Das Ende des Marketing? Drei Fehlentwicklungen sind daran schuld
Der Kunde ist der wichtigste Mensch im Unternehmen. Aus diesem Grund braucht es intern Personen, die Kundenbelange crossfunktional koordinieren und mit Nachdruck die Kundeninteressen vertreten. Die Marketingleute sind das jedenfalls nicht. Sie haben sich eher zum Feind als zum Freund der Kunden gemacht. Die Folgen sind katastrophal.
Es gab einmal ein Marketing, das einer wirklich ehrbaren Aufgabe nachging: eine marktorientierte Unternehmensführung sicherzustellen. Die Produktentwicklung, die Preispolitik, die Kommunikation und der Vertrieb gehörten dazu. Doch das meiste davon ist den Marketern abhandengekommen. Immer mehr werden sie in die Ecke von Werbeschleudern und Datenjunkies gedrängt. Customer Centricity? Wird zwar gelobt, aber nicht gelebt. Vielmehr werden die Kunden effizienzkonform versorgt, sollen mühsame Formalien akzeptieren, vorgedachten Abläufen folgen, sich mit Standardservice begnügen und im Takt einer altersschwachen Software ticken.
Das Marketing kann daran nichts ändern – und es ist ihm wohl auch egal. Wie es dazu kam? Es war ein grundsätzlicher Fehler, die marktorientierte Unternehmensführung einzupferchen. Das hätte nie geschehen dürfen. „Unternehmen, die Marketing in eine Abteilung sperren, haben aufgehört, auf den Markt zu hören“, hat der ehemalige Absatzwirtschaft-Chefredakteur Christian Thunig einmal formuliert. So passiert dann genau das, was in einer Abteilung immer passiert: Man teilt sich ab. Eigene Belange, isolierte Interessen und das Erreichen von KPI’s stehen im Fokus.
Die größte Umsatzverschwendung entsteht aus einem Mangel an Zusammenarbeit. Im „Wir hier“- gegen „Die da“-Modus grenzt man Kollegen aus anderen Bereichen ganz gezielt aus. Symptomatisch dafür und vielfach gelebte Realität: Statt sich die Bälle zuzuspielen, agieren Online und Offline wie befeindete Units, die einander die Kunden „klauen“. Zwischen Sales und Marketing wird darüber gestritten, wem der Kunde „gehört“. Indes gerät man in der Auftragsabwicklung ins Schleudern, weil der Vertrieb, dem die Quartalsziele im Nacken sitzen, mal wieder unhaltbare Versprechen macht. Und das Callcenter weiß über die neuesten Sonderangebote nicht Bescheid.
Fehlentwicklung Nr. 1: Der Marketer als Werbeschleuder
Gute Kommunikation will Menschen betören - und nicht ihr Vertrauen zerstören. Nichtsdestotrotz meinen Werbeleute noch immer, sie müssten uns volllabern und zuballern, damit ihre Botschaften in unseren Köpfen landen. Schamlos wird in Werbeversprechen geschönt und gelogen. Dreist stalkt man uns aus der Ferne, klaut unsere Daten, stört uns mit aufdringlichen Bannern, bietet nutzlosen Massencontent. Kaum wird eine neue Sau durchs Dorf getrieben, rennt die ganze Meute los, um die Konsumenten damit zu plagen. So haben die Marketer uns zu Werbehassern gemacht.
Wie das passieren konnte? Quantitative Fakten verlangt das Controlling, für Qualität hat es kein Ohr. In der Zahlenfalle gefangen meint ein Marketer dann, viel helfe viel. Dabei ist viel vom Falschen fatal. Weghören, wegsehen, weggehen ist das, was der Kunde dann macht. Alle Werbung wird kurzerhand weggeblockt, keine einzige Botschaft eines Anbieters kommt je wieder an. Die ganzen Belästigungs-und Bestrafungskosten plus all der entgangene Umsatz, der durch Kundenvergraulungsprogramme entsteht, der müsste selbstverständlich mit einkalkuliert werden. Doch kein Controller hat das wohl je getan.
Wer seine Kunden liebt, der sollte sie nicht verärgern. Sonst drohen nicht nur herbe Kundenverluste, sondern auch Reputationsschäden aus Rache. Wer sich nämlich schlecht behandelt oder über den Tisch gezogen fühlt, wird Tauschgerechtigkeit herstellen wollen. Selbst Leichen, die vor Jahren verbuddelt wurden, kommen dann auf den Seziertisch der Öffentlichkeit. Druckverkauf und Verbraucherbetrug haben großflächig Vertrauen zerstört. Das Resultat: Empfehlende Dritte, glaubwürdige Influencer und externe Meinungsmacher sind als Absender längst weitaus gefragter als die Anbieter selbst. Damit ist den Unternehmen die Kommunikationshoheit verlorengegangen.
Fehlentwicklung Nr. 2: Der Marketer als Datenjunkie
Die meisten Marketer haben sich den Kunden völlig entfremdet. Viele haben noch nie persönlich mit Kunden gesprochen. Vielmehr haben sie Messpunkte aus ihnen gemacht. Und der Datensalat, der auf ihren Dashboards erscheint, den halten sie für die ganze Wahrheit. Doch das Kaufverhalten der Konsumenten ist bei weitem nicht so gläsern, wie uns die Software-Industrie vorgaukeln will. Das meiste, was wir denken, sagen, kaufen und tun, bleibt den Cookies und Crawlern verborgen. Menschen sind keine Nullen und Einsen. Sie sind auch keine Datenpakete. Und ganz gewiss sind sie kein bürokratischer Vorgang, der sich vorgedachten Steuerungsmechanismen unterwirft.
Datenmanie killt Empathie - und verliert das Individuum aus den Augen. Wer nämlich auf Zahlen fixiert ist, denkt nur noch in Zahlenkategorien. Natürlich sind Daten wichtig. Und Messbarkeit hilft, die Spreu vom Weizen zu trennen. Man darf sie nur nicht für den Stein der Weisen halten und blind deren Ergebnissen trauen. Die finale Ausbeute ist immer nur so gut wie das zuvor eingefütterte Ausgangsmaterial. „GIGO“ (Garbage in, Garbage out) wird dieses Prinzip in der Informatik genannt. Die letale Gefahr: Zahlen legitimieren. Selbst dann, wenn sie falsch sind, dienen sie als Entscheidungsgrundlage.
Um Kundenherzen zu berühren, muss sich Datenmaîtrise mit sozialer Intelligenz und Menschlichkeit paaren. Kontrollfreaks sollten zudem verstehen: Nicht das, was in der Vergangenheit war, ist interessant, sondern das, was zukünftig kommt. Darüber hinaus wird leicht übersehen, dass das eigentlich Wichtige nicht in Zahlenkolonnen passiert, sondern an den Touchpoints zwischen Mitarbeiter, Unternehmen und Kunde. Doch da, wo nur harte Fakten zählen, werden soziale Faktoren negiert. Weil man sie nicht rechnen kann. Ein Denkfehler, der sich schnell rächt. So lässt sich Vertrauen nicht messen, ist aber entscheidend. Und Misstrauen kostet: Zeit, Kraft - und sehr viel Geld.
Fehlentwicklung Nr. 3: Der Marketer als Abteilungsdenker
Unternehmensintern fallen die kundenrelevanten Aktivitäten meist unkoordiniert auseinander. Hier die Werbung, da das Callcenter, dort die Pressearbeit. Die Online-Spezialisten machen komplett ihr eigenes Ding. Und die Social-Media-Leute hängen irgendwo mittendrin. Solch eine Aufgaben-Fragmentierung ist aus Kundensicht katastrophal: Vieles wird doppelt erledigt, manches gar nicht, einiges bleibt ewig liegen, das meiste wird in unterschiedlicher Qualität abgeliefert. Doch wer aus Kundensicht nicht performt, steht heute sofort am Pranger. Zudem kann jede einzelne kundenrelevante Unannehmlichkeit zum Einfallstor für Disruptoren werden.
Gegeneinander statt miteinander und mangelnder Austausch sind in vielen Unternehmen leider die Norm. So passieren die meisten Unannehmlichkeiten, die Kunden bekommen, crossfunktional: Abstimmungs-und Kommunikationsprobleme im Gerangel zwischen Zuständigkeiten, Zielkonflikten, Machtgedöns und Effizienz. Die Missstände an den einzelnen Touchpoints und im Verlauf einer Customer Journey sind den Unternehmen auch wohlbekannt. Sie werden aber nicht angegangen, weil sie siloübergreifende Ursachen haben. In die Hoheitsgebiete anderer greift man besser nicht ein. Und „die anderen“ lassen das auch nicht zu.
Für einen Kunden ist all das indiskutabel. Er betrachtet ein Unternehmen immer als Ganzheit. Ihm ist es egal, was hinter den Kulissen passiert, wer wofür zuständig ist und warum es wo klemmt. Abteilungsgrenzen interessieren ihn nicht. Aus welchem Bereich eine Lösung kommt, ist ihm schuppe. Hauptsache, sie funktioniert. Dabei sind die Kunden anspruchsvoller als jemals zuvor. Wem was nicht passt, der ist mit einem „Swipe“ weg. Und im Web erzählt er allen, warum das so ist. Anbieter, die das nicht verstehen und sich nicht kundenzentriert neu organisieren, werden die Zukunft wohl nicht erreichen. Es wäre die ganz große Chance des Marketing, das zu verhindern.
Mehr zum Thema in: Die Orbit-Organisation - In 9 Schritten zum Unternehmensmodell für die digitale Zukunft. Das Buch wurde Finalist beim International Book Award 2019.
Übrigens biete ich auch eine Ausbildung zum zertifizierten Customer Touchpoint Manager, dem crossfunktionalen Kundenbelange-Organisierer an. Zu weiteren Infos und zur Anmeldung.
Über die Autorin: Anne M. Schüller ist Managementdenker, Keynote-Speaker, mehrfach preisgekrönte Bestsellerautorin und Businesscoach. Die Diplom-Betriebswirtin gilt als führende Expertin für das Touchpoint Management und eine kundenfokussierte Unternehmensführung. Sie zählt zu den gefragtesten Rednern im deutschsprachigen Raum. 2015 wurde sie für ihr Lebenswerk in die Hall of Fame der German Speakers Association aufgenommen. Vom Business-Netzwerk LinkedIn wurde sie zur Top-Voice 2017/2018 und vom Business-Netzwerk XING zum XING-Spitzenwriter 2018 gekürt. Ihr aktuelles Buch „Die Orbit-Organisation“ wurde Finalist beim International Book Award 2019. Zudem wurde es mit dem BestBusinessBook Award ausgezeichnet. Zu ihrem Kundenkreis zählt die Elite der Wirtschaft. Ihr Touchpoint Institut bildet zertifizierte Touchpoint Manager sowie zertifizierte Orbit-Organisationsentwickler aus. Kontakt über: www.anneschueller.de