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Hängemattenmentalität: Schafft Deutschland sich ab?

Was der Wertewandel für die Zukunft des Standorts Deutschland bedeutet.

Steht Deutschland vor dem Abgrund? Können Menschen tatsächlich die Wohlfühloase nicht mit einer hohen Leistungsorientierung zusammenbringen, wie Michael Traub nahelegt? Geht alles den Bach runter – oder gibt’s Hoffnung?

Viele sehen den Wirtschaftsstandort Deutschland bedroht. Einerseits machen sie das an ausufernder Bürokratie, steigenden Energiepreisen, krassem Fachkräftemangel und verschleppter Digitalisierung fest. Andererseits wird aber auch eine zunehmende Hängemattenmentalität der Deutschen wahrgenommen und als problematisch identifiziert.

Doch was ist empirisch dran am Argument? Kann man gleichzeitig für Hängematte und Leistungskultur sein? Was sagt die empirische Evidenz dazu?

Woher kommt das Thema inhaltlich?

Für die Antwort hilft ein Blick in die Nachbarschaft. In der Politologie und Soziologie wird über derlei Fragen nämlich bereits sehr lange diskutiert, dazu liegen massig Daten vor, und Stand heute gibbet sogar eine (für wissenschaftliche Verhältnisse) einigermaßen eindeutige Antwort.

Früher hätte man Herrn Traub klar zugestimmt. Der amerikanische Politologe Ronald Inglehart machte nämlich bereits ab 1977 datenbasiert drei höchst bemerkenswerte Beobachtungen.

  1. Inglehart fand einen Unterschied zwischen „materialistischen“ und „postmaterialistischen“ Werten. Materialistische Werte beinhalten nach Inglehart neben dem Streben nach Geld und Macht auch eine Präferenz für Stabilität, Sicherheit und Ordnung. Bei den postmaterialistischen Werten hingegen geht’s um Selbstverwirklichung, Teilhabe und Freiheit.

  2. Inglehart sieht eine Unvereinbarkeit dieser Werte. Wer also materialistischer drauf ist, tut dies auf Kosten des Postmaterialistischen und umgekehrt. Mit dieser Argumentation ist Inglehart keineswegs allein. Auch im Wertemodell des Sozialpsychologen Milton Rokeach stehen sich „Harmony“ und „Mastery“ oder „Egalitarianism“ und „Hierarchy“ gegenüber.

  3. Drittens stellt Inglehart einen Wandelwandel von materialistischen zu postmaterialistischen Werten fest. Er begründet dies auf vielfältige Weise, insbesondere aber mit Mangelerleben nach dem Krieg (wer mal wirklich hungern musste, dem ist nach Inglehart die Selbstentfaltung schnuppe und das bleibt so) sowie mit der Sozialisation (wenn die Eltern materialistische Nöte hatten, dann wird die entsprechende Orientierung an die Kids weitergegeben). Diese Denke ist angelehnt an die berühmte Wertepyramide von Maslow (die übrigens gar nicht von Maslow ist).

Im Prinzip sagt Inglehart also genau das aus, was aktuell häufig zu hören ist. Die Deutschen werden immer fauler, dadurch verlieren wir gesellschaftlich an Biss, und das macht die Situation nur noch schlimmer. Das ist sozusagen die pessimistische Sicht.

Zwei Perspektiven auf das gleiche Phänomen

Das kann man sicherlich so sehen, und es ist auch begründbar. Wahrscheinlicher ist jedoch etwas deutlich Erfreulicheres. Das ist die optimistische Sicht.

Die Werteordnung ist nämlich nicht eindimensional. Es war der deutsche Soziologe Helmut Klages, der Mitte der 80er-Jahre erstmalig eine zweidimensionale Struktur nachweisen konnte. Und die widerspricht der pessimistischen und etabliert die optimistische Perspektive.

Nach Klages gibt es zwar durchaus Pflicht- und Akzeptanzwerte (Materialismus) und Selbstentfaltungswerte (Postmaterialismus). Diese stehen sich aber nicht unversöhnlich gegenüber. Sie ergänzen sich. Ein sehr ausgeprägtes Pflichtempfinden lässt sich also durchaus mit Selbstentfaltung kombinieren. Und nicht nur das.

Wohlfühloase und Leistungsoriengierung sind nicht nur kompatibel, nein, beides zusammen ist sogar die Idealausprägung. Klages nennt das die „Wertesynthese“. Moderne und traditionelle Werte schließen sich nicht aus, sondern befruchten sich. Die Menschen, die das miteinander verbinden, tauft Klages die „aktiven Realisten“. Aber es wird noch besser: diese aktiven Realisten bilden die größte gesellschaftliche Gruppe. Toll oder?

Die Welt geht nicht unter. Holland ist nicht in Not. Deutschland schafft sich nicht ab. Es gibt Hoffnung 😉

Wo Politologie, Soziologie und BWL mal gleich schwingen

Diese Erkenntnisse aus Politologie, Soziologie und Psychologie passen übrigens sehr gut zu dem, was die BWL seit geraumer Zeit, wenn auch mit etwas anderen Schwerpunkten, beobachtet.

Der Kern der Parallele: die Zeiten von „Entweder-oder“ sind vorbei und einem klaren „Sowohl-als-auch“ gewichen.

Stichworte dafür gibt es viele, aber wer mal organisationale Ambidextrie, paradoxe Führung, Balance Management oder Dilemmatheorie googelt, wird förmlich erschlagen. Lustiger Weise verliefen die theoretischen Entwicklungen sogar parallel. Als Inglehart an seiner Theorie des Wertewandels saß, argumentierte man in der BWL noch in ähnlichen Mustern. Parallel hatte sich Robert B. Duncan aber im Jahre 1976 erstmalig für duale Strukturen ausgesprochen, um augenscheinlich gegensätzliche Ziele parallel zu erreichen. Er nannte das damals erstmalig „Ambidextrie“ und der Ausdruck hat sich bis heute erhalten. Aber genug der Historie, springen wir ins Heute.

Da haben wir ja, meinetwegen mal bezogen auf Führung, genau diese Herausforderung der gegensätzlichen Ziele andauernd. Führungskräfte sollen alle gleich behandeln, aber bitteschön trotzdem total individuell. Sie sollen aufmerksam zuhören, aber gleichzeitig eine attraktive Vision skizzieren. Und sie sollen zwar die Arbeitsanforderungen klar äußern, aber doch bitte auf Flexibilität achten. Und so weiter. Quadratur des Kreis? Das scheint nur so. Tatsächlich kann das wunderbar klappen und viele Menschen schaffen das auch.

Fazit

Insofern machen wir hier mal nen Punkt und kommen zum Fazit. Ja, es gibt einen klaren und beschreibbaren Wertewandel in Deutschland. Nein, das bedeutet nicht den Untergang des Abendlandes. Das ist aber leider zugleich keine Entwarnung. Denn auch wenn eine „Verweichlichung“ der Menschen keine negativen Konsequenzen für unser Land mit sich bringen muss. Bürokratie, Energiepreise, Fachkräftemangel und Digitalisierungsdefizit gibt’s ja trotzdem noch. Am besten können wir dem nachkommen, indem wir die Menschen mehr ermächtigen. Ich mein: wie cool ist das denn? Die optimistische Sicht ist die, die sich datenbasiert nachweisen lässt. Mensch. Is dat schön!

Dennoch ergeben sich Fragen für die Gestaltung unserer Arbeit:

Wie sinnvoll sind die Regeln, die ihr aktuell habt? Braucht ihr die wirklich alle? Wo könnt ihr Freiräume schaffen? Es gibt sehr gute Gründe, warum sich die deutsche Wirtschaft Fragen wie diese genau jetzt stellt. Ihr auch?

Kommentare

Ralf Lanwehr schreibt über Führung & Transformation

Ralf beschäftigt sich mit harten Fakten zu weichen Themen aus dem Dreieck Psychologie-BWL-Mathe. Er berät DAX-Vorstände, trainert Führungskräfte und coacht Bundesligatrainer. Die eigene Karriere als Kicker blieb trotz seiner Zeit als Stürmer in der 3. mosambikanischen Liga verdientermaßen aus.

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