Das Verschwinden der schönen alten Welt: Was von Karl Lagerfeld bleibt
Die Tiefe an der Oberfläche
Selten hat mich in letzter Zeit ein Buch so ergriffen wie die Biografie „Karl Lagerfeld. Ein Deutscher in Paris“ von Alfons Kaiser. Vor der Lektüre dachte ich, dass sich meine langjährige Beschäftigung mit Lagerfeld erschöpft hat, und dass es keinen doppelten Boden mehr gibt, weil bereits alles von mir „aufgelesen“ wurde. Die Berichterstattung über ihn wiederholte sich häufig, und die meisten Bücher waren reine Zitatsammlungen ohne erklärenden Kontext (von den exzellenten Kunstbänden bei Steidl abgesehen). Dass mein eigener Zugang zu Lagerfeld eine Zeitlang verschlossen war, wurde auch durch frustrierende Verlagserfahrungen bestärkt: Gemeinsam mit der Fotografin Nicole Simon, die ihn in den neunziger Jahren fotografierte und nach seinem Tod in Paris die für ihn wichtigsten Orte aufsuchte, entstand ein Fotobuch mit Essays und ausgewählten Zitaten zur Lebenskunst des Modeschöpfers, Fotografen, Illustrators und Büchersammlers. Ein Verlag, der dieses Buchprojekt realisieren wollte, ließ uns Monate warten, bis eine Absage mit der für uns unfassbaren Begründung kam, dass Lagerfeld nach seinem Tod doch ohnehin bald vergessen sein wird. So blieb uns als Zwischenschritt nur, erst einmal ein E-Book herauszugeben, um das Projekt in Bewegung zu halten.
Das Erscheinen der Lagerfeld-Biografie von Alfons Kaiser, Moderedaktor der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), der ihn über 20 Jahre lang kannte, ist eine Überraschung. Sie bestärkt uns darin, an Lagerfeld festzuhalten, unsere Teile neu zusammenzusetzen und andere „Bilder“ von ihm zu haben. Denn er ist niemals nur einer gewesen, sondern viele. Wer sich leidenschaftlich mit ihm beschäftigt, gehört häufig ebenfalls zu jenen, die innerlich facettenreich sind und sich in keine Schublade stecken lassen. Vielleicht ist das auch einer der Gründe, weshalb ich mich von Lagerfeld immer „angezogen“ gefühlt habe. Mein großes Kernthema Nachhaltigkeit habe ich allerdings ausgeblendet, weil es sich mit ihm nicht verbinden ließ. Möglicherweise war das Gesamtbild, das ich von ihm hatte, deshalb auch nie ganz stimmig. Alfons Kaiser ist, soweit ich dies überschauen kann, der einzige Autor, der auf diesen Aspekt ausführlich hinweist:
„Ihn interessierte kaum, dass ökonomische Freiheit das ökologische Gleichgewicht bedrohen.“
Verwiesen wird auch auf seinen persönlichen Anteil „an der zunehmenden Erderwärmung und der Vermüllung des Planeten“ (z.B. Billigmode bei H&M, massenhaft eingesetztes Polyester, abgeholzte Bäume bei großen Schauen, Vielfliegen im Privatjet). Diese Welt von gestern ist längst überholt: „Mit dem Tod von Karl Lagerfeld ist die schöne alte Welt des Luxus und der Moden verschwunden, in der Konsum ohne Reue noch möglich war.“ Er starb am 19. Februar 2019 in Neuilly-sur-Seine im Alter von 85 Jahren. Für sein Ableben hatte er vorgesorgt und veranlasst, dass es kein Begräbnis geben wird. Er wollte verbrannt werden: „Schluss, aus, vorbei! Das war Karl Lagerfeld.“
Während es in Frankreich bereits zwei Lagerfeld-Biografien gibt und in nächster Zeit noch zwei weitere hinzukommen, ist in Deutschland die Literatur zu ihm überschaubar und oberflächlich. Die meisten Autoren rühmen sich mit dem Meister und nutzen sein Licht, um sich selbst anzustrahlen. Aber nicht Alfons Kaiser. Er stellt das Thema in den Fokus, niemals sich selbst – und er macht sich für die deutsche Vergangenheit von Lagerfeld stark, weil ihm bewusst ist, „dass es sonst keiner macht. Dass das, was ihn so geprägt hat, sonst vergessen wird.“ Sein Buch ist aber auch ein Beispiel für eine perfekt geschriebene Biografie, die auf gründlichen Recherchen und solider Quellenarbeit (Briefe, Dokumente, Bildern, Erzählungen betroffener Personen) sowie sachlichen und historisch korrekt Schilderungen basiert.
Ein guter Autor weiß sich selbst zurückzunehmen, vermeidet Wertungen sowie moralischer Überheblichkeit und beherrscht wie die Kunst des Zitierens.
Kaiser reiste zu Archiven und Orten, die in Lagerfelds Leben eine Rolle gespielt haben, sprach mit Verwandten, Bekannten und engen FreundInnen des Designers. Die Recherchen fanden von März 2019 bis April 2020 statt. Dafür war er zehn Mal in Paris sowie u. a. in Rom, Florenz, New York und Florida. In Baden-Baden sah er sich das Haus an, in dem Lagerfelds Eltern in den sechziger Jahren lebten, in Bad Bramstedt suchte er die Fundamente der abgerissenen Lagerfeld-Villa, in Münster sah er im Landesarchiv NRW die Personalakte seines Großvaters Karl Bahlmann durch, der von Kaiser Wilhelm II. zum Landrat ernannt worden war.
Karl Lagerfeld wurde 1933 als Sohn des Hamburger Dosenmilch-Fabrikanten (Glücksklee-Milch-GmbH) Otto Lagerfeld und dessen Frau Elisabeth geboren. Er wuchs in wohlhabenden Verhältnissen auf. Im Zuge seiner Recherchen fand er beispielsweise heraus, dass Lagerfeld mit seinem Vater oft Streit hatte, weil er unzufrieden war mit dem Lebensweg seines Sohnes, der lieber Kleider zeichnete und nach Paris ging als seine Nachfolge anzutreten. Die Mutter war auf der Seite ihres Sohnes. 1968 ist sie selbst nach Paris gezogen und lebte dort mit ihrem Sohn ungefähr acht Jahre lang zusammen, bis sie 1976 auf sein Schloss in der Bretagne zog. Die bekannten Sprüche, die Lagerfeld seiner Mutter nach ihrem Tod zuschrieb, werden im Buch zwar zitiert, aber zugleich kritisch hinterfragt: "Deine Nase ist wie eine Kartoffel. Und du solltest Vorhänge für die Nasenlöcher bestellen!" - "Sprich bitte schneller, damit du mit dem Stuss, den du redest, bald zu Ende kommst." - "Mit so dicken Fingern solltest du nie im Leben rauchen oder Klavier spielen." Kaiser fragt, was Lagerfeld damit seinem Publikum sagen wollte? Sollte die Mutter böse erscheinen, um sich selbst besser darzustellen oder sich zu befreien?
Vieles hat Kaiser aus den Briefen erfahren, die Elisabeth Lagerfeld ihrer Schwester Felicitas schrieb. Gefunden hat er sie bei Karl Lagerfelds Neffen zweiten Grades, der in Florida lebt. Kaiser stieß auch auf die Nichte von Karl Lagerfeld, die Tochter seiner Halbschwester (Jahrgang 1944), die ihm viel über die 50er-Jahre erzählen konnte, in der Karl Lagerfeld nach Paris ging, wo er seine „Wahlverwandtschaft“ fand. Mit seiner eigenen Familie war er nicht sehr freundlich gestimmt: so hatte sein Cousin, der bei Glücksklee (der Firma seines Vaters arbeitete), einmal das wahre Alter von Karl Lagerfeld bezeugt. Das nahm er ihm so übel, dass er schlecht über seine Herkunft sprach. Beim Thema Alter stellt Kaiser mehrere Interpretationsmöglichkeiten nebeneinander: Machte er sich fünf Jahre jünger wegen der Konkurrenz zu Yves Saint Laurent? Wollte er nicht im Jahr der Machtergreifung der Nazis geboren sein? Oder war es der Jugenddruck in der Modeszene?
Dabei war Lagerfeld ein zeitloses Wesen. Sein Markenzeichen war ein weißer Mozartzopf, ein steifer Vatermörderkragen, Ringe an jedem Finger, eine dunkle Sonnenbrille und Autofahrerhandschuhe, die ihn vor Berührung schützten (Handschuhe, deren Finger abgeschnitten sind, muss man bei der Begrüßung nicht ausziehen).
Er mochte die Gedichtzeile des Weltpoeten und Orientalisten Friedrich Rückert, die Gustav Mahler vertont hat: „Ich bin der Welt abhandengekommen.“
Da er sich nicht mit sich selbst auseinandersetzen wollte, konnte er all seine Energien auf seine Arbeit konzentrieren. Tugenden wie Haltung, Fleiß, Disziplin, Pflichterfüllung sowie ständige Übung und Verbesserung waren ihm wichtig. Nie ruhte sich der Gedankenreiche in vielen Feldern Bewanderte auf vergangenen Erfolgen aus. Als künstlerischer Direktor von Chanel (seit 1982), Fendi (seit 1965) und Karl Lagerfeld (seit 1984) wurde er zu einem der wichtigsten Akteure der internationalen Modewelt, der selbst mit Massenmarken wie H&M - für das schwedische Modehaus kreierte er zur Herbstkollektion 2004 eine exklusive und preiswerte Modelinie für Damen und Herren - oder Opel keine Berührungspunkte kannte.
Er förderte Menschen großzügig, aber saugte sie auch aus „und forderte sie teilweise extrem“. Wenn sie begannen, ihn zu langweilten, oder er spürte, dass sie die Lust verloren, wandte er sich anderen Menschen zu. Aber nicht nur Bindungen wechselte er häufig, sondern auch Wohnungen und neue Stile. "Alle Antennen raus", sagte er einmal zu Alfons Kaiser. Wie eine Satellitenschüssel empfing er alles, nahm es auf und verarbeitete Erlebtes und Erlesenes, um es dann auf seine Art wiederzugeben. Es ging durch ihn hindurch und fügte sich zu etwas Neuem. Schien die Quelle durch einige Stellen hindurch, war das die größte Wertschätzung an den Urheber. Lagerfeld interessierte alles: Er ging nie nur in eine Richtung und hielt sich „alle Türen offen“. Das machte ihn zum Inbegriff von Kreativität, Universalbildung und Esprit.
Weiterführende Literatur:
Alfons Kaiser: Karl Lagerfeld: Ein Deutscher in Paris. Verlag C.H.Beck, München 2020.
Nicole Simon (Fotografie) und Alexandra Hildebrandt (Text): KARL. Reflections. Kindle Edition 2020.