Navigation überspringen
article cover
Pixabay

„Ich appelliere an den Verstand“: Zur Aktualität von Bertolt Brecht

Der Vorwurf, dass Bertolt Brecht nicht mehr zeitgemäß sei, ist nicht neu. Bereits 1978 bemerkte der Literaturkritiker Hellmuth Karasek: Brecht ist „tot, […] mausetot“. Aber er lebt noch immer, weil er nach wie vor gelesen und seine Dramen auf deutschen Bühnen noch immer gespielt werden. Er wollte zum Denken anregen und nutzte dazu im Theater - vor allem den Verfremdungseffekt. Durch ein unemotionales Spiel sollte sich das Publikum möglichst mit keiner Figur identifizieren. "Das Gefühl ist Privatsache und borniert", so der Dichter. Die Gefühle werden meistens von den Ansichten hervorgerufen. „Sie laufen mit. Die Ansichten hingegen sind entscheidend. Nur die Erfahrung ist zuweilen in höherem Grade primär.“ Den Verstand hingegen hielt Brecht für „loyal und relativ umfassend.“ Sein Gefühl ließ er deshalb in die dramatische Gestaltung nicht hineinfließen, denn es „würde die Welt verfälschen.“

Dies gehört auch in aktuelle Debatten zum Thema Emotionen, die kritisches Denken und wissenschaftliche Evidenz nicht ersetzen können. Das erörtert beispielsweise Steve Pinker in seinem Buch „Mehr Rationalität“. Der Harvard-Psychologe, Kognitionswissenschaftler und Linguist ist der Meinung, dass wir uns der „objektiven Wahrheit“ am besten durch rationales Verstehen nähern können. Zum Denken und Verstehen regte im Theater, so Brechts Ansicht, nur die Distanz zum Stück an. Dies war ein enormer Unterschied zum Theater damals, das durch Illusionen vor allem unterhalten wollte. 1922, als in den Münchner Kammerspielen erstmalig ein Stück von ihm aufgeführt wurde, hängte er Plakate für die Zuschauer auf: „Glotzt nicht so romantisch!“ Ob er heute mit emotionalen Netflix-Serien und Schauspielern auf Bühnen, die stets hell ausgeleuchtet sind, etwas anfangen könnte? Nur wenige sind noch Institutionen des Denkens.

Dazu gehört zum Beispiel die Schlichtheit und Eigenwilligkeit ihrer Kleidung, die sie keine Zeit vergeuden lässt und nicht vom Denken abhalten soll. Schon der junge Brecht trug "jene ewige Mütze, die in der Unterwelt üblich war“ und eine Jacke aus schäbigem Leder. Ab den 1930er-Jahren erschien er als „Arbeitermönch mit Kutte und Schiebermütze“ (so beschrieb ihn der junge Marcel Reich-Ranicki in einer polnischen Literaturzeitung zu Beginn der 1950er-Jahre). Auch der Facebook-Gründer Mark Zuckerberg trägt täglich Turnschuhe und ein graues T-Shirt, zu dem er manchmal einen "Hoodie" kombiniert. Der verstorbene Apple-Gründer Steve Jobs trug ebenfalls jeden Tag einen dünnen, schwarzen Rollkragenpullover, Jeans und Turnschuhe.

Zuckerberg begründete seine Entscheidung zur Schlichtheit gegenüber seinen Mitarbeitenden einmal so: Er habe einmal gelesen, dass jede Entscheidung den Menschen anstrenge (auch das Anziehen). Das kann „Energie aussaugen" https://www.manager-magazin.de/digitales/it/warum-facebook-gruender-mark-zuckerberg-immer-graue-t-shirts-traegt-a-1001731.html. Davon wollte er sich schon als junger Mensch frei machen. Er wollte sich nur auf seine Aufgabe konzentrieren, „der Gemeinschaft zu dienen". Seine Energie wollte Zuckerberg nur für sein Produkt nutzen – so wie Brecht für sein Theater, wo - wie Karl Marx in seiner „Kritik der politischen Ökonomie“ - die realen Vorgänge hinter dem Schein hervortreten lassen wollte. Die Welt sollte nicht bloß realistisch auf der Bühne abgebildet werden, sondern Zusammenhänge, Strukturen und Gründe im Fokus stehen (die „Vorgänge hinter den Vorgängen“).

Die Wahrheit wollte er lehren und verbreiten. Dazu bedarf es eines klaren und deutlichen Ausdrucks, damit die Bedeutung nicht missverstanden wird. Brechts Nüchternheit findet sich auch auf seinem Grabstein, auf dem ganz einfach steht: Bertolt Brecht. Geboren wurde er am 10. Februar 1898 in Augsburg als Sohn eines Fabrikdirektors. Von 1917 bis 1918 studierte er an der Ludwig-Maximilians-Universität München Naturwissenschaften, Medizin und Literatur. Er musste es jedoch 1918 unterbrechen, weil er in einem Augsburger Lazarett als Sanitätssoldat eingesetzt wurde. Sein Durchbruch als Autor gelang ihm mit dem Revolutionsstück "Trommeln in der Nacht", das 1922 in München uraufgeführt wurde. Von 1924 bis 1926 war er Regisseur an Max Reinhardts Deutschem Theater in Berlin. Am 28. Februar 1933 flüchtete er mit seiner zweiten Frau, der Jüdin Helene Weigel und den gemeinsamen Kindern über Prag, Wien und Zürich nach Dänemark, später nach Schweden, Finnland und in die USA. Während des Krieges wurde ihm bewusst, „dass es eine Kunst ist, wahrhaft Mensch zu sein“ - und dass es Pflicht seiner Kunst ist, „wirkliche Menschen darzustellen, nichts als das.“

Seine Exiljahre sind seine produktivste Zeit: Hier entstehen "Das Leben des Galilei", die "Mutter Courage" und "Herr Puntila". Im Oktober 1948 kehrte Brecht nach Berlin zurück. Gemeinsam mit Helene Weigel gründete er 1949 das "Berliner Ensemble" - sein eigenes Theater. Allerdings wurde seine künstlerische Freiheit durch Funktionäre der SED zunehmend beschnitten. Seine Reaktion auf den Aufstand vom 17. Juni 1953 ist umstritten: Öffentlich bekannte er seine Verbundenheit mit der SED, später stellts sich allerdings heraus, dass das Regime seine Forderung nach einer Auseinandersetzung mit den Forderungen der Aufständischen verschwieg. Bertolt Brecht starb am 14. August 1956 im Alter von 58 Jahren an einem Herzinfarkt. Der Tod hob ihn, wie Peter Suhrkamp in seinem Nachruf schrieb, „aus dem Streit des Tages heraus“. Drei Tage später wurde er in Berlin auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof begraben. Seinem Wunsch gemäß wurde er ohne Trauerreden in einem Stahlsarg beerdigt.

Dass der Klassiker der Moderne auch ein wirkmächtiger Medienkünstler war, zeigen die 91 erstmals versammelten, größtenteils unbekannten Interviews, die zwischen 1926 und 1956 geführt wurden. Der Herausgeber Noah Willumsen sammelte zunächst 30 Stück, gewann den Suhrkamp-Verlag als Partner, der zunächst nur an ein schmales Bändchen dachte. Allerdings kamen bald Einführungen zu den Interviews dazu sowie eine Vielzahl von Fußnoten, die beschreiben, was aus Brechts in den Interviews beschriebenen Ideen geworden ist. Willumsen arbeitete fünf Jahre an diesem Buch und verbrachte die meiste Zeit im Brecht-Archiv in Brechts letztem Wohnhaus an der Chausseestrasse in Berlin. Er studierte Literatur und Philosophie in Pittsburgh und Berlin, war wissenschaftlicher Mitarbeiter am DFG-Graduiertenkolleg „Literatur- und Wissensgeschichte kleiner Formen“ und promovierte bei Joseph Vogl über die Geschichte des Interviews von Brecht bis Heiner Müller.

Sein Buch ist nicht nur medientheoretisch von Interesse – die Vorschläge, die Brecht in seinen Interviews macht, bringen uns wieder zum Denken: bedeutungsvoll, klar und präzise. Das Wesentliche wird hier auf den Punkt gebracht, indem beispielsweise auch Bertolt Brechts Gabe gezeigt wird, verstreute, einander jagende Gedanken in logische Kategorien zu fassen und ein Gespräch mit präzisen, drastischen Formulierungen bei den Fragen festzuhalten, auf die es auch heute noch ankommt: Wie bekämpft man die Dummheit? Wie sieht eine neue Welt aus?

  • Bertolt Brecht: „Unsere Hoffnung heute ist die Krise“. Interviews 1926-1956. Herausgegeben von Noah Willumsen. Suhrkamp Verlag, Berlin 2023.

Kommentare

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

Artikelsammlung ansehen