Die Teilzeit muss weg vom Mutti-Image!
Der Teilzeit-Karriere haftet immer noch das Klischee der Jobs für Mütter oder Low-Performer an. Wer sich heute außerhalb der Stereotype entscheidet, weniger zu arbeiten, kommt bei der Jobsuche in Rechtfertigungsnot.
Dies in einer Zeit, in der über die Forderung einer 30-Stunden-Woche diskutiert wird und darüber, dass sie sogar zu höherer Produktivität führt. In einer Zeit von Arbeit 4.0 und der Frage, wohin uns die Digitalisierung führen wird. Es klafft eine Lücke zwischen vermeintlicher Offenheit für neue Karriere-Modelle und heute gelebter Recruiting-Praxis sowie auch der Haltung von Bewerbern.
Warum wir zu einem weitsichtigeren Karriere-Denken und zu Arbeitszeitmodellen über Klischees und Norm hinaus finden müssen und was Bewerber bei der Suche nach Teilzeit-Jobs tun können:
Arbeitszeit: Darf’s auch ein bisschen weniger sein?
Julia ist Ingenieurin und Ende Dreißig. Sie erklärt mir, sie habe einige Jahre massig Überstunden geleistet und oftmals auch die Wochenenden durchgearbeitet. Doch sie habe festgestellt, dass sie im Vergleich zu früher sogar deutlich leistungsfähiger ist, wenn sie etwas weniger arbeitet. Es sei ihr wichtig, neben dem Beruf Freiräume für andere Dinge zu besitzen, die ihr im Leben wichtig sind, und ihr Kraft für den nächsten Tag im Job geben. Sie suche daher seit Monaten gezielt nach Teilzeit-Positionen, bekomme jedoch nur Absagen. Trotz guter Ausbildung, hervorragender Zeugnisse und einigen Jahren Berufserfahrung bei namhaften Arbeitgebern.
Diese sehr reflektierte Entscheidung, bewusst weniger zu arbeiten, begegnet mir in der Karriere-Beratung immer öfter. Meist bei berufserfahrenen Arbeitnehmern, die nicht weiter nach oben streben, doch vermehrt auch bei jungen Angestellten. Menschen, denen Wettbewerb, das volle Bankkonto oder der gut klingende Job-Titel als Statussymbol nicht wichtig sind. Die ihr Leben ganzheitlich sehen und früher solche Ziele auch in ihrer Freizeit verfolgen möchten, die sich ihre Elterngeneration erst im Ruhestand spät oder gar nicht mehr erfüllt hat.
So wie Julia mit ihrem bewussten Teilzeit-Wunsch hat es heute auch jeder Bewerber schwer, der als Downshifter in der beruflichen Entwicklung einen Schritt zurück auf der Karriereleiter gehen möchte und die Fragezeichen im Kopf von Personalern oder künftigen Chefs beantworten muss, um nicht gleich in der anrüchigen Low-Performer-Schublade zu landen.
Teilzeit: Nur etwas für Mütter und Low-Performer?
Die Teilzeitquote bei Frauen mit minderjährigen Kindern im Haushalt lag 2015 bei 68 Prozent, bei Männern mit Kindern bei knapp 6 Prozent (Statista). Dieses Ungleichgewicht möchte ich hier gar nicht bewerten, das ist ein anderes Thema. Auch nicht, dass Frauen heute immer noch Nachteile in Sachen Berufswahl, Gehalt und Karriere-Entwicklung haben.
Aber klar, jede Frau mit Kind, die sich auf eine Teilzeit-Stelle bewirbt, wird nicht wie Julia kritisch beäugt und gefragt, warum sie keinen Vollzeitjob schafft. Es ist normal. Ebenso bei Bewerbern mit einem bestimmten Grad der Behinderung oder bekannter Krankenvorgeschichte. Die Motive von Bewerbern für eine Teilzeit-Entscheidung sind in solchen Fällen für Arbeitgeber leicht nachvollziehbar und zudem in der Gesellschaft anerkannt.
Die Überlegungen von Ingenieurin Julia hingegen sind (noch) nicht normal. Sie entsprechen heute nicht dem gesellschaftlichen Bild von Karriere. Wer gesund und leistungsfähig ist, keine Kinder hat und auch keine Million im Lotto gewonnen hat, der kann und muss bitteschön Vollzeit arbeiten. So die landläufige Meinung – zumindest in weiten Teilen unseres doch so toleranten Arbeitsmarktes.
Abweichungen von der Norm erzeugen Unsicherheit, Angst und in der Folge Distanz oder sofortige Ablehnung. Und scheinbar interessiert sich in ihrem Fall auch kaum jemand dafür, ihr anderes Bild zu verstehen.
Die Idee, weniger zu arbeiten, um produktiver zu sein, widerspricht zudem unserer in Deutschland immer noch gelebten Präsenzkultur als sichtbares Zeichen für gute Arbeit durch hohen Zeiteinsatz menschlicher Ressourcen. Weniger arbeiten und mehr leisten? - Unvorstellbar!
Oder ist es schlicht zu anstrengend, die individuelle Sichtweise von Arbeitnehmern und Bewerbern zu begreifen, die sich bewusst außerhalb der Norm für eine Teilzeit-Position entscheiden? Ist am Ende die Gefahr zu groß, dass eine Bewerberin wie Julia ein falsches Spiel spielt und sich die Einstellung als Mitarbeiterin doch als große Fehlentscheidung entpuppen könnte? Dann doch lieber die Teilzeit-Stelle mit einer echten Mutter besetzen und auf Nummer Sicher gehen.
Neues Karrieredenken abseits von Klischee und Norm
Julia ist mit ihrer gesunden Haltung gegenüber Beruf und Leben heute kein Einzelfall mehr, der im Arbeitsmarkt vernachlässigbar ist. Ich frage mich, wie lange es sich Arbeitgeber, die lautstark einen mysteriösen Fachkräftemangel beklagen, noch leisten können, solche guten Bewerber, die jedoch nicht in das altbekannte Karriere-Denkraster passen, blindlings im Recruiting zu ignorieren?
Bewerber, in deren Lebensläufen kein roter, sondern ein knallbunter Faden mit Knoten und Fransen verläuft. Menschen, die in ihrer beruflichen Laufbahn Entscheidungen getroffen haben, die nicht Mainstream sind. Jobwechsler 50+, die in der Blüte ihres beruflichen Lebens noch einmal etwas anderes tun möchten, bei dem sie ihre Stärken und Talente richtig einbringen können. Generalisten, die als Alleskönner auf keine Stellenbeschreibung so richtig passen. Oder junge Menschen wie Julia, die gerne arbeiten sowie ihr Wissen und ihre Erfahrungen gut dosiert in 25 oder 30 Stunden pro Woche motiviert einsetzen möchten, und die vielleicht sogar produktiver sind als ein Überstunden zählender und teurerer Vollzeit-Absitzer.
"Wat de Buer nich kennt, dat frett he nich." An diesen Spruch aus meiner Kindheit muss ich denken, wenn mir außergewöhnliche Bewerber im Coaching gegenüber sitzen, die trotz hoher Qualifikation, beeindruckender Berufserfahrung und sauberen Bewerbungsunterlagen einfach keine Stelle finden. Bewerber, die für Recruiter schlecht greifbar sind, weil sie mit ihrem Werdegang oder ihrer Haltung nicht der gewohnten Norm entsprechen.
Wer im Recruiting auf Norm setzt, wird im Mittelmaß verharren. Wer neues Karriere-Denken zulässt, wird höhere Entwicklungsstufen erreichen.
Bewerberin Julia habe ich geraten, Arbeitgeber mit ihren alten Bedenken im Kopf offen in der Ansprache zu konfrontieren. Bereits im Anschreiben Klarheit zu schaffen, zu welcher Erkenntnis sie für ihr Leben gelangt ist und warum es ihr so wichtig ist, etwas weniger als Vollzeit zu arbeiten, und auch, dass dieses Bewusstsein für ihren neuen Arbeitgeber von Vorteil ist. Nicht länger aus einer Rechtfertigungshaltung heraus, sondern selbstbewusst als Chefin ihres eigenen Lebens.
Oder muss sie erst schwanger werden, um ihren Traum vom Teilzeit-Job realisieren zu dürfen?