Die Kunst der Selbstinszenierung: Was wir im Selfie-Zeitalter von Rembrandt lernen können
Das „Selbst“ steht heute immer mehr im Vordergrund, kritisiert die Fotokünstlerin Nicole Simon das ständige Inszenieren und Fotografieren mit uns. „Es vermittelt uns die Illusion, in einer anderen Welt zu sein. Deshalb besteht die Gefahr, dass man den Kontakt zur Realität verliert und sich nicht mehr um seine Mitmenschen kümmert, sondern sich mental isoliert.“ Früher wurden aus dem Urlaub Postkarten geschickt, auf denen verschiedene Natur- oder Kulturmotive zu sehen waren. Heute versenden viele Menschen ein Foto, auf dem sie selbst zu sehen sind. Sind wir zu narzisstischen Egomanen geworden? „Der Eindruck kann leicht entstehen“, sagt die Fotografin, die den letzten Kunsthandwerker des 21. Jahrhunderts, Karl Lagerfeld, auch für seine „Karlismen“ bewundert, weil er die Dinge beim Namen nannte: "Das Kinn sieht zu riesig aus, der Kopf zu klein. Selfies sind elektronische Masturbation", sagte er einmal. Nicole Simon würde es zwar anders formulieren, aber Lagerfeld hatte Recht: „Optisch sind Handy-Selfies wahrlich kein Augenschmaus.“ Interessant ist, dass sich im Selfie-Zeitalter die Kunstform des Porträts so hartnäckig hält. Ein gutes Porträt zeichnet sich für Nicole Simon durch eine authentische, lebendige Aufnahme aus, „die mit mir spricht und mich zum Stehenbleiben und Nachdenken bewegt, die in meiner Erinnerung bleibt, und ich mir diese deswegen immer wieder anschauen möchte auch noch in 100 Jahren.“
Die emotionale Tiefe, auf die sie verweist, findet sich schon in der alten niederländischen Malerei. Wir können unser Auge schulen, indem wir lernen, sie intensiv zu betrachten und darin zu lesen. Das goldene Zeitalter der niederländischen Malerei brachte einige der größten Künstler und Kunsthandwerker aller Zeiten hervor, allerdings besaßen nur wenige das Genie des Rembrandt Harmenszoon van Rijn (1606–1669), der einige der vielgestaltigsten und wirkungsvollsten Werke der Kunstgeschichte auf den Gebieten der Porträt-, Landschafts- und Genremalerei, sowie der Darstellung biblischer und allegorischer Szenen schuf. Am bemerkenswertesten sind seine Selbstbildnisse. Niemand vor ihm malte so viele wie er: Von seiner Jugend bis ein Jahr vor seinem Tod erlauben Rembrandts Eigenporträts einen intimen Einblick in seine lebenslange Selbstbetrachtung. Seine Selbstporträts zeigen, wie der Künstler sich sah (mal erstaunt und fragend) oder wie er gesehen werden wollte (selbstsicher, erhaben).
Die Abbilder seiner selbst zeugen vom Spiel mit Identitäten - ob als verschmitzter junger Mann, mit Goldkette, an der Staffelei, in Arbeitskleidung, in der Pose des Soldaten oder Orientalen, im biblischen oder mythologischen Gewand, mal als Melancholiker an der Staffelei, dann wieder als Bürger im Sonntagsstaat. Es waren „Iche“, kein „Ich“.
Die „Selfies“ von damals waren allerdings mehr als simple narzisstischen Selbstinszenierungen (sie waren Kunst), auch wenn sie der Stärkung der Marke Rembrandt dienten, denn der Künstler brachte sich durchaus als Produkt auf den Markt: "Ein Beleg dafür ist, dass schon frühzeitig seine Selbstporträts in Sammlungen auftauchten, im Inventar seines Bankrotts fand sich aber keines. Er hat sie also nicht behalten, sondern alle verkauft", sagt Volker Manuth, der Kunstgeschichte, Philosophie und Klassische Archäologie in Kiel, Bonn und Berlin studierte. Er promovierte 1987 an der Freien Universität Berlin über die Ikonographie der Historien des Alten Testaments bei Rembrandt und seiner frühen Amsterdamer Schule. Seit 2003 ist er Professor für Kunstgeschichte an der Radboud Universität in Nimwegen (Niederlande). Zu Rembrandts 350. Todestag am 4. Oktober hat er gemeinsam mit Marieke de Winkel ein beeindruckendes Werkverzeichnis herausgegeben. Einer der drei Bände enthält ausschließlich Selbstporträts. Rembrandts Schüler kopierten sie in seiner Werkstatt in Öl. Die Radierungen und Kupferstiche waren von Beginn an auf Reproduktion angelegt und wurden als Eigenwerbung in hoher Auflage gedruckt, denn schon damals mussten Künstler Wege finden, um in der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden.
Die Hochzeit mit der wohlhabenden Bürgermeistertochter Saskia van Uylenburgh brachte Rembrandt zunächst Ruhm und viele Aufträge. Von seinen vier Kinder starben drei von ihnen früh. Seine Frau starb bald an Tuberkulose. Rembrandt fiel in eine Sinn- und Schaffenskrise, die ihn sein gesamtes Vermögen kostete. Sein letztes Jahrzehnt verbrachte er in völliger Armut. In dieser Zeit malte er zwar noch einige Selbstporträts, doch interessierte er sich vor allem für Physiognomie. Rembrandt schuf über 80 Selbstdarstellungen in Form von Gemälden, Radierungen und Zeichnungen – mehr als jeder andere Künstler vor ihm. Anlässlich des 350. Todestages des Künstlers präsentiert der im Taschen Verlag erschienene Band „Rembrandt. Die Selbstporträts“ erste Werke, die er im Alter von 22 schuf, bis zum letzten Bildnis, das kurz vor seinem Tod 1669 in Den Haag entstand. Rembrandt blickt müde in den Spiegel und zeigt auf seinem letzten „Selfie“, wie er wirklich war.
Literatur:
Volker Manuth, Marieke de Winkel: Rembrandt. Die Selbstporträts. TASCHEN Verlag, Köln 2019.
Nicole Simon: Wirklichkeit in Bildern. In: Visionäre von heute – Gestalter von morgen. Inspirationen und Impulse für Unternehmer. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2018, S. 275-303.