Kehrt das Arbeitszimmer im 21. Jahrhundert zurück?
Mit der Digitalisierung ist das Arbeitszimmer aus den Wohnungen verbannt worden.
Lange Zeit prägte es das Selbstverständnis des Bürgertums. Dieser Raum zeigte, wer man war (oder sein wollte). Aufgewertet wurde es mit zahlreichen Utensilien wie Stifthalter, Tintenlöscher, Brieföffner oder Fotos. Auch Feder, Federmesser, Tintenfass, Siegellack und Petschaft gehörten zur Schreibtischgarnitur des bürgerlichen Haushalts im 19. Jahrhundert. Das belegt besonders eindrucksvoll eine Fotografie, die 1894 anlässlich des 75. Geburtstages von Theodor Fontane aufgenommen wurde und den Schriftsteller in seiner letzten Berliner Wohnung in der Potsdamerstraße 34 inmitten von Manuskripten und Objekten zeigt. Doch schon zu Zeiten der Römer waren Arbeitszimmer repräsentative Räume. Wer in Rom Hof hielt, bat zu Unterredungen in sein Tablinum.
In Weimar kann das Arbeitszimmer von Friedrich Schiller besichtigt werden. Sein Schreibtisch steht neben einem Bett. In unmittelbarer Nähe befindet sich das Goethes Wohnhaus mit dem Arbeitszimmer des Meisters. In der Mitte des Raumes steht ein einfacher Tisch, an dem nicht er, sondern sein Schreiber saß, dem Goethe im Gehen diktierte. Für viele Menschen ist seine Wohn- und Wirkungsstätte am Weimarer Frauenplan 1 noch immer ein Ort der Inspiration und Produktivität. Das galt lange Zeit aber auch generell für das Arbeitszimmer. Bertolt Brecht soll angeblich den Blick aus seinem Arbeitszimmer in mehreren Gedichten verarbeitet haben. „Ein vertrautes Umfeld sei sehr bedeutsam für einen Schriftsteller“, notierte Thomas Mann 1941 auf Englisch und meinte damit seine eigenen Bücher und Wände, die Aussicht aus seinem Arbeitszimmer („his accustomed books and walls, the view from the window of his study“), vor allem aber seinen eigenen Schreibtisch („his own desk“).
Für ihren Mann habe „Atmosphäre“ alles bedeutet, sagte seine Frau Katia einmal, und eine heimatliche Atmosphäre setze immer den eigenen, unverwechselbaren Schreibtisch voraus. Sein Mahagoni-Schreibtisch, den er Ende der zwanziger Jahre in München erworben hatte und der auch Platz „für allerlei Allotria“ („Kuriositäten, Raritäten und Fifferullchens“) bot, wurde zu einem Wegbegleiter auf den verschiedenen Stationen des Exils. 1933 traf er zusammen mit anderen Möbelstücken im schweizerischen Küsnacht ein. Später folgte er ihm in die Vereinigten Staaten und stand dort in seinem Arbeitszimmer in Princeton (New Jersey) und Pacific Palisades (Kalifornien). 1952 kehrte der Schreibtisch schließlich in die Schweiz zurück (erst nach Erlenbach, dann nach Kilchberg bei Zürich). Um konzentriert schreiben zu können, brauchte Thomas Mann seinen festen Platz und die gewohnte Ordnung samt vertrauter Utensilien. Sie vermittelten ihm das Gefühl von Sicherheit und Kontinuität. Es war für ihn undenkbar, in einem Café oder im öffentlichen Raum Texte zu schreiben, die einen langen Atem brauchen.
Nachhaltigkeit braucht einen (Rückzugs-)Ort, an dem sie gedeihen kann.
Später hielten die Schreibmaschine und das Telefon Einzug ins Arbeitszimmer – und schließlich der Computer. Durch die Digitalisierung schrumpften auch die Dinge, und das alte Inventar des Arbeitszimmers verschwand. Gleichzeitig veränderte sich die Arbeit selbst und wurde mobiler. Ungenügende Möglichkeiten vor allem in Großraumbüros, stillen Arbeiten nachzugehen, führten in der Vergangenheit häufig zu Unzufriedenheit und Skepsis gegenüber der neuen Arbeitswelt. Schon vor der Corona-Krise wurde deshalb der Wunsch nach Bereitstellung von abgeschirmten und geschlossenen Räumen zum fokussierten Arbeiten und Einzelbüros immer lauter. Mit dem Homeoffice in Zeiten der Pandemie, in der sich viele Familien Lebens- und Arbeitsräume teilen müssen, kehrt die Sehnsucht nach einem eigenen Arbeitszimmer nun zurück.
Weiterführende Informationen:
Ordnung und Nachhaltigkeit: Der Schreibtisch als Kraftzentrum zwischen Leben und Arbeit
Inge Jens: Am Schreibtisch. Thomas Mann und seine Welt. Rowohlt Verlag Hamburg 2013.
Alexandra Hildebrandt und Claudia Silber: Nachhaltigkeit begreifen. Was wir gegen die dummen Dinge im Zeitalter der Digitalisierung tun können. In: CSR und Digitalisierung. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Landhäußer. Springer-Verlag Berlin Heidelberg. 2. Auflage 2021.