Jeder ist ein Original: Wie uns Salvador Dalí heute den Spiegel vorhält
In den 1970er-Jahren wandte sich Salvador Dalí dem Tarot zu. Bis dahin hatten namhafte Dichter und Erzähler wie T. S. Eliot oder Italo Calvino die Tarot-Symbole bereits kunstvoll bearbeitet. Dalí war allerdings der erste prominente Bildkünstler, der einen kompletten Satz von 78 Tarot-Karten neu schuf. Davon werden 22 als große Karten oder Arkana und 56 als kleine Karten oder Arkana bezeichnet. Die großen Karten stellen große Stationen des Lebens (Liebe, Tod oder gravierende Veränderungen) dar. Die kleinen Karten bezeichnen unter anderem Charaktere, Typen oder Temperamente. Das Tarot Universal Dalí verbindet Künstler der Renaissance mit den Meistern der klassischen Moderne bis ins 20. und 21. Jahrhundert. Die Grenzen zwischen Kunst und Leben, Geist und Handwerk, Möglichkeit und Wirklichkeit verschwimmen. Das Kartenset wurde zunächst als signierte Grafikserie in limitierter Auflage publiziert.
Um die Entstehung ranken sich viele Legenden. Vermutlich halfen seine Assistenten bei der Vorbereitung von Gemälden. Behauptet wird auch, dass Dalís Freundin Amanda Lear sogar einige dieser Karten gemalt hat. Dafür fehlen jedoch seriöse Quellen. Als sicher gilt aber, dass Dalís Frau Gala schon immer eine eifrige Kartenlegerin war (auch zu Franco-Zeiten, als es verpönt und verboten war). Im Kreis einiger Surrealisten wurde bereits 1941 in Marseille ein Tarot mit 22 Karten neu gezeichnet. 1966 veröffentlichte Dalí ein Deck Spielkarten (mit zweimal 54 Blatt) in einem Pariser Verlag.
Salvador Felipe Jacinto Dalí i Domènech wurde 1904 im katalanischen Figueres geboren. Seine künstlerische Begabung fällt bereits in der Schule auf. 1912 zog die Familie hier in ihr neues Heim an der Carrer Monturiol 24. Eine der beiden Waschküchen auf der Dachterrasse des Hauses wurde für den jungen Dalí zu seinem ersten Atelier. Der Vater schenkte ihm viele Kunstbücher des Verlags Gowans & Gray, London und Glasgow. Jeder Band enthielt 60 Reproduktionen berühmter Werke alter Meister. In seinem Buch „Das geheime Leben des Salvador Dalí“ schreibt er: „Diese kleinen Monographien, die mir mein Vater so frühzeitig geschenkt hatte, hatten eine Wirkung auf mich, die zu den entscheidendsten meines Lebens gehörte. Ich lernte all diese Bilder der Kunstgeschichte auswendig, die mir seit meiner frühesten Kindheit vertraut waren, da ich ganze Tage damit verbrachte, sie zu betrachten.“
Erste Bilder des 14-Jährigen wurden 1918 im heimischen Stadttheater ausgestellt. In der von ihm und einigen Mitschülern im gleichen Jahr gegründeten Schülerzeitung „Studium“ kommentierte Dalí im Jahr 1919 unter dem Titel „Die großen Meister der Malerei“ die Werke von Leonardo da Vinci, Michelangelo, Velázquez, Goya, El Greco und Dürer. Die Auswahl der Bildzitate für die Tarot-Karten sind vor diesem Hintergrund wohl nicht zufällig, sondern beruhten auf entsprechender Kenntnis.
Für die Uraufführung (1927) des Theaterstückes „Mariana Pineda“ seines Freundes García Lorca entwarf Dalí Bühnenbild und Kostüme, mit Buñuel drehte er 1929 den Film „Ein andalusischer Hund“. Dabei traf er auf die Surrealisten André Breton und Paul Éluard, in dessen Frau Gala er sich verliebte. Sie war fortan seine Geliebte, Frau und Muse. Nach einer Einzelausstellung mit seinen Werken in Paris folgte 1933 die erste US-amerikanische Einzelausstellung. 1934 reiste er in die USA. Weitere Ausstellungen in London und New York waren sehr erfolgreich. Seit seiner Jugend war Dalí ein Verehrer des Psychoanalytikers Sigmund Freuds, den er im Juli 1938 persönlich kennenlernte (Brief an André Breton). Freud habe unter anderem ausgeführt, dass „man bei den Bildern der alten Meister dazu neigt, sofort nach dem Unbewussten zu suchen, während man, wenn man ein surrealistisches Bild betrachtet, sogleich den Drang verspürt, nach dem Bewussten zu fragen“ (aus dem Nachlass von André Breton).
Für die Weltausstellung 1939 in New York entwarf er den Traum der Venus. 1940 flüchteten Salvador und Gala vor dem Krieg in Europa und gingen nach Amerika, wo 1941 eine erste Retrospektive seiner Werke gezeigt wurde und seine Autobiografie „The Secret Life of Salvador Dalí“ erschien. 1948 kehrten beide nach Spanien zurück, wo Dalí weiterhin malte, schrieb und inszenierte. Der Tod Galas 1982 traf den von Depression und Krankheit Gezeichneten schwer. 1984 erlitt er bei einem Brand in seinem Schlafzimmer schwere Verbrennungen. Am 23. Januar 1989 starb er und wurde auf seinen Wunsch hin unter der Bühne seines Museums in Figueres beigesetzt.
Die bewegte Geschichte seines neuen Künstler-Tarot mit 78 Bildzitaten aus der abendländischen Kunst, die von der Antike bis zur Neuzeit, zu seinen eigenen Kunstwerken, reichen, erzählt Johannes Fiebig, einer der erfolgreichsten Autoren auf dem Gebiet des Tarot und einer der führenden Experten für die psychologische Interpretation von Symbolen und Orakeln, in seiner Einführung in Dalís Leben und das Making-of des Projekts, das TASCHEN nun wieder aufgelegt hat (das Werk erschien zuerst 1984 in einer limitierten, mittlerweile längst vergriffenen Art Edition).
Karte Nummer eins repräsentiert die Gestaltungskraft jedes Menschen und seinen persönlichen Lebensweg. Der Künstler zeigt ihn als Magier mit gezwirbeltem Schnurrbart. Vor ihm befindet sich ein Tisch mit Gegenständen, die seine bekanntesten Gemälde zitieren wie die zerfließenden Uhren, Brot und Wein. Die Sechs (die Liebenden) zeigt den Schmetterling, das bekannteste Symbol des Unterbewusstseins: Er kämpft sich viele Stunden durch das enge Loch im Kokon. Wenn er halb heraussieht, scheint es, als ob er steckenbleibt und nichts mehr vorwärts geht. Die Natur hat es so eingerichtet, dass das Drücken und Schieben durch den schmalen Ring des Kokons die Flüssigkeit in die Flügel drückt, damit sie sich entfalten können. Tritt diese Tarot-Karte beim Legen auf, sollte man sich mit dem Thema Liebe beschäftigen. Dalís Frau und Muse Gala tritt hier als Herrscherin in Erscheinung, wobei er sie nach Vorlage der heiligen Helena stilisiert (Mutter Konstantins des Großen). Sinnbildlich steht sie für die Kraft der Weiblichkeit - sie hält den Zepter und einen Reichsapfel.
Für die „Zehn der Schwerter“, die allgemein für Geistesgegenwart und Intellektualität stehen, bedient sich der Künstler bei Vincenzo Camuccinis „Die Ermordung des Julius Caesars“ von 1805. „Der Tod“ muss nicht das Endes des eigenen Lebens bedeuten, sondern kann auch für das Ende eines langen Prozesses stehen. Dalí fügt zum Totenkopf auch lebens- und liebesbejahende Objekte ein, wie eine blühende Rose, eine Zypresse und eine im Himmel schwebende Schwalbe. „Man kann tot sein, lange bevor man stirbt, und leben, lange nachdem man gestorben ist“, heißt es im Buch.
Astrologen verweisen häufig auf Goethes Orphische Urworte oder den Beginn seiner Autobiografie „Dichtung und Wahrheit“, um die Nähe des Dichters zur Astrologie zu belegen. Die letzten Sätze am Ende des zwanzigsten Buches zeigen Goethes Schicksalsauffassung, aber auch wie das Gleichgewicht zwischen dem Unbewussten und der bewussten Gestaltung seines Lebens gefunden werden kann: „Kind, Kind! nicht weiter! Wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht gehen die Sonnenpferde der Zeit mit unsers Schicksal leichtem Wagen durch, und uns bleibt nichts als mutig gefaßt, die Zügel festzuhalten, und bald rechts, bald links, vom Steine hier, vom Sturze da die Räder abzulenken. Wohin es geht, wer weiß es? Erinnert er sich doch kaum, woher er kam.“
Dies steht im Kontext des Tarot: Die siebte Karte in der großen Arkana zeigt den Wagen. Der Wagenlenker steht unter gestirntem Himmel in seinem Wagen und trägt die Symbole des Unbewussten (die sichelförmigen Monde) auf den Schultern. An Stelle der Sonnenpferde ziehen hier zwei Sphinxen den Wagen. Auch der deutsche Film „Tarot“ (1986) von Rudolf Thome verwendet Motive aus Goethes „Wahlverwandtschaften“.
Zum Tarot-Kartenlegen gehört neben der Symboldeutung auch der Mut, sich selbst in die Augen zu schauen. Jeder ist ein Original: einzig (nicht artig) und auf eine bestimmte Art begabt und schöpferisch. Die Karten, die das Wesen eines Menschen, seine Veranlagungen und emotionalen Quellen, sagen die Zukunft nicht voraus, sondern zeigen die Gegenwart und den Charakter eines Menschen, der durch das, was er tut, auch Einfluss darauf hat, wie seine Zukunft sein wird. Was am Ende wirklich zählt, sind die konkreten Taten und stimmige Entscheidungen.
Weiterführende Informationen:
Dalí: Tarot. TASCHEN Verlag, Köln 2019.
Das geheime Leben des Salvador Dalí, Schirmer/Mosel, München 1990.