Das Festhalten der flüchtigen Welt: Georg Stefan Trollers Traum von Paris
Porträts einer Stadt
Die Weltstadt der großen Geschichten ist nicht nur Ort des Sonnenkönigs, Stadt der Paläste und der Bourgeoisie, der Revolutionäre, der Schriftsteller, Künstler und der Flaneure, der Mode und der Verliebten – die Metropole Paris ist auch der Geburtsort der Fotografie. Das belegen die über 500 Fotografien, die der Historiker, Journalist und Kritiker Jean Claude Gautrand in dem Bildband „Paris. Porträt einer Stadt“ zusammengetragen hat. Gezeigt werden Motive, die das romantische Bild dieser Metropole geprägt haben, aber auch den Wunsch nach Emanzipation (z.B. den Streik der Näherinnen 1923 oder der Stenotypistinnen 1925). Die Fotos entstanden zwischen den 1840-er Jahren und 2011. Bedeutende Fotografen wie Daguerre, Marville, Atget, Lartigue, Brassaï, Kertész, Ronis, Doisneau und Cartier-Bresson sowie anonyme Zeitzeugen haben die Aura von Paris in ihren Fotos nachhaltig bewahrt.
Die Bilder verwandeln noch die alltäglichsten Dinge in Ereignisse von weltstädtischem Format. Auch die ältesten Fotos vermitteln ein Gefühl gespannter Gegenwärtigkeit. Zusammengetragen wurden auch die Bilder des bekanntesten Vertreters der Pariser Straßenfotografie, Robert Doisneau, der sich dem Alltag der kleinen Leute widmet. Wie ein Symbol des Übergangs muten auf den Fotos die Passagen dieser Stadt an, weil sie Innen und Außen verbinden „auf gedrängtestem Raum ihr eigentliches Wesen darstellen (Hannah Arendt).
Paris war und ist auch die Stadt der Lebenskünstler
Einige starben so sonderbar, wie sie gelebt haben: Der Schriftsteller und Dramatiker Ödön von Horváth wurde am 1. Juni 1938 auf den Pariser Champs-Élysées von einem Ast erschlagen. Er sah an diesem Tag im Kino „Schneewittchen und die sieben Zwerge“ und traf sich dann im Kaffeehaus mit dem Regisseur Siodmak, mit dem er über die Verfilmung „Jugend ohne Gott“ sprach. Danach flanierte er durch die Straßen, und stellte sich wegen eines aufziehenden Gewitters unter eine Theatermarkise, wo ihn der Ast traf.
Einige Monate zuvor, im März 1938, marschierten deutsche Soldaten, Polizisten und SS-Einheiten in Österreich ein. Der Schriftsteller und Dokumentarfilmer Georg Stefan Troller war damals 16 Jahre alt. Mit seiner jüdischen Familie ist er geflohen und kam über die Tschechoslowakei nach Frankreich. Das unbekannte „Paris der verborgenen, kleinen Gässchen und der Treppen und der Hinterhöfe“ hat er besonders geliebt. Troller wurde US-Soldat und Student in New York und kehrte 1949 nach Paris zurück. Hier nahm er, mit Kamera und Belichtungsmesser, seine alten Spuren wieder auf. Die Schwarz-Weiß-Fotos wurden mit einer Leica aufgenommen, die er als amerikanischer GI einem deutschen Kriegsgefangenen abnahm. Die Bilder zeigen Ruinen und Schutt, Hinterhöfe, verwinkelte Quartiere, faltige und verschlossene Gesichter und maskierte Jahrmarkts-Freaks. Die Stadt schloss sich ihm auf, weil er „passioniert“ genug vorging.
Troller hielt die Bilder nach der Scheidung von seiner ersten Frau für verloren. Im Jahr 2016 fand sie seine Tochter Fenn in einem Karton beim Ausmisten wieder: „Sie brachte mir die Fotos, ich guckte sie an – und da überkam mich dieses Gefühl, das einen so oft überkommt, wenn man alte Sachen von sich sieht oder liest: wer war denn der, der das alles gemacht hat? Und wieso gibt‘s den nicht mehr? Wieso könnte ich das heute nicht mehr? Nicht nur weil es dieses Paris nicht mehr gibt, sondern weil es diese meine Leidenschaft nicht mehr gibt: das Festhalten der flüchtigen Welt.“
Troller drehte 2004 seinen letzten Film: „Tage und Nächte in Paris“. 2017 erschien das Buch „Ein Traum von Paris“, das jene Fotos enthält, die er in den 1950er-Jahren gemacht hat. Essais sind bestens geeignet, sich seinen Fotos von vielen Seiten zu nähern, ohne das strenge Korsett der wissenschaftlichen Abhandlung. Sie sind nicht systematisch auf eine Erkenntnisfindung ausgerichtet, sondern assoziativ und schweifend. „Essay“ stammt vom „Wägen“, von der Kostprobe und dem Versuch. Daraus entwickelten Francis Bacon und Michel de Montaigne eigene Produkte der Urteilskraft. Das Unfertige weist über Grenzen hinaus und will weitergedacht werden.
Die in Trollers Buch versammelten Essais schrieb der Jahrhundertmensch in den 60er- und 70er-Jahren, als das von ihm geliebte Paris allmählich verschwand: „Ein für mich längst abgelebter, aber doch unvergessener, durcheinandergewürfelter Teil meines inneren Daseins.“ Ist Troller nicht auch ein essayistischer Mensch, wie ihn Robert Musil in seinem Fragment gebliebenen Werk „Der Mann ohne Eigenschaften“ (1921-1942) beschrieben hat? Essayistisch zu leben erfordert eine „paradoxe Mischung aus Genauigkeit und Unbestimmtheit“ - ein Beginn auf etwas hin, ohne genau zu wissen, worauf es am Ende hinausläuft. Er lässt sich gleichermaßen von seinem inneren Willen und von der Welt führen und hat eine Neigung zu allem, „was ihn innerlich mehrt“. Das Buch ist deshalb auch etwas für jene, die beim Lesen und Blättern nichts allzu Bestimmtes finden wollen, die auch gern spontan vom Weg abkommen und dabei unzählige Entdeckungen machen.
Weiterführende Literatur:
Jean Claude Gautrand: Paris. Porträt einer Stadt. TASCHEN Verlag, Köln 2011 (2017).
Georg Stefan Troller: Ein Traum von Paris. Frühe Texte und Fotografien. CORSO in der Verlagshaus Römerweg GmbH, Wiesbaden 2017.