Friedenspreis des deutschen Buchhandels: Wie Sebastião Salgado der Debatte um Nachhaltigkeit Dringlichkeit verleiht
Mein Land, unsere Erde
Sebastião Salgado ist der erste Fotograf, der am 20. Oktober 2019 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhielt. Der Stiftungsrat des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels ehrte den Bildkünstler, weil er mit seinen Fotografien soziale Gerechtigkeit und Frieden fordert und der weltweit geführten Debatte um Natur- und Klimaschutz Dringlichkeit verleiht. Zugleich schuf Salgado mit seinem „Instituto Terra“ eine Einrichtung, die einen direkten Beitrag zur Wiederbelebung von Biodiversität und Ökosystemen leistet. Die Laudatio hielt der Regisseur Wim Wenders, der den brasilianischen Fotografen im Jahr 2014 in dem oscarnominierten Dokumentarfilm „Das Salz der Erde“ porträtierte.
Der studierte Ökonom, geboren 1944 in Aimorés, arbeitete ab 1969 nach seiner Flucht als linker Oppositioneller aus Brasilien für die Weltbank in der Entwicklungshilfe. 1970 hielt er zum ersten Mal eine Kamera in der Hand. Er gab seine gut bezahlte Stelle auf, verdingte und sich unter anderem als Sportfotograf. Seine berufliche Karriere als Fotograf begann 1973 in Paris, wo er nacheinander für die Fotoagenturen Sygma, Gamma und Magnum Photos arbeitete. 1994 gründete er mit seiner Frau Lélia Wanick Salgado die Agentur Amazonas Images, die seine Werke exklusiv vertritt.
Im Dokumentarfilm von Wim Wenders äußert er, dass es die Menschheit nicht verdient habe zu leben. „Ich habe so schreckliche Dinge gesehen, so viel Brutalität, so viel Gewalt.“ Als Fotograf erlebte er unter anderem den Völkermord in Ruanda mit. Als er für die Internationale Kaffeeorganisation tätig war, sah er, wie Arbeiter barfuß täglich zwölf Stunden in großer Hitze auf den Plantagen arbeiteten. „Sie hatten keine Sozialversicherung. Der Lohn, den sie bekamen, reichte nicht aus, um anständig zu wohnen, sich medizinisch versorgen zu lassen und ihre Kinder zur Schule zu schicken. Sie arbeiteten genauso viel wie oder gar mehr als die europäischen Arbeiter, aber ihr Ertrag wurde zu Negativpreisen exportiert. Es war, als ob sie uns dafür bezahlten, dass wir ihren Kaffee tranken, und ihre Gesundheit, ihren Lebensstandard und ihre Grundbedürfnisse legten sie als Bonus obendrauf.“
Seine Frau Lélia und er stellten fest, dass die Welt in zwei Hälften geteilt ist: „Auf der einen Seite liegt die Freiheit derer, die alles haben, und auf der anderen Seite die Entbehrungen derer, die nichts haben.“ Diese Welt wollte er durch seine Fotos einer europäischen Gesellschaft zugänglich machen, „die wach genug war, einen solchen Aufruf zu hören“, sagt er im Interview mit der Journalistin Isabelle Francq, die für Le Nouvel Observateur und Le Monde des religions gearbeitet hat und die Ressorts Kunst und Fernsehen der Wochenzeitung La Vie und ist Co-Autorin der Autobiografien Sebastião Salgados und Robin Renuccis leitet. Gemeinsam mit ihr entstand seine Autobiographie „Mein Land, unsere Erde“, die im Verlag Nagel & Kimche erschien. Er zählt zu den angesehenen kleineren Literaturverlagen im deutschen Sprachraum und ist einer der wichtigsten literarischen Adressen der Schweiz.
Salgado ist sich bewusst, dass Fotos allein gesellschaftliche Missstände nicht verändern können. Doch nachhaltiger Verbindung „mit Texten, Filmen und den Aktivitäten der humanitären und Umwelt-Organisationen“ sind seine Bilder „Teil einer größeren Bewegung, die Gewalt, Ausgrenzung und Umweltprobleme anprangert.“ Seit in einem der Flüsse der Gegend 1979 Gold entdeckt wurde, weckte die Serra Pelada Sehnsüchte nach dem legendären Goldland El Dorado. Ein Jahrzehnt lang war sie die weltgrößte Freiluftgoldmine, in der unter unmenschlichen Bedingungen rund 50.000 Goldgräber arbeiteten. Die Fotografien von Salgado trugen dazu bei, die Mine zu schließen. Zunächst reiste er im Rahmen eines Fotoprojekts namens Workers zur Serra Pelada. Seine Frau Lélia und er hatten sich eine Geschichte über das Ende der ersten industriellen Revolution vorgestellt. Dafür fotografierte er sechs Jahre lang Männer und Frauen, die noch mit den Händen arbeiteten. Die Mine war einer dieser Orte. Als Salgado dort ankam, gab es ungefähr 1.200 Parzellen, es arbeiteten bereits mehr als 50.000 Menschen dort. Es gab Tote, Unfälle und keine medizinische Versorgung.
Am häufigsten hielt sich Salgado bei den Arbeitern in der Grube auf und fotografierte sie, während sie die Erde ihrer Parzellen aufhackten. Während einige Goldgräber Serra Pelada mit Geld verließen, eine Farm oder ein Geschäft kauften, glaubten andere, die Gold gefunden hatten, dass sie noch reicher werden könnten. Am Ende verloren sie alles, was sie zusammengebracht hatten. Offiziellen Dokumente belegen, dass zu der Zeit, als die Konzession 1992 an die Bergbaugesellschaft CVRD zurückgegeben wurde, aus der Mine in Serra Pelada etwa 30 Tonnen Gold im Wert von rund 400 Millionen Dollar gewonnen wurde. Die Ausbeute wurde Jahr für Jahr immer weniger. Serra Pelada ist heute wieder eine arme Region. Was bleibt, ist eine Landschaft voller Narben und ein großer, 200 Meter tiefer See.
Salgado erzählt fotografische Geschichten, aufgegliedert in verschiedene Reportagen, die sich über mehrere Jahre verteilen. Das ist für ihn Nachhaltigkeit: Geduld in der Fotografie und „nicht von einem Thema zum nächsten zu flattern, von einem Ort zum nächsten.“ Salgados fotografische Projekte wurden in zahlreichen Ausstellungen und Büchern gezeigt, darunter Other Americas (1986), Sahel, L’Homme en détresse (1986), Arbeiter (1993), Terra (1997), Migranten (2000), Kinder (2000) und Africa (2007). Drei Langzeitprojekte sind besonders hervorzuheben: Workers (1993), das die zunehmend verschwindende Lebenswelt von Arbeitern rund um den Erdball dokumentiert, Migrations (2000), das sich mit von Hunger, Naturkatastrophen, Umweltzerstörung und demografischem Druck motivierter Massenmigration befasst, und GENESIS, in dem von der modernen Zivilisation unberührt gebliebene Bergen, Wüsten, Meeren, Tieren und Völker gezeigt werden. Zusammen mit seinem Wiederaufforstungs-Organisation Instituto Terra ist es Ziel des GENESIS-Projekts, die Schönheit unseres Planeten zu zeigen und den an ihm verübten Schaden – wo möglich - rückgängig zu machen und ihn für die Zukunft zu bewahren.
Um Fotos zu machen, muss man das Leben achten
Das GENESIS-Projekt entstand im Rahmen des Umweltprojekts, dem er sich mit seiner Ehefrau ELélia Deluiz Wanick Salgado in Brasilien widmet: Anfang der 1990er Jahre begann er, die durch Übernutzung ausgezehrte Farm die Farm seiner Eltern wiederaufzuforsten. Er gründete das gemeinnützige „Instituto Terra“, das die Aufforstung der „mata atlantica“ (des Atlantischen Regenwalds, dessen Zerstörung seit der Ankunft der Portugiesen im Jahr 1500 immer schneller voranschreitet) zum Ziel hat. Heute sind nur noch sieben Prozent der ursprünglichen Fläche dieses Regenwalds erhalten. 1998 wurde das Land in ein Naturschutzgebiet umgewandelt. Im November 1999 wurden die ersten Bäume in die Erde gesetzt. Mitte der 2000er-Jahre hatten sie bereits 70 Zentimeter lange Austriebe. Seine Frau Lélia und er haben mit ihren Mitstreitern vom Instituto Terra zwei Millionen Bäume gepflanzt bis heute 97.000 Tonnen Kohlenstoff gebunden. Inzwischen gibt es sogar eine eigene Baumschule, und es werden Setzlinge für Umweltprojekte in den Bundesstaaten Minas Gerais und Espírito Santo geliefert. Ihre Energie ziehen sie aus ihrer Gewissheit: „Sich dem Planeten wieder zuzuwenden ist der Einzige Weg zu einem besseren Leben.“
Vor dem GENESIS-Projekt fotografierte Salgado nur eine Spezies (den Menschen). Schon am ersten Tag der ersten Reportage und dank der Riesenschildkröte verstand er, „dass man ein Tier lieben muss, um es zu fotografieren, dass man Freude daran haben muss, seine Konturen, seine Schönheit zu studieren.“ Dazu ist es wichtig, seinen Raum und sein Wohlbefinden zu schützen. Von diesem Augenblick an arbeitete er mit Tieren auf dieselbe Weise wie mit Menschen.
Weiterführende Literatur:
Sebastião Salgado: Mein Land, unsere Erde. Mit Isabelle Francq. Nagel & Kimche, MG Medien Verlags GmbH, München 2019.
Gold. Von Sebastião Salgado, Lélia Wanick Salgado, Alan Riding (Deutsch, Englisch, Französisch). TASCHEN Verlag, Köln 2019.