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Karin Helle (l.), Andy Herzog und Claus-Peter Niem (r.) - Coaching for Coaches

Fußball und Gesellschaft: „Eine Kopie war ich noch nie!“ Warum echte Typen unverzichtbar sind

Claus-Peter Niem gilt als bestens vernetzt in der Fußball-Trainerwelt. Fasziniert von der ganz besonderen Fußballmentalität des Ruhrgebiets, deren Bewohnern und Geschichten zog es ihn zum Studium der Pädagogik, Soziologie und Psychologie nach Dortmund, um hier im Bildungsbereich zu arbeiten. Seine Vision: Spieler, Teams und Trainer zu entwickeln, die zukünftigen Herausforderungen im Leben wie auf dem Platz gewachsen sind – mental, emotional, mit Teamspirit und eigener Persönlichkeit. Sein Motto: „Erfolg hat drei Buchstaben: TUN.“ Inspiriert und motiviert durch eine Begegnung mit Spitzentrainern des Premier-League-Tabellenführers Aston Villa FC in der Saison 1998/99 tauscht er sich gemeinsam mit Managementberaterin und Mentaltrainerin Karin Helle mit Trainern, Managern und Spielern wie Jürgen Klinsmann, Andi Herzog, Jogi Löw, Stefan Kuntz oder Hansi Flick auf Augenhöhe aus - und um von diesen zu lernen. Ihre individuellen und maßgeschneiderten Konzepte und Ideen nutzen seither Topmanager, Spitzentrainer, Profisportler und alle, die sich entwickeln wollen – getreu dem Motto: „A great leader is a teacher who is a lifelong learner!“ 2021 erschien die Biografie des Rekordnationalspielers Österreichs und heutigen Trainers Andreas Herzog, der sein erfolgreiches Engagement als Nationaltrainer Israels vor einiger Zeit beendet hat. An seinem Buch „Mit Herz und Schmäh“ waren beide Autoren maßgeblich beteiligt.

Wie kam es zur Idee, ein Buch mit Andi Herzog zu machen?

Karin Helle und ich haben uns im Oktober 2021, mitten in der Pandemie, auf den Weg gemacht, um uns mit Egon Theiner, Chef des Egoth-Sportverlags aus Österreich, in Wien zu treffen, um unseren Horizont im Bereich „Sportverlage“ zu erweitern und ihm ein Projekt vorzustellen. Wir entwickeln ja immer wieder mal neue Ideen. Dazu gehörte auch die Suche nach einem passenden Verlag – es muss halt immer auf beiden Seiten passen und eine grundsätzliche Aufgeschlossenheit bestehen. Und das passte in Wien von Anfang an. Natürlich erzählten wir auch von unserem Netzwerk – das machte ihn neugierig. Er bat um einen Kontakt zu Andi Herzog, mit dem er schon lange zusammenarbeiten wollte. Das lag natürlich nah: Hier der Rekordnationalspieler und waschechte Wiener Andreas Herzog, dort der größte Sportverlag Österreichs. Zwei Monate später rief Egon Theiner an und meinte, Andi wolle mit ihm und seinem Verlag eine Biografie herausbringen. Die Autoren sollten auf Wunsch Herzogs unter anderem wir sein. Ein Ritterschlag für uns und den Verlag. Meine Co-Autorin und Recherchistin Karin Helle wurde in Mödling geboren – und wuchs nur fünf Kilometer entfernt vom heutigen Wohnort Andi Herzogs zwischen Ziegen und inmitten des Wienerwalds auf. So schloss sich mal wieder der berühmte Kreis. Genauer beschrieben ist all das in unserem Vorwort. Dinge fallen einem wohl zu, wenn man sich auf den Weg macht, neugierig ist und offen für Neues.

Welche Rolle spielte die Pandemie?

Das hatte Vor- und Nachteile: Zum einen hatten alle Beteiligten mehr Zeit als gewöhnlich. Jeder saß abends meistens in den eigenen vier Wänden. Da bot es sich an, die Zeit zum Schreiben zu nutzen. Die Familie von Andi Herzog lebt in Wien. In Israel wäre er wochen- bis monatelang nicht aus dem Land gekommen - da ging die Familie natürlich vor. Unter anderen Umständen hätte er wahrscheinlich gar keine Zeit für eine intensive Biografie-Arbeit gehabt. Andererseits gestalteten sich unsere Zusammenkünfte so schwieriger als erwartet.

Generell arbeite ich lieber face to face und möchte mich mit dem Menschen direkt austauschen. Und so machte ich mich 2021 zwischen März und August häufiger auf den Weg nach Wien – und oft auch in die Grauzone. Man durfte nur unter erschwerten Bedingungen einreisen, wenn überhaupt - die Österreicher waren da recht drastisch. Ich kann mich noch an eine Ankunft in Wien-Schwechat Ende Mai erinnern: Da, wo sonst hunderte oder besser gesagt tausende Menschen auf ihre Koffer warten, war wirklich gähnende Leere. Nur ich und eine Handvoll anderer Abenteurer, die unter dem Radar von Dortmund nach Wien flogen, waren zugegen. Wirklich gespenstisch. Und dann noch diese gruseligen, permanenten Durchsagen: „Verlassen Sie das Flughafengelände zügig, denken Sie an Ihre Angehörigen und Mitmenschen, schützen Sie Ihre Familien...“ Wie im Katastrophenfilm. Sobald wir uns dann trafen, ging es los.

Weshalb ist Andi Herzog für Sie ein Meister des Storytellings?

Er erzählt für sein Leben gern, kann Geschichten selbst aus seiner jüngsten Kindheit blühend und lebendig erzählen – das war einfach immer eine große Freude. Ich begleitete ihn in diesen Tagen zum Training seiner zwei Söhne Luca und Louis (sie durften mit einer Ausnahmegenehmigung trainieren, da ihre Clubs einer Akademie angeschlossen sind). Und immer, wenn wir am Spielfeldrand standen, im Auto fuhren oder zusammen im gemeinsamen Wohnzimmer saßen, lief eine Sprachaufnahme mit – stundenlang. Zu Hause hörte ich mir die Aufnahmen an, schmunzelte immer wieder über das herrliche Wienerisch und die wunderbaren Geschichten und bastelte eben alles zusammen.

Übrigens ergab es sich in diesen Maitagen rund um Pfingsten, dass er einen neuen Trainerjob annahm – ausgerechnet bei seinem Heimatclub Admira Wacker Wien, in dem auch seine Jungs spielten und auch Andi selbst seine ersten Schritte als Profi machte. Ich war bei der Unterschrift live dabei bzw. wartete drei Stunden geduldig und bei strömendem Regen im Auto vor dem Stadion, während er den Vertrag unterschrieb. Natürlich nutzte ich die Zeit zum Schreiben. Ach ja, häufiger fuhr ich auch mit dem Zug zurück – zehn Stunden lang dauert die Zugfahrt von Wien nach Dortmund – Schreibflow pur!

Seit wann seid Ihr mit Andy Herzog verbunden? Und was macht diese Bindung aus?

Wir lernten ihn über Jürgen Klinsmann kennen- und schätzen. Jürgen begleiten wir schon seit der WM 2006, dem so genannten „Sommermärchen“. Wir unterstützen ihn in einer Vielzahl von Projekten oder besser gesagt: lernen in erster Linie von ihm. Wirklich ein absoluter Visionär und Creator, der sich gerne mit Menschen umgibt, von denen er ebenfalls und auf Augenhöhe lernen, und durch die er wachsen kann. Und zu diese „Klinsmann Eleven“, wie Jürgen sie manchmal spaßeshalber nannte, also einer Ansammlung absoluter Individualisten und Spezialisten, gehörte auch Andi Herzog, der sich Klinsis US-Boys im Jahr 2012 anschloss. Jürgen trainierte in diesen Tagen die Nationalmannschaft der USA und suchte einen Co-Trainer, der eigene Ideen hatte. Unsere Spezial-Aufgabe war eine Art „Mentoring“ der jungen US-Kicker, die in Europa spielten und in Jürgens Augen „totally lost“ waren, weil fern der Heimat bzw. 10.000 Kilometer entfernt von den USA. Und so reisten wir herum, unterstützten die Kicker oder hörten in Gesprächen einfach nur zu.

Und dann stand auf einmal Andi Herzog vor uns, erstmalig live am Flughafen in Wien. Wir hatten wie er das gleiche Ziel: Sarajevo, wo die die US-Jungs spielten. Er kannte uns noch nicht, wir aber ihn, trauten uns aber im ersten Moment gar nicht, ihn anzusprechen. Ein baldiges Kennenlernen gab es dann in Bosnien, und so richtig in Fahrt kam unsere „Beziehung“ dann in London bei einem späteren Treffen mit den US-Jungs und nach einem Spiel gegen Kolumbien. Überall, wo Andi war, verbreitete er Stimmung und gute Laune – mit Herz und Schmäh. Karin liebte das – die Wiener Seele eben: Geschichten erzählen, frei und aus dem Herzen heraus und vor allem authentisch, ehrlich, echt - diese Begrifflichkeiten und damit einhergehend die Menschen bzw. Typen faszinieren mich schon länger. Doch die scheint es unserer Wahrnehmung immer weniger zu geben. Deshalb ist es unser Ziel und Wunsch: Weg von der um sich greifenden Konformität/Mainstream und wieder hin zu mehr Originalität.

Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang der Fußball?

Keine andere Sportart als der Fußball kann diese Entwicklung besser aufzeigen, schließlich lebte er jahrzehntelang auch und vor allem von seinen Typen und Individualisten – und ist heute zu einer regelrechten Gleichmacher-Falle geworden. Daraus resultieren eine gewisse Langeweile und durchaus auch Durchschnitt. Das kann man in unseren Augen auch auf die Gesellschaft übertragen. Die Frage ist: Kann man sich überhaupt noch zum „Typen“ entwickeln – oder anders ausgedrückt einfach „originell“ bzw. selbst bleiben? Das ist auch das mögliche Thema eines neuen Projekts – und auch da kann Andi eine Hauptrolle spielen. Gerne auch als Mit-Autor!

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Im Sammelband „Bauchgefühl im Management. Die Rolle der Intuition in Wirtschaft, Gesellschaft und Sport“ ist ein Beitrag von Claus-Peter Niem, Karin Helle und Andi Herzog enthalten. Das Buch erschien parallel zur Biografie von Andi Herzog. Im Nachgang entstand dieses Interview mit Andi Herzog. Meine Fragen hat Claus-Peter Niem weitergereicht und einige Aspekte erweitert. Das Interview wurde im Januar 2022 geführt.

Was braucht es heute, um ein erfolgreicher Fußballtrainer zu sein?

Ich glaub‘ schon, dass Menschenführung und der Umgang miteinander wichtig sind, wie man mit den Spielern kommuniziert, und dass man auch seine Philosophie bzw. wie man spielen will, den Spielern auch vorzeigt und überzeugt, dass sie alle am gleichen Strang ziehen. Andererseits braucht es auch teilweise eine „harte Hand“ und eine klare Linie, weil die heutige Generation dazu neigt, wenn du ihnen den kleinen Finger gibst, auch die ganze Hand zu nehmen. Das war so, das ist immer so. Doch im Gegensatz zu früher sind funktioniert das Verhalten richtig strenger Trainer, die nur auf Straftraining setzen und die auf Deutsch gesagt „über Leichen gehen“, nicht mehr. Fachwissen braucht es natürlich. Als Trainer musst deinen Spielern auch zeigen, dass du das Spiel verstehst und auch vermitteln kannst, was du von ihnen erwartest. Aber ich glaube, du kannst noch so gutes Fachwissen haben, wenn du die Spieler nicht auf deine Seite bringst, dass sie eben für dich auch durchs Feuer gehen, bringt das beste Fachwissen schlussendlich gar nichts. Dazu brauchst du Spieler mit gutem Charakter, die sich verbessern wollen und an ihre Schmerzgrenze gehen, eben eine Siegermentalität entwickeln und sich sagen: „Wir wollen das Spiel unbedingt gewinnen, wir wollen schlussendlich auch das umsetzen, was der Trainer von uns erwartet, denn er stellt mich ja auch auf, gibt mir das Vertrauen und glaubt an uns.“ Da musst du sie halt berühren – im übertragenen Sinne.

Was ist Deine wichtigste Werkzeugkiste?

Für mich als Trainer ist es schon das Wichtigste, wenn ich mit einem Spieler face to face spreche, dass ich viel erklären kann, viel zeigen kann, wo der Spieler denkt „Na, der Trainer weiß, wovon er spricht, denn das hat er in seiner Karriere selber als Spieler erlebt.“ Und dann kann ich mich, wenn es schlecht läuft, in die Situation einfühlen, weil ich selbst als Profi aus Fehlern lernen musste. Auf der anderen Seite kann ich ihm auch den einen oder anderen Tipp zur Optimierung geben, den ein anderer Trainer, der nicht auf diesem Niveau gespielt hat, nicht so leicht geben kann – auch und gerade, wenn es gut läuft. Denn der Spieler weiß, dass ich selbst all das durchlaufen habe. Allerdings ist es auch wichtig, sich nicht auf seinen Erfolgen als ehemaliger Spieler auszuruhen – du musst dich als Trainer immer weiterentwickeln, sonst hast du heutzutage keine Chance mehr.

Ich glaube meine größte Stärke ist vor allem, Offensivspielern meine eigenen Erfahrungen mitzugeben, was viele nicht können. Beispiele: Wie reagiere ich, bevor ich den Ball bekomme? Oder was ich mit dem Ball machen kann, wie ich spielen kann – Außenrisst, Innenrisst, mit welchem Effet, mit welchem Prall, weil ich den Ball dort und dort hin spielen kann, weg vom Gegner, dann wieder hin zum Mitspieler, das sind lauter so kleine Feinheiten, auf die im heutigen Fußball, vor allem im Nachwuchsbereich, gar kein Wert mehr gelegt wird. Aber das sind auf höchstem Niveau dann die Momente, die dann auch gebraucht werden, denn der Ball muss in den richtigen Raum gespielt werden mit dem richtigen Tempo, der richtigen „Fetten“, wie man in Wien sagt, also mit Drehung und Effet. Da kann ich ihnen schon einiges mitgeben, weil ich es selbst am eigenen Leibe erlebt habe - oder wenn ein Gegenspieler aggressiv ist, oder wenn er groß ist, wie man den ausspielen kann, oder eine kleine „Gewandlaus“, wie man auf Wienerisch sagt (jemand, der dir im Gewand bzw. an deinen Fersen hängt) so ein richtiger Wadenbeißer, der immer wieder da ist. Da gibt es halt unterschiedliche Situationen. Und wenn du das selbst jahrelang erlebt hast, gut gemeistert hast oder daraus gelernt hast, kann man das halt vermitteln.

Stefan Kuntz erzählte einmal, dass er als Spieler neben den Augen auch seine Ohren nutzte. Er hörte, wenn ein Gegenspieler zu schnaufen begann und wusste intuitiv, dass er selbst noch einmal sprinten musste, um den Gegner in den roten Bereich zu bekommen. Wie war das mit Deiner Wahrnehmung, Deinen fünf Sinnen?

Ich war ja ein anderer Typ als der Stefan, also kein Stürmer, sondern der Spielmacher. Für mich waren extrem die Augen wichtig, also das periphere Sehen. Ich habe nur kurz geschaut, häufig gar nicht gesehen, welcher Spieler das ist, nur an den Stutzen erkannt, und gewusst: ‚Ok, das ist ein Mitspieler’ und von der Position ungefähr erahnen können, welcher Spieler das ist und ob ich ihn von der Position her den Ball tief reinspielen muss, weil er schnell ist oder ob ich ihm den Ball in die Beine spielen muss, weil er nicht so schnell ist. Das war meine große Stärke, die Übersicht – die Ideen und die Kreativität haben, bevor ich die Aktion eigentlich gestartet hab. Da hab ich schon genau gewusst, was kommt. Das kannst’ schwer lernen.

Wie filterst Du aus der Flut von Informationen das heraus, was Du für wichtig halten?

„Des ist a Lernprozess. Und wenn du etwas gut kannst und dir einer eine halbe Stunde einen Vortrag über Fußball hält, weißt du ganz genau, was für dich wichtig ist und was nicht. Da suche ich mir die drei Dinge raus, die mich berühren, die mich treffen. Wo ich sag: ‚Ui, das ist es!’ Das kannst du dann innerhalb kürzester Zeit rausfiltern, das spricht dich dann an. Wenn ich von einem Toptrainer, beispielsweise von Guardiola, ein Interview höre, der redet drei, vier Minuten und dann kommt genau die eine Situation, wo du dir vielleicht auch Gedanken gemacht hast: „Wie könntest du es lösen, wenn du als Trainer in die Situation kommst?“ Und das sind genau die Momente, wo du genau hinhörst, das filterst du dann sofort raus. Das ist interessant, das ist logisch. Oder das ist jetzt nicht so wichtig. Und dann denkst du „Bumm – das ist genau die Situation, wo ich mir schon oft den Kopf zerbrochen habe. Wie würde ich das lösen?“ Entweder du kriegst die Bestätigung, dass er es genauso machen würde oder, er hat eine andere Lösung. Und dann überlegst du, was auf deine Mannschaft zutrifft.

Ist weniger manchmal mehr?

Immer, immer! Ich bin der letzte Trainer, der auf Statistiken schaut. Und es ist ja oft so, dass du sagst: „Boah, der Verteidiger hat 76 Prozent Zweikampfquote.“ Alles gut und schön, aber wenn er im Strafraum die zwei Entscheidenden verliert, zwölf gewonnen, zwei verloren, aber die zwei haben das Spiel gekostet... Ich schau auf die entscheidenden Dinge. Und da ist weniger manchmal mehr. Kannst ja auch sagen: „Weniger Fehler machen ist mehr.“ Wenn du weniger Fehler machst, gewinnst du mehr. Ist ein blöder Spruch, ist aber so.

Warum brauchen Fußballtrainer neben der rein fußballerischen Expertise auch ein hohes Maß an Sozialkompetenz?

… weil du einfach einen extrem großen Kader zu führen hast, viele unterschiedliche Charaktere kommen zusammen, du hast seit Jahrzehnten schon verschiedene Sprachen, Mentalitäten, Kulturen – viele Spieler aus der ganzen Welt. Das musst du schon alles richtig einschätzen und händeln können. Und da auch fair zu bleiben, dass du nicht mit dem einen zu viel machst und mit dem anderen weniger. Wo halt dann nicht eine Stimmung in der Mannschaft aufkommt und die Spieler sagen: „Na, der Trainer beschäftigt sich mit dem und dem und dem...“ Das ist schon die große Kunst. Das Wichtige ist, dass du jedem klar sagst, was du von ihm erwartest, was du an ihm schätzt, warum er eigentlich in deiner Mannschaft ist – und was du in Zukunft von ihm verlangst, wie du ihn haben willst, dass er auf die 100 Prozent kommt. Das Wichtigste ist, dass du aus jedem Spieler das Maximum herausholst - schlussendlich wird die Mannschaft dann auch besser. Schwierig wird es halt, wenn du mit Spielern arbeitest und nach einem halben Jahr draufkommst, dass sie nicht über diese Spielintelligenz verfügen und auch nicht über die Leidenschaft und den Ehrgeiz, besser zu werden und sich entwickeln zu wollen. Wenn du das als Trainer feststellst, musst du dich von solchen Spielern möglichst schnell trennen. Das kommt schon das eine oder andere Mal vor. Aber man muss auch aufpassen. Ich kann jetzt nicht davon ausgehen, dass jeder Spieler die gleiche Idee hat wie ich. Jeder ist ein eignes Individuum, jeder hat eine andere Idee. Fakt ist, dass es halt Situationen gibt, in denen es darum geht, Tore zu machen. Jeder hat seine eigene Technik. Aber wenn jemand die Dinge nicht so gut löst und du willst ihm helfen, und er bleibt sitzen auf seinen Eigenheiten, die er seit sechs Monaten falsch macht, dann sind irgendwann einmal Hopfen und Malz verloren.

Weshalb spielt im Fußball auch das Bauchgefühl eine wichtige Rolle?

Das ist, glaube ich, so ziemlich das Wichtigste, denn du musst als Spieler und Trainer innerhalb kürzester Zeit Entscheidungen treffen. Bei mir war es als Spielmacher so, dass mir Trainer gewisse Sachen einbläuen wollten, was ich machen soll, und ich habe dann trotzdem immer in mich hineingehört und hab mir gedacht: „Na, eigentlich bin ich der Spieler, der den Pass spielen kann, den andere nicht spielen können – dann muss ich den auch spielen.“ Das habe ich dann auch gemacht. Da gehört natürlich auch Persönlichkeit dazu, denn wenn es nicht funktioniert, wirst du vom Trainer auch kritisiert. Ich war von mir immer überzeugt, ein Jahr nicht, und das war bei Bayern München. Schon als Jugendlicher hab ich so gespielt, mein Vater hat mich darin immer bestärkt. Wenn mal was nicht gelang, hat er gewusst, dass das ein Teil meiner Entwicklung ist - und das muss man dann mal in Kauf nehmen.

Als Trainer überlegt man sicher öfter einmal länger, wägt ab, macht sich Gedanken. Aber auch da gibt es im Spiel viele Situationen, in denen man blitzschnell entscheiden muss. Eben aus dem Bauch heraus.

Welche Entscheidungen Deiner Karriere hast du aus dem Bauch getroffen?

Also sicher den einen oder anderen Transfer – je älter du wirst und je erfolgreicher du wirst, desto mehr Bauchentscheidungen triffst du wahrscheinlich. Aber wurscht, auch in jungen Jahren, wenn du Aktionen hast, die dir gelingen, wird das jetzt nicht eine Art Automatismus, aber es entsteht eine Überzeugung, dass du die Dinge, die du dir vornimmst, die du schnell entscheidest aus dem Bauch heraus, dann auch machst. Da hat es so Spielfeldsituationen gegeben, wenn ich mit dem ersten Kontakt super Pässe gespielt hab oder aufs Tor geschossen hab... Beim einen oder anderen Transfer war es sicher auch so. Man kann allerdings auch nicht immer von Bauchgefühl sprechen, weil ich es mir schon redlich überlegt hab, alles abgewogen hab und dann war das Entscheidende: „Ich will dorthin gehen, wo ich mich wohl fühle.“ Also es war eher ein „Wohlfühl-Gefühl“, das mir wichtig war.

Bei Israel war es am Anfang auch so. Ich hab mir gesagt: „Das hätt ich nie gedacht, dass das passiert, und ich hab hin und her überlegt. Und dann war es wieder so, dass mir das Bauchgefühl sagt: ‚Aber Andi, geh dort hin, wird a richtig nette Challenge. Dann kannst du dich auch im Ausland beweisen als Cheftrainer.‘ Es war meine erste Station als Cheftrainer – dass du als Staatsfeind Nummer 1 (Herzog trug 2001 mit einem entscheidenden Treffer für Österreich gegen Israel zur WM-Teilnahme 2002 seines Landes bei, Israel schied aus), dass du die Meinung von Menschen drehen kannst.

Kannst du dein Bauchgefühl beschreiben?

Bei mir ist es schon so, dass der erste Gedanke, der erste Eindruck entscheidend ist, und dann ist schon sofort das Bauchgefühl da. So war es schon als junger Spieler. Also bei meinem ersten Transfer, die Leihstation von Rapid zur Vienna, wo ich mit dem Trainer gesprochen habe, und der ist mir sofort so sympathisch rübergekommen, weil er mich gekannt hat, ich ihn gekannt hab, den Ernst Dokupil, und dann kommt das Bauchgefühl und sagt sofort: „Ja, das wird funktionieren, weil da kommt gleich eine Art Sympathie rüber.“ Ist vielleicht auch ein Vorurteil, wenn man jemanden nicht kennt, aber der erste Eindruck ist schon für mich sehr entscheidend. Ich hab halt im Laufe meiner Karriere natürlich schon Menschen um mich gehabt, die ich schon länger gekannt hab, das ist ja dann nicht der erste Eindruck, das ist dann einfach wo du sagst: „Ok, mein erster Gedanke ist, bei dem Trainer könnte ich mich wohl fühlen, ich kenne ihn schon zehn Jahre, aber hab noch nie bei ihm Fußball gespielt, aber so wie wir über Fußball reden, das taugt mir, das passt mir gut.“

Und dann gibt es halt wieder Situationen wo du einem Menschen zum ersten Mal „Hallo“ sagst und schon beim „Hallo’ denkst, ‚Ich glaub, das wird nix!“

Änderst Du denn manchmal deine Meinung?

Ich achte schon immer auf den ersten Eindruck. Aber das beste Beispiel ist einer meiner besten Freunde Stefan Brasas: Der ist zu Werder Bremen gekommen und ging in die Kabine. Ich hab mir gedacht: „Was ist mit dem los?’ Weißt, groß, lange Haare, tätowiert am Körper, braungebrannt.“ Und ich komm heim und sag zu Kathi: „Kathi, was haben wir da für ein... bekommen.“ Sag I: „Weißt, das ist so ein Gockel, steht unter der Dusche, rasiert sich, das war 97, ist überall tätowiert, hat einen Zopf, hin und her, den kann ich nicht leiden, den kann ich nicht sehen.“ Unsympathisch total, sein Auftritt, sein Gehabe – heute ist er einer meiner besten Freunde. Als ich den Menschen näher kennen gelernt habe, lernte ich seine Art und sein Wesen doch zu schätzen.

Lässt sich das Bauchgefühl trainieren?

Jetzt sagst du, du triffst fünf Entscheidungen und davon vier aus dem Bauch heraus und eine anders und bist mit denen aus dem Bauch heraus besser gefahren. Ist das jetzt nicht ein Training, sondern eher eine Art Erfahrungswert? Und dann hörst du wahrscheinlich mehr auf das Bauchgefühl. Ob das trainierbar ist? Kann ich mir nicht vorstellen.

Sicherlich ist es wichtig, immer ganz klar in seinen Entscheidungen zu sein. Wenn du keine richtige Idee hast, und alles ist immer schwammig, dann überlegst du nur hin und her. Das geht mir mitunter auch so. Wenn ich überlege, soll ich den aufstellen oder den, aber dann treffe ich die Entscheidung und denke nicht mehr drüber nach – dann ist abgehakt.

Zwischenfrage: Du hast ja heute auch überlegt, ob du für den morgigen Sonntag in Straftraining ansetzen sollst (Herzogs Mannshaft hatte in einem Freundschaftsspiel 2:3 gegen Blau Weiß Linz verloren). Was hat letztlich dazu geführt, kein Straftraining anzusetzen? War das eine Kopf oder eine Bauchentscheidung?

Das war schon gemischt und hatte mehrere Gründe. Zum einen hätte es einfach keinen Sinn gemacht. Es wäre jetzt vielleicht einmal gewesen, dass sie merken, der Trainer war nicht zufrieden, wir müssen jetzt zum Training kommen. Ich hätt‘ mich halt ein bissl abreagiert, aber im Endeffekt hätte es keinen Sinn gemacht, weil wir wollen am Montag zweimal hart trainieren, das wäre dann nicht möglich gewesen. Morgen ist ein Scheiß-Wetter angesagt. Jetzt stell dir vor, ich komm da hin und sag „Wir machen Straftraining“ und dann kannst nicht rausgehen, weil ein Sturm geht mit 100 km/h. Dann sagen die Spieler: „Trainer, du bist eigentlich ein fester Trottel.“ Das war jetzt also nicht unbedingt das Bauchgefühl, sondern das war schon eine Abwägung, ob es Sinn macht - also das Für- und Wider abwägen...

Weshalb ist für dich Otto Rehhagel jemand, der vor allem auf sein Bauchgefühl hört?

Ja, also der Otto ist sicherlich jemand, der auf sein Bauchgefühl gehört hat und auf seine Frau, die Beate (lacht) – die Chefin. Im Endeffekt muss er das beantworten. Aber ich glaube, dass das auch eine Charaktereigenschaft eines Menschen ist, wenn du Situationen richtig einschätzen kannst, und wie wir gesagt haben: Wenn du klare Ideen hast, kannst du dich schneller entscheiden, dann hast du auch ein gutes Bauchgefühl. Wenn du immer alles abwägen musst, ist es auch eine Unsicherheit. Das Bauchgefühl ist das, wo du sagst: „Ich glaub, diese Entscheidung ist die beste.“ Und dann kommt auch ein Schuss Erfahrungswert hinzu. Entweder hast du die Erfahrung, weil du in der Vergangenheit es so und so gemacht hast, oder es kommt jetzt die sympathischere Variante, weil du sagst: „Das passt jetzt in der Situation einfach besser.“

Hast du als Spieler mehr auf dein Bauchgefühl gehört oder als Trainer?

Als Trainer musst du auch irgendwann einmal Entscheidungen treffen, wenn dir was nicht passt, musst du es so schnell wie möglich sehen und reagieren, aber im Spiel, in jedem Zweikampf musst du eine schnelle Entscheidung treffen, aus dem Bauch heraus. Gehe ich jetzt so hin oder so hin – und das 90 Minuten lang. Das ist schon die Intuition.

  • Werte, Prinzipien und Charakter: Zaubermeister des Fußballs

  • Andreas Herzog, Karin Helle, Wolfgang Ilkerl, Claus-Peter Niem: Mit Herz und Schmäh. egoth Verlag, Wien 2021.

  • „Eines kannst’ mir glauben – eine Kopie war ich noch nie!“ Interview mit Andy Herzog. In: Claus-Peter Niem und Karin Helle: Sollten Fußballtrainer mehr Bauchentscheidungen treffen, anstatt sich zu sehr von Daten leiten lassen? In: Bauchgefühl im Management. Die Rolle der Intuition in Wirtschaft, Gesellschaft und Sport. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. SpringerGabler Verlag 2021.

  • Claus-Peter Niem, Karin Helle: One touch. Was Führungskräfte vom Profifußball lernen können. Mit Einwürfen von Jürgen Klinsmann, Joachim Löw & Co. Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2016.

  • Claus-Peter Niem und Karin Helle: Vom Tun über das Können zur Meisterschaft. Wege zur Persönlichkeit. In: Visionäre von heute – Gestalter von morgen. Inspirationen und Impulse für Unternehmer. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. Verlag SpringerGabler, Heidelberg, Berlin 2018, S. Seiten 209-216.

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Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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