Jobwechselwilligkeit der Deutschen im Realitäts-Check: Was ich als Karrierecoach täglich erlebe
Mehr als ein Drittel der deutschen Arbeitnehmenden ist offen für einen Jobwechsel. Wofür sie ihren aktuellen Arbeitgeber hinter sich lassen und neue Job-Chancen ergreifen würden, offenbart die XING Wechselbereitschaftsstudie. Ob sich das mit meinen Erfahrungen als Karrierecoach deckt, verrate ich in diesem Artikel.
Wie offen sind die deutschen Beschäftigen für einen Jobwechsel? Dieser Frage geht XING seit mehr als einem Jahrzehnt gezielt nach. Auch die diesjährige forsa-Langzeitstudie zur Wechselbereitschaft im Auftrag des Jobs-Netzwerks liefert wieder Umfrageergebnisse zur Suche nach oder dem Nachdenken über berufliche Veränderungen. 3.413 volljährige, sozialversicherungspflichtige Erwerbstätige in Deutschland wurden für die diesjährige Auswertung vom renommierten Meinungsforschungsinstitut befragt.
Einige Umfragewerte haben mich überrascht. Zum Beispiel der starke Optimismus, der im Gegensatz zur wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland steht. Laut Studie ist mehr als ein Drittel der Beschäftigten in Deutschland weiterhin offen für neue berufliche Herausforderungen.
Die meisten Ergebnisse konnte ich mir jedoch durch meine Erfahrung als Job-Coach und Karriereberater erklären oder herleiten. Schließlich bin ich durchgehend im Kontakt mit „Wechselwilligen“. Also den Menschen, die neue berufliche Perspektiven suchen.
Die für mich persönlich interessantesten Ergebnisse aus der XING Wechselbereitschaftsstudie möchte ich in diesem Artikel einordnen.
Welche Generation ist besonders wechselwillig?
Die GenZ (Jahrgänge 1997 bis 2012) ist erwartungsgemäß die dynamischste Gruppe auf dem Arbeitsmarkt: Fast die Hälfte (48 %) ist offen für einen Jobwechsel, und 11 % haben ihren Ausstieg sogar schon konkret geplant.
Die Identifikation mit einem Unternehmen und damit langfristige Bindung an einen Arbeitgeber spielt für viele Angestellte heute keine große Rolle mehr. Beeinflusst durch die Coronakrise haben viele für sich erkannt, was für sie im Leben wirklich zählt. Sie sind nicht mehr bereit, unpassende Rahmenbedingungen, schlechte Führungskräfte oder fehlende Entwicklung auszuhalten.
In der Karriereberatung sehe ich in den vergangenen Jahren immer deutlicher, dass Arbeitnehmer auch nach langer Zeit bei einem Arbeitgeber oder mit über 50 Lust auf Neues haben, mehr Sinn oder Selbstverwirklichung suchen und ihr Projekt „Jobwechsel“ aktiv angehen. Besonders auffällig ist dies bei jüngeren Generationen: Passt etwas nicht, dann wird nicht mehr an Konflikten gearbeitet, sondern schneller gewechselt.
Was sind die Gründe für einen Jobwechsel?
Zu den häufigsten Gründen, warum viele trotz allem über einen Jobwechsel nachdenken, zählt an erster Stelle ein zu niedriges Gehalt (38 %). Direkt dahinter liegen ein hohes Stresslevel und Unzufriedenheit mit der Führungskraft (jeweils 36 %). Auch fehlende Aufstiegschancen spielen mit 30 % eine große Rolle.
Es sind häufiger die Rahmenbedingungen in einer Organisation als die Aufgaben und Tätigkeiten, die Arbeitnehmer zu einem Wechsel bewegen: Die Führungskraft als Micromanager, fehlender Freiraum für eigene Mitgestaltung, keine Entwicklungsperspektiven, zu viel langweilige Routine im Tagesgeschäft.
Sicher freut sich jeder über mehr Gehalt bei einem Wechsel, doch ich sehe im Coaching, dass dies selten der ausschlaggebende Grund ist. Mitarbeitende mit Geld zu binden, zahlt sich daher meist nicht aus. Es ist entscheidend, ihre persönlichen Werte und Ziele im Beruf zu erkennen und gemeinsam daran zu arbeiten, dass diese wieder stärker erfüllt sind.
Was sind die Top-Gründe gegen einen Jobwechsel?
Mitarbeitende, die ihrem Arbeitgeber langfristig treu bleiben möchten, haben klare Prioritäten: Kollegialer Zusammenhalt (61 %), Jobsicherheit (60 %) und interessante Aufgaben (58 %) sind die wichtigsten Gründe. Immerhin die Hälfte (53 %) zeigt sich auch mit ihrem aktuellen Gehalt zufrieden.
Ein sehr gutes kollegiales Miteinander hält in meiner Wahrnehmung viele Arbeitnehmer mitunter auch zu lange in nicht mehr passenden Jobs, die ihnen Kraft rauben. Das, was sie belastet, wird oft lange Zeit noch durch Spaß im Team kompensiert. „Ich kann doch meine Kollegen nicht im Stich lassen“, höre ich häufig und oft bereits verbunden mit einer Opferhaltung im Kampfmodus „Wir Kleinen hier unten gegen die Mächtigen da oben“.
Dies ist weder für den Einzelnen noch das Team und die ganze Organisation gesund. Im Coaching erkennen viele, dass Kollegialität für sie nicht alles ist. Sie machen sich bewusst, was sie bei einem Wechsel auch aufgeben, doch höher wiegt die Chance, eine neue Rolle mit spannenden Aufgaben sowie ein Umfeld zu finden, das besser zu ihnen passt.
Was ermutigt Beschäftigte zum Jobwechsel?
Die Zuversicht auf dem Arbeitsmarkt ist bemerkenswert hoch: 64 % der Beschäftigten glauben, innerhalb von sechs Monaten einen neuen Job zu finden. Noch dazu berichten 72 % von positiven Erfahrungen beim letzten Jobwechsel. Diese Kombination aus Optimismus und guter Erfahrung dürfte viele ermutigen, den nächsten Karriereschritt aktiv anzugehen.
Krisen halten Arbeitnehmer inzwischen nicht mehr davon ab, aktiv über einen Jobwechsel nachzudenken. Zu Beginn der Coronakrise 2020 habe ich einen Ansturm freiwilliger Jobwechsler im Karriere-Coaching erlebt. Krisen bringen uns dazu, unser Leben zu reflektieren, und lassen uns erkennen, was im Leben wirklich wichtig ist. Aktuell kommen etwa 50 Prozent meiner Klientinnen und Klienten zu mir, weil sie eine Kündigung erhalten haben.
Meist sind es langjährig bei einem Arbeitgeber Beschäftigte, die im Rahmen von Stellenabbau-Programmen das Angebot eines Aufhebungsvertrags angenommen haben. Die andere Hälfte meiner Klienten spürt oftmals bereits lange eine schwelende Unzufriedenheit und möchte an Möglichkeiten einer Veränderung arbeiten. Manchmal geht es auch um den Plan B samt Lebenslauf in der Tasche, um im Fall eines Jobverlusts vorbereitet zu sein.
Was sollte ein neuer Arbeitgeber bieten?
Die Erwartungen an einen neuen Arbeitgeber sind klar: An erster Stelle steht Jobsicherheit (69 %), gefolgt von mehr Gehalt (65 %, 2024: 61 %) und gutem Führungsverhalten (63 %, 2024: 66 %).
Wenn ich mit Absolventen oder jungen Berufseinsteigern über ihre Werte im Beruf spreche, dann zeigt sich häufig, dass ihnen die Kombination von Sicherheit und Freiheit wichtig ist. Sie wünschen sich ein unbefristetes Arbeitsverhältnis, viel Halt und Struktur sowie eine Führungskraft, die klare Leitplanken setzt.
Gleichzeitig wünschen sie sich Flexibilität der Arbeitszeit, möchten selbst über den für sie idealen Arbeitsort entscheiden und viel mitgestalten. Dieses Verlangen insbesondere junger Generationen nach „Freiheit in Sicherheit“ ist heute noch eine Herausforderung für viele Organisationen und Führungskräfte.
Was ist dir an deinem (aktuellen oder zukünftigen) Job wichtig? Ich freue mich auf deinen Kommentar unter diesem Artikel.