihr dazu? Wer von euch kennt beide Welten: Konzern und Familienbetrieb? Wo liegen in euren Augen die Stärken und Schwächen beider Unternehmensformen? Ich freue mich auf eure Meinungen, Erfahrungen und Anekdoten!

Kommentare

Johanna Schirmer schreibt über Job & Karriere, Wirtschaft & Management, Konsumgüter & Handel

»Johanna hat im Schleudergang gelernt, was es heißt ein Unternehmen zu führen.« Quelle: Harvard Business Manager, 08/2022

Artikelsammlung ansehen