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Coverausschnitt: Karl-Markus Gauß: Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer (Zsolany). - Paul Zsolnay Verlag

Die Welt als großes Zimmer: Schreibend dem Geheimnis der Dinge folgen …

„Ach, so viele Dinge galt es zu würdigen, an so viele Menschen zu erinnern, so vielen Schicksalen nachzuspüren! Ich wollte durch meine Zimmer reisen, und doch hatte ich das Gefühl, vor einer Weltreise zu stehen.“ Karl-Markus Gauß

Vielleicht beschäftigt uns das Thema Dinge heute deshalb verstärkt, weil wir häufig die Kontrolle über viele Aspekte unseres Lebens verloren haben.

Die Vorliebe für kleine Dinge und Details sind heute ein letzter Rest, der eine Gegenmacht zur Rationalisierung der Gesellschaft darstellt. Das Interesse am Ding-Thema zeigt sich nicht nur an der Beliebtheit von TV-Sendungen wie „Bares für Rares“, sondern auch an der steigenden Zahl von Dingausstellungen, -geschichten und –forschungen. 2017 war beispielsweise im Münchener Literaturhaus die Ausstellung „‘Der ewige Stenz‘. Helmut Dietl und sein München“ zu sehen. Die Witwe des Regisseurs, Tamara Dietl, entdeckte im Nachlass ihres Mannes etliche persönliche Dinge wie Briefe, Notizbücher, Korken von Weinflaschen, Flugtickets und Koffer. Aber auch die beiden mechanischen Schreibmaschinen, auf denen er geschrieben hat, sowie runtergespitzte Bleistifte, „mit denen er seine Drehbücher skizzierte, ob für ‚Kir Royal‘, ‚Monaco Franze‘, ‚Münchner Geschichten‘ oder ‚Rossini‘, sind noch mehr als 200 da.“ Nach dem Tod des Regisseurs, der eine Sammelwut hatte, begann seine Frau, den Nachlass zu sichten, was für sie auch noch einmal eine Art Aufbewahren war.

Geschichten, die nie erzählt worden sind

Für den österreichischen Schriftsteller Karl-Markus Gauß haben Dinge ebenfalls eine tiefere Bedeutung, weil sie mit Erinnerungen und Geschichten aufgeladen sind. Bleistifte reiht er „dicht an dicht und stets gespitzt in einer blechernen Büchse“ auf dem Aufsatz seines alten Schreibtisches auf, „als müssten sie allezeit dienstbereit strammstehen“. Sind sie ins Alter gekommen und zu Stummeln geschrumpft, steckt er sie in Halter, damit er mit ihnen noch eine Zeit lang weiterschreiben kann, „während andere, ohne bedankt worden zu sein, nicht im Ehrenhain der Schreibgeräte ihre Ruhestätte fanden, sondern im Mistkübel gelandet sind.“

Karl-Markus Gauß, Jahrgang 1954 in Salzburg, lebt hier als Autor und Herausgeber der Zeitschrift Literatur und Kritik. Seine Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt und häufig ausgezeichnet, darunter mit dem Prix Charles Veillon, dem Johann-Heinrich-Merck-Preis und dem Jean-Améry-Preis. Im Zsolnay Verlag erschienen „Der Alltag der Welt“ (2015), „Zwanzig Lewa oder tot“ (2017). In seinem aktuellen Buch „Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer“ folgt er einigen Gegenständen in seiner Wohnung. Literarisches Vorbild ist der Franzose Xavier de Maistre, der 1795 eine „Voyage autour de ma chambre“ schrieb. Es handelt von der Reise durch jenes Zimmer, das er für 42 Tage nicht verlassen durfte. Er war 27 Jahre alt, als er wegen eines Duells zu Hausarrest verurteilt wurde und sich entschloss, das Beste aus der Bestrafung zu machen und sich dem weiten Raum seiner Phantasie und seinen Erinnerungen zu überlassen. Er beschrieb einfache Gegenstände und bewegte sich dabei unsystematisch hin und her.

Die Wohnung von Karl-Markus Gauß liegt in den beiden oberen Etagen eines 1896 gebauten Salzburger Hauses, das von der vierköpfigen Familie 1994 bezogen wurde. Die Fensterscheiben haben auch den zweiten Weltkrieg überstanden: Im Herbst 1944, als Salzburg von der Luftwaffe der Alliierten angegriffen wurde, fiel eine Bombe in das Wohngebiet, gkaum hundert Meter von diesem Haus entfernt: „Unsere Fenster aber blieben unversehrt, all die 120 Jahre ist ihr Glas nicht in Bruch gegangen. Dieses Fensterglas ist erzeugt worden, noch ehe die Industrie so weit war, völlig gleichförmige Scheiben herstellen zu können.“

Der ausgebaute Dachboden ist mit Holz verschalt und läuft spitz zu. Es entsteht der Eindruck eines Schiffsbauchs, dessen Kiellinie über dem Haupt des Betrachters verläuft. „Oben im Unterdeck“ schaut man durch lukenartige Fenster. Hinter der Tür führt rechts eine Holztreppe hinauf in den dunklen Bauch des Schiffes. Dort lichtete Gauß die Anker. Eine zentrale Bedeutung hat dabei sein Schreibtisch im „Unterdeck“ der Wohnung. Er ist zwischen 1870 und 1890 getischlert worden. „Nirgendwo herrscht so unangefochten die strengste Ordnung“ seiner Unordnung wie hier. Seine familiären Spurensuchen machen die Zimmerreise zugleich zu einem ungewöhnlichen Geschichtsbuch. Die kleinen Dinge des Lebens hängen mit der großen Geschichte zusammen und umgekehrt.

Auch das Thema Nachhaltigkeit wird in all seinen Facetten reflektiert. So setzt er Joe Kemptner, einer der Pioniere der ökosozialen Bewegung Österreichs „Philosoph des Klimaschutzes“, mit diesem Buch ein literarisches Denkmal. Er war sieben Jahre älter als Gauß. Er kannte niemanden, „der gelassener gestorben ist als er, der über Monate immer schwächer und schwächer wurde und am Ende das Bett fast nicht mehr verlassen konnte, so ausgekargt hatte ihn der Krebs.“ Immer möchte Gauß etwas, das gerade dabei ist zu verschwinden, ins Gedächtnis retten. Dazu gehören auch Aschenbecher, Betten, Duschhauben, Hemden, Koffer, Tabakkästchen, Koffer oder Uhren. Zu Beginn widmet er sich einem alten Brieföffner mit der Aufschrift „Eternit-Schiefer“, der immer schon im Haus war. Lange Zeit verwendete er ihn, ohne auf die Schriftzüge am Griff zu achten oder sich zu fragen, „was diese mit dem Werkzeug zu tun haben.“ Die essayistische Herangehensweise an die Dinge stärkt zugleich auch das Zutrauen der Leser, sich der Welt intensiv zuzuwenden, wenn sie ihnen ihre Geheimnisse offenbaren soll.

Literatur:

Karl-Markus Gauß: Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2019.

Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Von Lebensdingen: Eine verantwortungsvolle Auswahl. Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2017.

Kommentare

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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