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Es darf auch mal gestritten werden!

Wir alle sehnen uns nach Harmonie. Trotzdem streiten wir und erleben es oft als destruktiv und bedrückend. Dabei gibt uns jeder Streit die Möglichkeit, Spannungen aufzulösen und dadurch die Beziehung auf eine höhere Ebene zu stellen. Ein guter Grund, den Mut zur Auseinandersetzung nicht zu verlieren.

Neulich habe ich gelesen, dass, einer Studie von Orizon zufolge, Streit mit Kollegen zu den Top-3-Stressfaktoren von Arbeitnehmern in Deutschland zählt. Da ist es logisch, dass Streit im Berufsalltag vorrangig negativ konnotiert ist und am liebsten vermieden wird. Zumal sich die allermeisten Menschen ein harmonisches Miteinander wünschen. Sind wir doch alle soziale Wesen, die den Anschluss an die Gruppe suchen und in der lässt es sich nun mal am angenehmsten im Einklang leben. Dabei ist der Grad zwischen einem gesunden Harmoniebedürfnis und einem übertriebenen Harmoniestreben schmal.

Bei dem Thema Harmoniestreben muss ich an meine Klientin Hanna denken, die aktuell als Therapeutin in einer Suchtklinik arbeitet und ständig ihren Job kündigt. Stets aus dem Gefühl heraus, von ihrer Kollegenschaft nicht wertgeschätzt zu werden. Sie wittert überall Feindschaft. Ohne Dinge zu klären oder Wichtiges zu verhandeln kündigt sie immer dann, wenn sie sich nicht mehr anerkannt sieht und unwohl fühlt.

„Ich weiß, dass auch meine Mutter Streit aus dem Weg gegangen ist. Die Vorgabe zu Hause war, dass wir meinen kranken Vater nicht noch mit zusätzlichem Ärger belasten“, erzählte sie mir in unserer letzten Therapiesitzung. „Ich bin selbst also ein wenig konfliktscheu aufgewachsen und bin es noch. Ich habe ein großes Harmoniebedürfnis. Ärger und Differenzen versuche ich, aus dem Weg zu gehen.“ Hanna möchte lernen, sich in ihrem Beruf mit anderen auf einer Augenhöhe zu fühlen und nicht mehr so konfliktscheu zu sein.

Wenn uns Schutzstrategien selbst schaden

Unser Verhalten zielt meist darauf ab, Unlustgefühle wie Scham, Angst oder Enttäuschung zu vermeiden. Wenn uns also beispielsweise eine unserer verinnerlichten kindlichen Prägungen glauben lässt, wir seien klein und minderwertig, dann wollen wir uns nicht ständig so fühlen und noch weniger wollen wir, dass andere unsere vermeintliche Minderwertigkeit feststellen.

Wir entwickeln Schutzstrategien, die uns vor den negativen Emotionen und Gedanken unserer inneren Prägungen schützen sollen. Harmoniestreben gehört zu diesen Selbstschutzstrategien. Natürlich wird kein Mensch gern abgelehnt, weshalb jeder von uns um Anpassung und Harmonie bemüht ist. Problematisch wird diese Schutzstrategie erst, wenn sie so massiv ausgeübt wird, dass wir uns selbst damit schaden.

So kann übertriebenes Harmoniestreben zu Überanpassung und Perfektionismus führen, als vorbeugende Maßnahme, um nicht abgewiesen zu werden. In dem Fall versucht man, alle Erwartungen, die an einen gestellt werden, anstandslos zu erfüllen, um sich so unangreifbar zu machen. Mit diesem Verhalten begibt man sich leicht in die Opferrolle, wobei das Gefühl der Sicherheit trügerisch ist.

Natürlich ist Harmonie ein angenehmer Beziehungszustand, der sich aber nur einstellen kann, wenn Menschen sich auf Augenhöhe wähnen. Und dazu bedarf es auch mal eines „Neins“, ein Wort, das Hanna ihren Kollegen gegenüber noch nie ausgesprochen hat. Schließlich könnte es einen Konflikt heraufbeschwören. Da ergreift sie lieber die Flucht, anstatt eine klärende Auseinandersetzung zu suchen.

Auf ihre Frage, warum wir überhaupt streiten, habe ich geantwortet: Im Laufe unseres Lebens erstellen wir unterbewusst aufgrund unserer Erfahrungen eine Art Wunschliste. Sie gibt uns vor, welche Bedürfnisse wir im Leben so haben. Und selten sitzen sich zwei Menschen mit der gleichen Liste gegenüber.

Eine Frage der Fairness

Ein Konflikt birgt immer die Gefahr, dass ich verletzt werden könnte. Konfliktscheue Menschen sagen sich deshalb gern: „Das bringt ja sowieso nichts.“ Oder: „Ich warte mal ab, bis der richtige Moment kommt.“ Aber der richtige Moment kommt nicht von allein, wie Hanna in den vergangenen Jahren immer wieder schmerzhaft erfahren musste.

Für sie, als introvertierte Persönlichkeit, bedeutet es zudem eine viel größere Herausforderung, in einen Konflikt zu gehen als für Extrovertierte, die impulsiver sind und sich die Sachen nicht so zu Herzen nehmen. Dennoch habe ich meiner Klientin geraten, ein Problem grundsätzlich anzusprechen, wenn sie weiß, dass sie es noch länger mit sich herumtragen wird. Ihre Ängste, die sich um ihr eigenes Selbst drehen, kann sie mit höheren Werten überwinden, wie beispielsweise Fairness. Denn natürlich ist es anderen gegenüber fairer, ein Problem anzusprechen, statt den inneren Rückzug anzutreten. Schließlich hat die andere Person nur dann eine Chance, etwas richtigzustellen oder sich zu entschuldigen, wenn man etwa sagt. So birgt jeder Streit auch die Möglichkeit, Spannungen aufzulösen und dadurch die Beziehung möglicherweise auf eine andere, harmonischere Ebene zu stellen.

Entscheidend dabei ist, dass unser Gegenüber uns zuhört und Interesse daran hat, uns auch zu verstehen. Wenn aber die Gefühle mit uns durchgehen, werden wir nicht lange mit seiner Aufmerksamkeit rechnen können. Das strengt nur an. Ich rate deshalb in der Auseinandersetzung zu Argumenten, die uns Standpunktsicherheit verleihen. Wichtig ist auch die innere Haltung. Es geht nämlich nicht um Gewinnen oder Verlieren, sondern darum, gemeinsam in einer Sache voranzukommen.

Hanna denkt eher in Kategorien von unterlegen und überlegen und ist nicht geübt im Argumentieren. Ich ermuntere sie deshalb immer zu einer mentalen Vorbereitung, wenn ihr schwierige Situationen wie etwa eine Teamsitzung bevorstehen. Wenn sie sich vorher überlegt, welche Argumente für ihren Standpunkt sprechen und inwiefern sie zeigen, warum sie sich verletzt fühlt, kann sie ihre Konfliktscheu besser in den Griff bekommen.

Was möchte ich eigentlich?

Der Schweizer Kommunikationsforscher Dr. Werner Troxler vergleicht einen Streit mit einem Eisberg. „Wir sehen seine Spitze aus dem Wasser ragen, der größte Teil ist für uns unsichtbar, bestimmt aber, wie sich der Eisberg verhält. Bei einem Streit ist es ähnlich. Wir tragen einen Konflikt aus, doch was unser Verhalten bestimmt, das erkennen wir oft gar nicht.“

Dazu müssten wir lernen, die sogenannte Sachebene von der Beziehungsebene zu unterscheiden. Auf welcher Ebene befinde ich mich gerade in der Auseinandersetzung? Geht es mir wirklich darum, dass mein Kollege die Büroküche wieder nicht aufgeräumt hat? Meistens sind Sach- und Beziehungsebene verknüpft. Sind wir in einer Beziehung unzufrieden, suchen wir oft nach einem Grund, uns über den anderen zu ärgern. Und wenn auch nur im Stillen.

Konfliktscheue Menschen wie Hanna sind häufig überangepasst und wissen selbst nicht richtig, was sie wollen. Sie sagen Ja, wenn sie Nein oder Jein meinen, und kreiden es dann dem anderen an, dass sie Ja gesagt haben. Um klarer in der Kommunikation zu werden und den unsichtbaren Teil des Eisberges erkennen zu können, müssten sie erst mal einen besseren Draht zu ihren eigenen Wünschen und Gefühlen bekommen. Und zwar indem sie einfach mehr auf sie achten.

Zu Hanna sagte ich deshalb am Ende unserer Stunde, dass es bei Konflikten meist nicht darum ginge, recht zu haben, sondern seine Bedürfnisse und Grenzen zum Ausdruck zu bringen. Nur dann hat unser Gegenüber auch eine echte Chance, sich richtig zu verhalten. Ein offenes Wort, zu einem von uns selbstbestimmten Zeitpunkt, ist viel gesünder als eine unterschwellig vergiftete Harmonie.

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Stefanie Stahl schreibt über Gesundheit & Soziales, Job & Karriere

Stefanie Stahl ist Deutschlands bekannteste Psychotherapeutin. Ihr Ratgeber „Das Kind in dir muss Heimat finden“ steht seit 2016 auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste. Stahl ist eine gefragte Keynote Speakerin. Sie gilt als DIE Expertin, wenn es um Liebe, Bindungsangst und Selbstwertgefühl geht.

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