Entscheiden: Manager brauchen kein Bauchgefühl, sondern Fakten
Die erfolgreichsten Manager agieren wie Wissenschaftler: Sie hinterfragen Annahmen, führen Experimente durch und stützen sich auf belastbare Daten.
Von Stefan Thomke und Gary W. Loveman
Tag für Tag treffen Manager Entscheidungen: über Produkte, Kunden, Gehälter, Ressourcen und vieles mehr. Meist stützen sie sich dabei auf Annahmen, die sie nie hinterfragt, geschweige denn überprüft haben.
„Mit dieser Methode habe ich immer Erfolg gehabt. Ich habe nie darüber nachgedacht, es anders zu machen.“ Derlei hören wir häufig, wenn wir Managerinnen und Manager fragen, warum sie an fehlerhaften Praktiken festgehalten haben. Oft brauchte es jemanden, der kritisch nachgehakt und gezeigt hat, dass das bisherige Vorgehen falsch, irreführend oder kostspielig war. Erst dann haben die Führungskräfte erkannt, wie wichtig es ist, Annahmen systematisch zu testen.
Nehmen wir zum Beispiel den US-Hotel- und Casinobetreiber Harrah’s Entertainment. Anfang der 2000er Jahre arbeitete einer von uns, Gary Loveman, dort als Chief Operating Officer (COO). Mit seinem Analytics-Team wollte er überprüfen, wie das Unternehmen Marketinganreize einsetzte. Bis dahin war das Management – wie der Rest der Branche – davon ausgegangen, dass vor allem finanzielle Anreize wie ermäßigte Zimmerpreise, Restaurantrabatte und Gutscheine für Einzelhandelsläden Gäste nach Las Vegas lockten – und dass mehr Anreize auch zu mehr Zimmerbuchungen führen würden. Gary wollte die Effizienz der Marketingausgaben steigern. Also testeten er und sein Team Maßnahme für Maßnahme rigoros auf ihre Wirksamkeit.
Als Volkswirt wusste Gary, wie wichtig es war, den Grenznutzen jedes einzelnen Marketingelements zu ermitteln, statt nur die geballte Wirkung aller Maßnahmen zu erfassen, wie es in der Branche üblich war. Mit Hunderten von Tests überprüfte sein Team, welche Anreize die Kunden tatsächlich dazu brachten, in den Hotels zu übernachten. Dabei fand es heraus, dass manche Anreize, etwa die Gutscheine für Einzelhandelsläden, praktisch keinen Einfluss auf die Buchungszahlen hatten. Das Unternehmen konnte sie also ersatzlos streichen. Mehr noch: Würde Harrah’s das so eingesparte Geld in wirksame Maßnahmen stecken, etwa in höhere Rabatte bei den Zimmerpreisen, könnte das Unternehmen sowohl die Resonanz bei den Gästen als auch seinen Gewinn steigern.
Im Jahr 2005 war Harrah’s so weit, auch andere strategische und operative Entscheidungen mithilfe von Experimenten zu verbessern. So hatte das Management immer angenommen, dass die Gäste beim All-you-can-eat-Buffet des „Caesars Palace“ lieber geordnet Schlange standen, als ein digitales Buchungssystem zu nutzen. Mit der digitalen Lösung hätten sie nach der Anmeldung zwar noch einmal das Gelände verlassen können, ohne ihren Platz zu verlieren. Doch das Schlangestehen hielten sie einfach für fairer und transparenter – vermutete zumindest das Hotelmanagement.
Ein Test zeigte jedoch: Wenn Gäste eine SMS erhielten, dass sie in zehn Minuten an der Reihe waren, bestellten sie sich häufig noch ein Getränk oder nahmen schnell noch an einem Spiel teil. Der dadurch generierte Umsatz war weit höher als der Umsatz, der verloren ging, weil Gäste nicht warten wollten. Derartige Erfahrungen ließen bei Harrah’s mit der Zeit eine Kultur der Neugier entstehen, in der das Hinterfragen gängiger Branchenweisheiten nicht nur akzeptiert, sondern geradezu zelebriert wurde.
Wenn es so wertvoll ist, Annahmen zu testen, warum ist es im Management dann nicht Standard? Wir haben uns jahrzehntelang, wissenschaftlich wie praktisch, mit Innovationen und Entscheidungsfindung beschäftigt – und festgestellt: Die meisten Managerinnen und Manager denken und handeln einfach nicht wie Wissenschaftler. Das ist eine große verpasste Chance.
Einer von uns, Stefan Thomke, hat in früheren Untersuchungen herausgefunden, dass Managerinnen und Manager durch Experimente besser abschätzen können, ob ein neues Produkt, eine neue Dienstleistung oder ein neues Geschäftsmodell Erfolg haben wird (siehe auch den Artikel „Versuch macht klug“, Harvard Business manager, März 2015). Und Gary Loveman hat als COO, CEO und President großer Unternehmen in den Branchen Unterhaltung und Gesundheit selbst die Erfahrung gemacht, dass Investitionen in Datenanalysen zu besseren Entscheidungen führen. Doch viele Managerinnen und Manager zögern, Experimente zu finanzieren. Trotz jahrzehntelanger Warnungen vor den Gefahren von Bauchentscheidungen verlassen sie sich noch immer auf Intuition und persönliche Erfahrung – selbst wenn stichhaltige Daten und Beweise dagegensprechen.
Topmanager leben in einer Feedbackschleife positiver Verstärkung.
Wissenschaftlich vorzugehen fällt Führungskräften schwer, weil es ihre Legitimität gefährden könnte. Viele gehen davon aus, eine hochrangige Führungsposition sei das Resultat von Erfahrung und von vielen erfolgreichen Maßnahmen und Ideen. Topmanager leben in einer Feedbackschleife positiver Verstärkung, die eher nicht dazu führt, dass sie die Grundlagen ihrer Entscheidungen anzweifeln. Wissenschaftliches Arbeiten hingegen erfordert intellektuelle Demut. Es stützt sich beim Formulieren und Fällen von Entscheidungen auf einen objektiven, evidenzbasierten Prozess statt auf persönliche Erkenntnisse.
Wer wissenschaftlich denkt, erkennt an, dass Menschen kognitiven Verzerrungen und Fehlurteilen unterliegen und zu einer Selbstgefälligkeit neigen, die auf mangelhaften Annahmen beruht. Wer wissenschaftlich handelt, überprüft seine Annahmen kompromisslos nach wissenschaftlichen Methoden – und ändert sie, sobald sie sich als falsch erweisen. Wissenschaftlich basierte Entscheidungsprozesse sind für Unternehmen erfolgskritisch, insbesondere vor dem Hintergrund der starken Verwerfungen durch die Corona-Pandemie.
Fünf Elemente der wissenschaftlichen Methodik sind für den Managementalltag besonders nützlich.
Managerinnen und Managern, die dem wissenschaftlichen Prinzip folgen, stehen bei der Wahrheitsfindung keine kognitiven Verzerrungen und Fehler im Weg. Sie lassen Vernunft walten, verlangen Beweise und sind offen für neue Ideen. In der wissenschaftlichen Praxis bedeutet das, eine unabhängige Bestätigung für vermeintliche Fakten zu suchen, fachliche Kompetenz über formale Weisungsbefugnis zu stellen und konkurrierende Hypothesen zu testen. Vor allem aber hinterfragen Manager, die wie Wissenschaftler denken, vorherrschende Annahmen. Sie stellen Fragen wie „Warum glauben wir das?“ oder „Welche Beweise gibt es dafür?“. Skepsis ist wichtig. Sie hat im Verlauf der Geschichte immer wieder dazu beigetragen, weitverbreitete Überzeugungen zu widerlegen und bedeutende wissenschaftliche Fortschritte zu erzielen.
Wenn Manager kluge Skeptiker sind, kann dies die Arbeitsweise eines Unternehmens revolutionieren. Nehmen wir Sony: Als Kazuo Hirai 2011 den Bereich Unterhaltungselektronik übernahm, war das japanische Unternehmen wirtschaftlich angeschlagen. Das einst so erfolgreiche Geschäft mit Fernsehern fuhr immer höhere Verluste ein. Der Hauptgrund war eine Annahme von Hirais Vorgängern: Sie dachten, Sony müsse, um seine hohen Betriebskosten zu decken und wieder in die Gewinnzone zurückzukehren, mehr Fernseher verkaufen.
Hirai – der 2012 CEO von Sony werden sollte – war skeptisch und gab eine Analyse in Auftrag. Diese zeigte, dass der Absatz auf 40 Millionen Fernseher pro Jahr steigen müsste, um rentabel zu sein. 2010 hatte Sony gerade einmal 15 Millionen Geräte verkauft. Schlimmer noch: Um die ehrgeizigen Absatzziele zu erreichen, hatten Hirais Vorgänger immer wieder Rabatte eingeführt, die nur einen weiteren Verlustzyklus einleiteten.
Hirai vollzog eine Kehrtwende. Er gab dem Vertrieb die Order, weniger Geräte zu verkaufen und die Preise zu erhöhen. In der Folge fuhr Sony den Absatz von LCD-Fernsehern in Industrieländern um rund 40 Prozent herunter und reduzierte die Zahl der in den USA erhältlichen Modelle um fast die Hälfte. Zugleich senkte der Konzern mithilfe einer Restrukturierung die Fixkosten, verbesserte die Bildqualität der Geräte, um höhere Preise zu rechtfertigen, und führte ein Einzelhandelsmodell ein, das seine Produkte von anderen abhob: ein Shop-in-Shop-Konzept bei der Elektronikkette Best Buy. Im Jahr 2015 meldete Sonys TV-Sparte dann zum ersten Mal seit elf Jahren wieder einen operativen Gewinn. Die Intervention des Skeptikers hatte funktioniert.
In der Wissenschaft ist die Untersuchung von Anomalien zentral, um fragwürdige Annahmen zu identifizieren. Anomalien treten unerwartet auf, sie wirken falsch oder seltsam und fallen auf, weil sie nicht den erwarteten Ergebnissen entsprechen. Managerinnen und Manager sollten nach ihnen Ausschau halten, denn häufig zeigen Anomalien neue Chancen für das Unternehmen auf (siehe auch den Artikel „Wie Sie in winzigen Abweichungen Trends entdecken“, Harvard Business manager, Januar 2022).
So war es zum Beispiel eine berühmte Anomalie, die dem französischen Chemiker Louis Pasteur bei der Suche nach der Ursache von Geflügelcholera eine bahnbrechende Entdeckung bescherte. Als Pasteur 1879 aus dem Sommerurlaub zurückkehrte, stellte er fest, dass seine Kulturen der Geflügelcholera ihre Virulenz verloren hatten. Er ließ diese verdorbenen Kulturen Hühnern spritzen. Die Tiere entwickelten nur leichte Symptome und erholten sich anschließend wieder vollständig. Als er denselben Hühnern danach frische, noch voll virulente Bakterien injizieren ließ, blieben sie gesund.
Pasteur entdeckte so, dass abgeschwächte oder tote Mikroorganismen, die einen milden Krankheitsverlauf verursachen, dieselbe Krankheit in ihrer tödlichen Form verhindern können. Das führte zu einem der größten Durchbrüche bei der Bekämpfung von Infektionskrankheiten: Lebendimpfstoffen.
Managerinnen und Manager können durch die Suche nach Anomalien in ganz ähnlicher Weise gewinnbringende Erkenntnisse erzielen. So wie Gary Loveman 1999 als neuer COO von Harrah’s. Im Aufzug eines der Hotels hörte er eines Abends, wie einer der Gäste zu anderen sagte: „In Vegas gewinne ich einfach nicht. Hier sind die Spielautomaten deutlicher ‚tighter‘ als in Atlantic City“ – damit meinte er, dass die Automaten im Durchschnitt weniger Geld ausschütteten. Die anderen Gäste stimmten ihm zu.
Anomalien können Frühindikatoren für gravierende Probleme sein.
Gary war überrascht. Erstens wusste er, dass die Automaten in Las Vegas höhere Auszahlungsquoten hatten: Die Automaten zahlten im Durchschnitt 94,5 Prozent der Kundeneinsätze wieder aus, in Atlantic City waren es nur 93 Prozent. Zweitens ging jeder in der Branche seit Ewigkeiten davon aus, dass Automaten mit niedrigeren Auszahlungsquoten dazu führen, dass die Kunden zu Casinos mit großzügigeren Geräten abwandern. Aber was, wenn die meisten Kunden so waren wie die im Aufzug und die Unterschiede in den Auszahlungsquoten nicht richtig einschätzen konnten? Konnte es sein, dass sich die gesamte Branche in diesem Punkt getäuscht hatte? Loveman bat sein Analytics-Team, dieser Frage nachzugehen.
Die Analysten fanden heraus, dass die Branche tatsächlich keine Ahnung hatte, wie Kunden das Spielen am Automaten erlebten. Einzelne Kundinnen oder Kunden würden bei einem typischen Casinobesuch – und auch nicht bei mehreren Besuchen – nie die durchschnittliche Ausschüttung erhalten, denn dafür müssten sie 80.000-mal spielen. Daher konnten sie auch kaum den Unterschied in den Auszahlungsquoten von Las Vegas und Atlantic City erkennen.
So führte die scheinbar belanglose Unterhaltung im Aufzug zu einer Revolution in der Casinobranche. Die Betreiber engagierten Datenwissenschaftler, die mittels Data Analytics und Experimenten die optimalen Auszahlungen und Standorte für Spielautomaten ermittelten. Seitdem sind die durchschnittlichen Auszahlungsquoten gesunken, weil die Casinos heute besser wissen, wie sie die Auszahlungen reduzieren können, ohne die Kunden zu vergraulen.
Anomalien können auch Frühindikatoren für gravierende Probleme sein, die einem Unternehmen bevorstehen. Jørgen Vig Knudstorp, der frühere CEO von Lego und heutige Chairman der Lego Markengruppe, ist davon fest überzeugt: So solle ein Unternehmen, selbst wenn sich nur ein kleiner Prozentsatz der Kunden über ein Produkt beschwere, „sehr genau und sehr aktiv zuhören“.
Klar wurde ihm das, als der dänische Spielzeughersteller einmal 15.000 Stück eines bestimmten Sets versandte, bei denen ein wichtiger Baustein fehlte – aber nur von 5 Prozent der Kunden, die das Produkt gekauft hatten, eine Rückmeldung bekam. „Der Fall verdeutlicht eine wichtige Lektion“, sagt Knudstorp. „Wenn Sie eine Beschwerde hören, sollten Sie besser davon ausgehen, dass es da draußen noch viel mehr Leute gibt, die unzufrieden sind.“
Annahmen lassen sich nur gut testen, wenn sie als Hypothesen formuliert werden, die sich quantitativ bestätigen oder widerlegen lassen. „Wenn Sie das, worüber Sie sprechen, messen und in Zahlen ausdrücken können, wissen Sie etwas darüber“, sagte Lord Kelvin, ein führender britischer Wissenschaftler und Ingenieur des 19. Jahrhunderts. „Können Sie es hingegen nicht messen und nicht in Zahlen ausdrücken, ist Ihr Wissen eher dürftig und unbefriedigend.“
Wenn das Ergebnis eines Experiments der getesteten Hypothese widerspricht, können wir Fehler in unserem Denken und in unseren Urteilen erkennen, die Hypothese verändern und diese dann erneut testen. Dieser schrittweise Prozess des wiederholten Testens und Verfeinerns führt zu stärkeren Hypothesen.
Ein Beispiel aus der Wissenschaft: Jahrhundertelang waren viele Forscher davon überzeugt, das Universum enthalte Äther, durch den das Licht hindurchströme. Aufgekommen war diese Hypothese, weil die Wissenschaftler glaubten, Lichtwellen bräuchten ein Medium, um sich im luftleeren Raum ausbreiten zu können. 1887 wollten die amerikanischen Physiker Albert Michelson und Edward Morley die Richtigkeit dieser These beweisen. Sie führten ein Experiment durch, bei dem sie die Lichtgeschwindigkeit in senkrecht zueinanderstehenden Richtungen maßen (einmal in Bewegungsrichtung der Erde und einmal senkrecht dazu – Anm. d. Red.). Jeglicher Geschwindigkeitsunterschied wäre ein Beweis für die Existenz von Äther gewesen. Doch sie konnten keinerlei Geschwindigkeitsunterschied feststellen, was Zweifel an der Ausgangshypothese aufkommen ließ. Das beschleunigte die Suche nach einer neuen wissenschaftlichen Theorie für Raum und Zeit – der speziellen Relativitätstheorie. So gab das Experiment einen wichtigen Anstoß für ein neues Denken, wie das Universum funktioniert.
Unternehmen können ähnlich vorgehen. Bei der Bank of America sollte ein Team das Kundenerlebnis in den Filialen verbessern. Unter anderem wollte es sich um den Ärger kümmern, den Kundinnen und Kunden empfanden, wenn sie in der Warteschlange standen. Eine interne Studie mit rund 1000 Kunden (deren Ergebnisse später von zwei Fokusgruppen und einer Analyse des US-Marktforschungsinstituts Gallup bestätigt wurden) ergab, dass sich ab einer Wartezeit von rund drei Minuten eine wachsende Diskrepanz zwischen der tatsächlichen und der gefühlten Wartezeit ergibt. Eine zweiminütige Wartezeit fühlt sich in der Regel auch wie zwei Minuten an, doch wer fünf Minuten anstehen muss, hat mitunter das Gefühl, es seien zehn Minuten.
Aus anderen Studien wusste das Team: Werden Menschen bei einer langweiligen Tätigkeit abgelenkt, vergeht die Zeit in ihrer subjektiven Wahrnehmung viel schneller. So formulierte es eine einfache Hypothese: Fernsehbildschirme über die Schalter zu hängen, wird die gefühlte Wartezeit verringern
Um diese Hypothese zu testen, ließ das Team in einer Filiale in Atlanta über den Schaltern Fernsehgeräte installieren, auf denen CNN gezeigt wurde. Anschließend verglich es die gefühlte Wartezeit der Kunden in dieser Filiale mit der Wahrnehmung von Kundinnen und Kunden, die in einer vergleichbaren Filiale ohne Fernseher warten mussten. Das Team wartete zunächst eine Woche ab, damit sich der Reiz des Neuen verlor, und befragte dann zwei Wochen lang Kundinnen und Kunden, wie lang sie ihre Wartezeit einschätzten. In der Filiale mit Fernsehgeräten sank die Überschätzung der Wartezeit von 32 Prozent vor dem Test auf nunmehr 15 Prozent, in der Kontrollfiliale ohne Fernseher stieg sie von 15 auf 26 Prozent.
Die Anregung für Hypothesen kann in der Wirtschaft aus unterschiedlichen Quellen kommen. Ein guter Ausgangspunkt sind Erkenntnisse über Kunden auf Basis qualitativer Daten (Fokusgruppen, Labors zur Untersuchung der Usability und Ähnliches) oder Analytics (zum Beispiel Auswertungen von Anrufen im Kundenservice). Wie wir gesehen haben, können auch Anomalien den Anstoß für Hypothesen geben. Und diese lassen sich überall finden, von zufällig mitgehörten Unterhaltungen bis hin zu unkonventionellen, aber erfolgreichen Praktiken in anderen Unternehmen.
Als der theoretische Physiker Richard Feynman 1964 in einer Vorlesung an der Cornell University in den USA das Wesen der Wissenschaft erklärte, sagte er: „Es spielt keine Rolle, wie brillant, wie schön Ihre Vermutung ist. Es spielt keine Rolle, wie intelligent Sie sind, wer die Vermutung angestellt hat oder wie diese Person heißt. Wenn die Vermutung dem Experiment widerspricht, ist sie falsch. So einfach ist das.“
Es ist ein Rat, den sich auch Topmanager zu Herzen nehmen sollten. Die einem Vorhaben zugrunde liegenden Annahmen sollten nicht ausschließlich auf den Gefühlen, Erfahrungen, Vermutungen oder dem Status derer basieren, die sie getroffen haben. Sie sollten auf schlüssigen Beweisen beruhen. Wenn es solche Beweise noch nicht gibt, dann führen diszipliniert durchgeführte Experimente vielleicht zum Ziel. Dieser Grundsatz sollte tief in der Kultur eines Unternehmens verankert sein (siehe auch den Artikel „Eine Kultur des Ausprobierens“, Harvard Business manager, April 2020.)
Unternehmen haben viele Möglichkeiten, solche Experimente durchzuführen. Ende 2009 begannen beispielsweise viele Hotels in Las Vegas und ein paar Hotelbetreiber andernorts, eine sogenannte Resortgebühr einzuführen: einmalige Pauschalbeträge, die die Einzelabrechnung von WLAN-Zugängen, Wasser auf dem Zimmer, Fitnesscentern und ähnlichen Einrichtungen ersetzten. Wer ein Hotelzimmer buchen wollte, bekam zuerst den Preis pro Nacht angezeigt. Sobald er jedoch reservieren wollte, wurde die Resortgebühr – zusammen mit der Steuer – auf die Gesamtsumme aufgeschlagen.
Gary Loveman war zu diesem Zeitpunkt bereits vier Jahre lang CEO von Harrah’s Entertainment (das zwischenzeitlich von Caesars Entertainment übernommen worden war und später dessen Namen übernahm – Anm. d. Red.). Er und sein operatives Führungsteam gingen davon aus, dass potenzielle Gäste die Resortgebühr als Preiserhöhung wahrnehmen würden. Loveman befürchtete einen Buchungsrückgang, vor allem seitens preisempfindlicher Kunden, und eine sinkende Hotelauslastung. In Las Vegas ist es besonders wichtig, dass diese hoch ist: Gäste, die in einem Hotel mit Casino übernachten, geben für Glücksspiel, Essen und Trinken, Unterhaltung und andere Annehmlichkeiten des Resorts häufig mehr aus als für ihr Zimmer.
Anekdotische Hinweise schienen die Annahme zu bestätigen: Southwest Airlines zum Beispiel zog Fluggäste an, weil das Unternehmen – anders als viele Wettbewerber – keine Gebühren für aufgegebenes Gepäck verlangte. Daher folgte Gary nicht dem Branchentrend und führte keine Resortgebühren ein. 2010 bewarb das Unternehmen seine Hotels sogar in Anzeigen und Werbeaktionen als „resortgebührenfreie Zone“.
Dann kamen die ersten Zahlen zur Hotelauslastung des Unternehmens und seiner Wettbewerber herein. Es gab keine Beweise dafür, dass sich die Entscheidung gegen Resortgebühren auszahlte. Nach ungefähr drei Monaten ließ Gary sein operatives Führungsteam die ursprüngliche Annahme mit einem Experiment testen. Das Unternehmen führte die Gebühr ein, zunächst aber nur bei Gästen, von denen am wenigsten Ablehnung zu erwarten war: Messe- und Konferenzteilnehmer sowie Kunden und Kundinnen, die nicht den oberen Kategorien eines Treueprogramms angehörten.
Nach einer dreimonatigen Testphase war klar, dass die Kunden nicht preisempfindlich genug waren, um auf andere Hotels umzusteigen (von denen die meisten ohnehin bereits eine Resortgebühr erhoben). Daraufhin weitete das Unternehmen das Experiment auf Hotels außerhalb von Las Vegas aus. Irgendwann lagen genügend belastbare Beweise vor, um Gary und sein Team davon zu überzeugen, dass die Gäste bei Resortgebühren weniger sensibel waren als beim Zimmerpreis.
5. Klären Sie Ursache und Wirkung
Sich in Bezug auf Ursache und Wirkung auf Annahmen zu verlassen, ist für Manager gefährlich. Wir Menschen sehen häufig Zusammenhänge, wo keine sind, verwechseln Korrelation mit Kausalität, und reagieren bei Entscheidungen auf irrelevante Faktoren, die nichts weiter als Störgeräusche sind (siehe auch den Artikel „Immer ins Schwarze”, Harvard Business manager, Dezember 2016). Außerdem neigen wir dazu, „gute“ Beweise, die unsere Vermutungen bestätigen, bereitwillig zu akzeptieren und „schlechte“ Beweise, die unseren Annahmen widersprechen, anzuzweifeln und besonders genau zu prüfen.
Wir akzeptieren bereitwillig 'gute' Beweise, die unsere Vermutungen bestätigen, und lehnen 'schlechte' Beweise ab, die unseren Annahmen widersprechen.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler prüfen Kausalität anders. Bei konventionellen, kontrollierten Experimenten verändern sie eine oder mehrere Variablen (die vermutete Ursache) und beobachten, wie sich das Ergebnis (die Wirkung) verändert, während sie alle anderen Variablen konstant halten. Wenn Letzteres nicht möglich ist, stützen sie sich auf Randomisierung. Das verhindert, dass bewusste oder unbewusste systemische Verzerrungen das Experiment beeinflussen. Dabei werden alle verbleibenden potenziellen Ursachen des Ergebnisses gleichmäßig auf Test- und Kontrollgruppen verteilt.
Bei natürlichen Experimenten entziehen sich die Variablen der Kontrolle der Forschenden, dennoch erlauben sie Erkenntnisse über Kausalitäten. Wie das funktioniert, zeigen die in den USA tätigen Wissenschaftler Joshua Angrist und Guido Imbens, die für ihre Arbeit im vergangenen Jahr mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet wurden. Imbens und seine Mitarbeitenden wollten zum Beispiel untersuchen, wie sich ein Einkommen, für das keine Gegenleistung zu erbringen ist, auf die Arbeitsmotivation auswirkt. Zu diesem Zweck beobachteten sie Lottogewinner in Massachusetts. Die Lottogewinne werden in diesem US-amerikanischen Bundesstaat über viele Jahre hinweg ausgezahlt und gleichen einem bedingungslosen Grundeinkommen. Daher konnte Imbens das Verhalten von Lottogewinnern mit dem von Menschen ohne Lottogewinn vergleichen und daraus Rückschlüsse auf die Wirkung eines bedingungslosen Grundeinkommens ziehen.
Sind konventionelle Experimente nicht möglich, zum Beispiel weil sich das Zusammenspiel der Variablen nicht beobachten lässt, helfen oft Simulationen. Wenn Forschende Beweise für „A verursacht B“ finden, können sie eher davon ausgehen, dass ihre Beobachtung nicht nur eine Korrelation ist.
Ein noch zuverlässigerer Test der Kausalität sind allerdings kontrafaktische Daten und Szenarien: „Wäre B auch ohne A eingetreten?“ So sollten Manager, wenn sie die Wirkung eines 10-prozentigen Rabatts herausfinden wollen, nicht nur nach Beweisen dafür suchen, dass der Rabatt den Umsatz gesteigert hat. Sie sollten zusätzlich überprüfen, ob die Steigerung auch ohne den Rabatt eingetreten wäre. Was-wäre-wenn-Fragen und kontrafaktische Überlegungen sind sehr hilfreich dabei, Szenarien mit verschiedenen Annahmen durchzuspielen und Erkenntnisse zu Ursache und Wirkung zu gewinnen.
Topmanager sollten diesen Ansatz wählen, um ihre Annahmen über die wesentlichen Erfolgsfaktoren ihres Unternehmens zu überprüfen. Knudstorp tat genau das, als er 2004 CEO von Lego wurde. Damals taumelte das Unternehmen, das Geschäft lief schlecht, und das Wachstum stagnierte. Innerhalb der nächsten zehn Jahre verwandelte Knudstorp Lego in einen der führenden Spielzeughersteller auf der Welt. Dafür musste er die internen Systeme neu aufstellen und alles hinterfragen, immer nach dem Motto „Stimmt das wirklich so?“ oder „Glauben wir das auch wirklich?“.
Das Management stellte zum Beispiel die Entscheidung infrage, den operativen Betrieb an den Auftragshersteller Flextronics auszulagern. Dabei war die Annahme gewesen, dass dies Legos Lieferkette optimieren und die Kosten senken würde. Wie sich aber herausstellte, führte das Outsourcing zu längeren Vorlaufzeiten, höheren Beschaffungskosten und einer kürzeren Nutzungsdauer der Spritzgussformen. Das Management erkannte, dass Lego wettbewerbsfähiger wäre, wenn es die Fertigung zurück ins Unternehmen holen würde.
So konnte die Firma, indem sie in moderne Spritzgusstechnik investierte, ihren Kunden beim Zusammenbauen ein Qualitätserlebnis bieten, an das Wettbewerber nicht heranreichten. Die Verbindungskräfte der Legosteine mussten groß genug sein, um die Bausteine zusammenzuhalten, aber nicht so groß, dass kleine Kinder die Steine nicht mehr voneinander lösen können. Zudem mussten die neuen Steine auch mit denen kompatibel sein, die vor Jahrzehnten hergestellt worden waren. Das war nur durch Spritzgussformen mit geringen Toleranzen zu erreichen.
Zum neuen Ansatz gehörte auch, Legos Fangemeinde zu Wort kommen zu lassen. Dies führte zu der Erkenntnis, dass die Bauanleitungen wichtiger waren, als es dem Unternehmen bisher bewusst gewesen war, denn damit konnten auch gewöhnliche Nutzerinnen und Nutzer außergewöhnliche Dinge bauen. Also stellte Lego mehr Mittel bereit, um die Anleitungen zu erstellen, was die Qualität und den Stil verbesserte. Heute stehen viele von ihnen digital und in 3D zur Verfügung.
Die weltweite Corona-Pandemie hat unsere Welt gefährlicher und sehr viel unsicherer gemacht. Grundannahmen darüber, wie wir arbeiten und leben, wurden auf den Kopf gestellt. Globale Lieferketten scheinen nicht mehr zu funktionieren, und auf viele der drängendsten Wirtschaftsprobleme haben wir noch keine klaren Antworten. Wie wirkt es sich zum Beispiel auf die Kultur einer Organisation aus, wenn die Menschen zum Arbeiten nicht mehr ins Büro kommen? Kann ein Fertigungsunternehmen eine Fabrik ohne Menschen betreiben? Können wir die stark steigenden Versicherungskosten senken, indem wir die Beschäftigten motivieren, gesünder zu leben? Eine Zeit großer Unsicherheit bietet auch die Chance, Dinge zu hinterfragen, die Managerinnen und Manager lange Zeit als gegeben angenommen haben. Es wäre ein Fehler, wenn wir uns in diesen Zeiten ausschließlich auf Erfahrung, Intuition und subjektive Einschätzungen verließen.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben uns fantastische Medikamente beschert, ebenso eine viel sicherere und reichhaltigere Lebensmittelversorgung, neue Arten von Energie, Transport und Kommunikation – und so vieles mehr. Wissenschaftlich zu arbeiten, ist ein hochwirksames Mittel, mit dem Unternehmen ihre Erfolgschancen verbessern, Fehleinschätzungen verringern und neue Quellen für Innovation und Wachstum finden können. Deshalb sollte es in ihren Entscheidungsprozessen eine zentrale Rolle spielen. © HBP 2022
Die Autoren
Stefan Thomkeist Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Harvard Business School und Autor des Buches „Experimentation Works: The Surprising Power of Business Experiments“ (Harvard Business Review Press 2020).
Gary W. Lovemanist Dozent an der Harvard Business School sowie Mitgründer, Chairman und CEO von Well, einer amerikanischen Gesundheitsplattform und App. Davor war er Chairman und CEO des Hotel- und Casinokonzerns Caesars Entertainment (ehemals Harrah’s Entertainment).
Kompakt
Das Problem Viele Führungskräfte verlassen sich bei ihren Entscheidungen vor allem auf ihr Bauchgefühl und ihre persönliche Erfahrung – obwohl seit Jahrzehnten vor den Gefahren einer solchen Vorgehensweise gewarnt wird.
Die Ursache Manager denken häufig, dass das, was in der Vergangenheit funktioniert hat – der Erfolg, der ihnen einen Spitzenposten beschert hat –, auch in Zukunft funktionieren wird. Und ihre Mitarbeiter bestärken sie in dieser Meinung häufig noch zusätzlich.
Die Lösung Erfahrene Managerinnen und Manager sollten bei ihren Entscheidungen vorgehen wie Wissenschaftler: Sie sollten Annahmen hinterfragen und Anomalien untersuchen, indem sie überprüfbare Hypothesen formulieren und wissenschaftliche Experimente durchführen. Nur so erhalten sie schlüssige Ergebnisse und belastbare Beweise.
Dieser Artikel erschien erstmals in der August-Ausgabe 2022 des Harvard Business managers.
