Die Welt als Spielmasse: Warum Knete im Zeitalter der Digitalisierung Kult-Material ist
Das Gegenteil digitaler Perfektion
Der Trend zu haptischen Themen ist vermutlich ein Reflex auf die Digitalisierung, die unseren Lebens- und Arbeitsalltag prägt. Ohne Tastsinn wären wir nicht lebensfähig, auch ein gesundes Maß an Experimentierfreudigkeit und Neugier spielen eine wichtige Rolle. Für den Philosophen Friedrich Nietzsche stellte Neugier einen der mächtigsten Antriebe des modernen Menschen dar: Sie war für ihn nicht nur Teil der anthropologischen Grundausstattung, sondern auch notwendige Bedingung für das Glück.
Das neue „Kult“-Material Knete unterstützt uns darin, uns nicht nur selbst zu denken, sondern vor allem zu fühlen. Schon kleine Kinder können damit ihre Umwelt nachbilden oder Fantasieskulpturen formen und ihrer Kreativität freien Lauf lassen. Mithilfe von Knetgummi oder Knetbienenwachs werden ihr Formgefühl und ihre Fingerfertigkeit sowie ihre Feinmotorik gefördert. Der Kult verdankt sich auch dem britischen Animationsstudio Aardman mit seinen handgekneteten Stop-Motion-Filmen („Wallace & Gromit“, „Shaun, das Schaf“). Für seine Knetfilmwerke wurde der britische Trickfilmregisseur Nick Park bereits mit vier Oscars ausgezeichnet. Im Interview mit der Süddeutschen Zeitung sagte er, dass er es liebe, „wenn man auf unseren Figuren noch die Fingerabdrücke der Animatoren sieht.“
Vor einigen Jahren kam Robert Henle auf die Idee, Anleitungen für Knetfiguren ins Internet zu stellen. Seine Tochter Miley brachte ihn darauf, weil sie solche Videos selbst begeistert anschaute. Da sie allerdings alle nur auf Englisch waren, vermutete er eine Marktlücke und eine Möglichkeit, damit Geld zu verdienen. Bereits neun Monate nach dem Start, im Herbst 2014, traten auch seine Tochter, später seine Frau und sein Sohn vor die Kamera. Heute wird die Familie, die ihren Alltag öffentlich zur Schau stellt, komplett von YouTube finanziert. Miley avancierte inzwischen mit ihrem Kanal "Mileys Welt" (vorher "Cute Baby Miley") zum YouTube-Star. Die „Knete“ stimmt.
Nachhaltige Spielmasse
Es gibt aber noch einen anderen Aspekt, der zwar weniger im Fokus der monetären Aufmerksamkeit in Zeiten der Digitalisierung steht, aber nicht minder wichtig ist: die Nachhaltigkeit. Denn vor allem biologische Öko-Knete, die zu 100 % aus nachwachsenden Rohstoffen gefertigt ist, ist ein wertvoller Werkstoff für Kinder. Mit diesen bunt eingefärbten und leicht formbaren Naturprodukten können sie gefahrlos gestalten und modellieren, weil sie hygienisch einwandfrei, schadstofffrei und gesundheitsverträglich sind. Sie färben nicht ab, schmieren nicht und sind unbegrenzt haltbar (ökoNORM). In ihren Bestandteilen sind sie kompostier- oder recyclebar, sparsam im Verbrauch und schlicht in der Verpackung.
Online-Plattformen zum Thema nachhaltiges Basteln sind u.a. Grüne Helden, Nachhaltig einkaufen, Utopia oder memolife. Hier gibt es neben Knete auch Kreide und Fingerfarben, die die Motorik und Vorstellungskraft von Kindern schulen. Wer Knete selbst herstellen möchte, kann zu Mehl, Wasser, Speiseöl, Zucker oder Salz greifen und alles in einem Topf mit einem Rührgerät vermengen sowie ein paar Tropen Lebensmittelfarbe hinzugeben. Stefan Schmitt verweist neben diesem Knetteig-Rezept in seinem ZEIT-Artikel „Mach mir die Knete!“ http://www.zeit.de/2018/13/experimente-kinder-knete noch auf einen Kniff: Der eine Klumpen kann mit Wasser und Zitronensaft angerührt werden, der andere mit destilliertem Wasser - schon hat man eine leitende und isolierende Knete. Kinder können Stromkreise in unterschiedlicher Gestalt formen. Auf solche pädagogischen „Versuchsanordnungen“ setzen nicht nur Eltern und Bildungsinstitutionen, sondern auch Unternehmen. So zeigte die Mader GmbH & Co. KG im Rahmen eines Aktionstages zur Klimaschutz-Woche Schülerinnen und Schülern, wie sie Strom aus Zitronen gewinnen.
Die Kinder der „digitalen Großmeister“ lernen im Silicon Valley, wo Walldorfschulen derzeit einen Boom erleben, „ohne Bildschirme, aber mit viel physischer und menschlicher Interaktion, handwerkliches Arbeiten“ – durch Basteln. Sie beschriften Wandtafeln mit farbiger Kreide, können in Bücherregalen stöbern und erhalten Bastelmaterial mit Anleitungen. Leider gibt es für das deutsche Wort Basteln im Englischen keine Entsprechung. Do it yourself wird der Bedeutung nicht gerecht. In seinem Buch „Analog ist das neue Bio“ plädiert Andre Wilkens deshalb dafür, das Wort zu internationalisieren, denn das Bedürfnis, dass Menschen trotz fortschreitender Digitalisierung ihre Hände benutzen wollen, wächst weltweit. Selbstbauen ist überall cool. Ein bisschen Nostalgie spielt hier sicher auch mit hinein.
Weiterführende Informationen:
CSR und Digitalisierung. Der digitale Wandel als Chance und Herausforderung für Wirtschaft und Gesellschaft. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Landhäußer. SpringerGabler Verlag, Heidelberg Berlin 2017.
Marie-Charlotte Maas: Mileys Geburtstagsparty: 1,7 Millionen Aufrufe. In: DIE ZEIT (2.3.2018), S. 70.
Stefan Schmitt: Mach mir die Knete! In: DIE ZEIT (22.3.2018), S. 71.
Claudia Silber und Alexandra Hildebrandt: Gut zu wissen... wie es grüner geht: Die wichtigsten Tipps für ein bewusstes Leben Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2017.
Claudia Silber und Alexandra Hildebrandt: Von Lebensdingen: Eine verantwortungsvolle Auswahl. Amazon Media EU S.à r.l. 2017.
Andre Wilkens: Analog ist das neue Bio. Metrolit Verlag 2015.