Effektiv mit Stress umgehen: Angst ist keine Schwäche
Im Gespräch mit Henrik Grobe, psychologischer Psychotherapeut bei Caspar Health
Henrik Grobe: Angst ist zunächst einmal ein überlebensnotwendiges Gefühl. Begleitet wird die Angst von einer körperlichen Stressreaktion, welche unseren Körper in höchste Leistungsbereitschaft versetzt und damit vor Gefahren schützt. Dieser Ur-Instinkt, diese heftige Emotion, ist der Grund dafür, dass wir als Spezies überlebt haben. Hätten wir keine Angst gehabt vor dem Säbelzahntiger, dann gäbe es uns vermutlich nicht mehr. Daher ist es eigentlich paradox, dass die heutigen Menschen die Beziehung zur eigenen Angst verlernt haben. In unserer Gesellschaft wird vorgegaukelt, man müsse sich ausschließlich mit angenehmen Gefühlen umgeben. Aber unangenehme Emotionen gehören auch zum Leben dazu.
Henrik Grobe: Nehmen wir an, ich bin in der Stadt unterwegs und ein Radfahrer kommt auf mich zu gerast. Den nehme ich als bedrohlich wahr, weil ich die Situation zunächst nicht einschätzen kann. Mein Körper reagiert mit Alarmbereitschaft. Unser Nervensystem, in dem Fall der Sympathikus, sorgt dafür, dass unser Herz schneller schlägt und die Atmung beschleunigt wird. Der Körper soll möglichst schnell mobilisiert werden, um eine passende Handlung vorzubereiten. Parallel dazu findet eine Analyse in unserem Gehirn statt. Jetzt wird überprüft, inwiefern ich der Situation gewachsen bin, ob ein Risiko für mich besteht. Bin ich tatsächlich in Gefahr wird das Gefühl der Angst ausgelöst, welches mich dann motiviert, zur Seite zu springen. Die unspezifische Stressreaktion wird durch Analyse zur Angst.
Das war jetzt nur ein Paradebeispiel, um den Mechanismus zu verstehen. Es gibt natürlich unglaublich viele verschiedene Reize, die Angst in uns auslösen können. Reale Bedrohungen oder solche, die nur in unserer Vorstellung existieren. Das Bedürfnis der Menschen nach Kontrolle ist zwar unterschiedlich ausgeprägt, aber wenn wir uns einer Situation ausgesetzt fühlen, die wir nicht beeinflussen können, dann löst das Unsicherheiten aus, Belastung, Stress.
Henrik Grobe: Ein Großteil von uns, mich eingeschlossen, hat ja so eine Ausnahmesituation noch nie erlebt. Sie traf uns alle absolut unvorbereitet und hat uns Einschränkungen aufgezwungen, die wir nicht gewöhnt waren. Das hat zu einschneidenden Veränderungen geführt, an die wir uns schnell anpassen mussten. Und genau diese Anpassungsleistung führt zu einer ungeheuren Belastung, zu Kontrollverlust und löst erhöhten Stress aus. In welchem Maße, das ist u.a. abhängig davon, welche Ressourcen ein Mensch zur Verfügung hat und wann die Schwellensituation eintritt, die das berühmte Fass zum Überlaufen bringt. Als Folge kann es zum Ausbruch von psychischen Erkrankungen kommen. Es wird sicher im Nachhinein viele Studien geben, die beschreiben, wie sich diese Pandemie auf die psychische und körperliche Gesundheit der Menschen ausgewirkt hat.
Henrik Grobe: Das ist eine sehr schwierige Frage, weil dabei natürlich immer der persönliche Leidensdruck eine Rolle spielt. Allgemein könnte man sagen, Angst wird dann zur Krankheit, wenn sie unangemessen stark ist, zu häufig und zu lange auftritt, und als unkontrollierbar erlebt wird. Wenn ein Mensch aufgrund seiner Ängste nicht mehr in der Lage ist, seinen Alltag zu bestreiten.
Henrik Grobe: Zum einen sind es Lernerfahrungen, die wir alle im Laufe unseres Lebens machen und die uns zum Umgang mit dem Angstgefühl befähigen. Genetik spielt dabei aber ebenso eine Rolle wie das Vorbild der Eltern, die mit einem ängstlichen Erziehungsstil vielleicht den Grundstein gelegt haben, dass wir mit dramatischen Situationen nicht gut umgehen können. Es sind im Grunde so viele Einflussfaktoren, dass wir von einem Multi Factor Model sprechen und nie wirklich der einen oder der anderen Ursache die Verantwortung für die Angst zuschreiben können.
Henrik Grobe: Bei solchen Themen in den Medien geht es ja meist um Selbstoptimierung und die Frage: Wie werde ich glücklich, zufrieden und selbstbewusst? Dabei beschäftigt sich doch aber niemand tiefgehend mit den eigenen Gefühlen. Wer weiß schon, wie sie entstehen, wofür sie gut sind und weshalb sie überhaupt auftreten? Sehr viele Menschen haben es nicht gelernt, ihre Gefühle zu erkennen, sie halten ihre Gedanken für Gefühle. Hinzu kommt die Schwierigkeit, adäquat ausdrücken zu können, was man empfindet.
Henrik Grobe: Psychoedukation ist ein großer Bestandteil unserer Arbeit. Mit diesen Angeboten wollen wir Basiswissen über verschiedene psychische Leiden vermitteln, das in digitaler Form für ein wesentlich größeres Publikum aufbereitet werden kann, als würde man es nur face-to-face anbieten. In kurzen Videos vermitteln wir u.a. Wissen über Angst und psychische Erkrankungen, die mit Angst in Zusammenhang stehen, bieten Selbsthilfetechniken an und geben Empfehlungen, wie man mit seiner Angst umgehen kann. Der Vorteil ist, dass dafür niemand einen Termin beim Psychotherapeuten wahrnehmen muss, sondern sich anonym einen solchen Clip anschauen kann.
Henrik Grobe: Grundsätzlich sollte man seine Gefühle wertschätzen und anerkennend betrachten, auch die Angst. Die wird von vielen Menschen als ein Monster empfunden, als ein riesiges Etwas, das sich auf sie stürzt. Es wäre schonmal der erste Schritt, das „Monster“ nicht loswerden zu wollen, sondern es an die Hand zu nehmen und festzustellen, dass es eigentlich ein sehr wertvoller Begleiter ist. Der Umgang mit Emotionen sollte grundsätzlich einem bestimmten Muster folgen: Nimm das Gefühl wahr. Begrüße es freundlich. Erkenne es an. Und ziehe in Erwägung, das Gefühl zuzulassen statt es zu unterdrücken.
Tief ein- und ausatmen, die Atemzüge zählen. Gerade im Job ist das ein probates Mittel, um das Stresslevel herunterzufahren.Henrik Grobe, psychologischer Psychotherapeut bei Caspar Health
Angst tritt in einer ansteigenden Kurve auf, erreicht ihren Peak und schwillt dann wieder ab. Viele Menschen fürchten sich davor, dass die Angst ins Unermessliche steigt, aber unser Körper ist da sehr geschickt. Der Parasympathikus reguliert irgendwann dagegen und führt nach einer bestimmten Zeit zu einer Entspannungsreaktion. Ich kann also die Angst einfach mal ausschwingen lassen. Oder, um einen Skill aus der Dialektisch-Behavioralen Therapie einzubringen, ich kann die Angst aufmerksam ankommen lassen und dann auf der Welle der Emotion surfen.
Versuch auf andere Gedanken zu kommen und dich nicht ständig mit bestimmten bedrohlichen Szenarien zu beschäftigen. Dieses Gedankenkarussell, was alles noch Schlimmes passieren kann, unterbricht man am besten, wenn man sich selbst sagt: „Stopp!“ Werde dir bewusst, dass du im Hier und Jetzt bist. Fokussiere dich auf den Tag.
Da kommt dann auch das Thema Achtsamkeit ins Spiel. Das ist eine Haltung, in der ich aufmerksam wahrnehme, was geschieht, ohne es zu beeinflussen und zu bewerten. Stell dir vor, du lässt die Gedanken an dir vorbeiziehen wie auf einem Fluss, du kannst ihnen zuschauen, aber sie können dir nichts anhaben.
Körperliche Aktivität ist ein sehr wirksames Mittel, um Angst zu regulieren. Wenn wir Angst haben, ist unser Körper zusammengesunken, angespannt, wie eingefroren. Dann ist es wichtig, entgegengesetzt zu handeln, sich aufrecht hinzusetzen, sich zu bewegen. Damit lässt sich die Angst abschwächen.
Eine wichtige Rolle spielt auch die Atmung. Tief ein- und ausatmen, die Atemzüge zählen. Gerade im Job ist das ein probates Mittel, um das Stresslevel herunterzufahren. Unbedingt Pausen einlegen, positive Aktivitäten einbauen und sich auf den Atem konzentrieren. Das hat eine ungeheuer beruhigende Wirkung.
Ich will ja letztendlich verhindern, dass ich von der Angst in Verhaltensweisen getrieben werde, die schädlich für mich sind. Da hilft es innezuhalten, bis zehn zu zählen und mit der Emotion in den Dialog zu gehen. Beobachte dich erst, bevor du handelst.
Henrik Grobe: Also ich würde immer empfehlen darüber zu sprechen. Vielleicht gibt es im unmittelbaren Umfeld ja Menschen, die schon eine sinnvolle Strategie gefunden haben, mit ihren Ängsten umzugehen. Oder die schon einmal eine Therapie gemacht haben und davon berichten können. Austausch ist unglaublich wichtig. Darüber hinaus gibt es zahllose gute Angebote, zu denen jeder Zugang hat. Man kann sich Unterstützung suchen in psychotherapeutischen Sprechstunden, bei ambulanten Therapeuten oder sich auch erst einmal im Internet informieren bei Plattformen wie Caspar Health.
Henrik Grobe: Ja, ich fände schön, wenn es dazu kommen würde. Aber ich bezweifle, dass sich der Umgang damit so schnell verändert. Unangenehme Themen sind unangenehme Themen und manch einer möchte davon vielleicht auch gar nichts hören. Es braucht viel Mut von Einzelnen, um das Thema stärker in den Fokus zu rücken und es muss mehr Vorbilder geben, die dafür stehen, dass Angst nicht als Schwäche ausgelegt wird oder als Manko. Angst ist absolut keine Schwäche, sondern das Natürlichste auf der Welt. Wenn ich mich meinen eigenen Ängsten stellen kann – dann bin ich mutig.
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