Kunst in der Welt der Algorithmen: Das kreative Erbe von Andy Warhol
I. Andy Warhol
Die Kunst ist in der Welt der Algorithmen, in der Träume schlimmstenfalls als geistiger Müll gelten, unser letzter Zufluchtsort. Bücher helfen uns, ihn zu erschließen und die Hauptmotive kreativer Menschen besser zu verstehen: Das Gefühl, nicht geliebt zu werden, mangelndes Selbstwertgefühl, Zweifel, Frustration oder eine Krankheit bringen sie dazu, schöpferisch tätig zu sein. So war es auch bei Andy Warhol, dem wohl bedeutendsten Vertreter der Pop Art, der 1987 unter ungeklärten Umständen in New York verstarb. Geboren 1928 in Pittsburgh (Pennsylvania) als Andrew Warhola, wuchs er als jüngster von drei Kindern in einer ärmlichen Bauernfamilie auf. Im Alter von acht Jahren erkrankte er an einer Pigmentstörung ("Chorea Minor“). Aufgrund seiner Hautfarbe und der hellen Haare wurde er für einen Albino gehalten. Um sich von seiner Krankheit abzulenken, begann er zu zeichnen und Comics zu lesen.
Im New York der 1950er-Jahre, bevor er zu einem der bekanntesten Künstler des 20. Jahrhunderts wurde, arbeitete Warhol als Gebrauchsgrafiker und Dekorateur. Der Kunst widmete er sich damals nur nebenbei: Er nutzte Tinte und Tusche, um Motive und Porträts von Engeln oder Schmetterlingen zu zeichnen. Mit Löschpapier übertrug er diese Malerei im Anschluss auf ein neues Blatt. Um Kunden zu gewinnen, Freundschaften und Netzwerke aufzubauen, gestaltete er sieben handgefertigte Bücher mit eigenen Zeichnungen und skurrilen Texten in Kleinstauflage, die u. a. sein Faible für Katzen, Essen, Kuchen, Kinder, Schuhe und junge Frauen und Männer erkennen lassen: Love Is a Pink Cake, 25 Cats Named Sam und À la recherche du shoe perdu.
Die Bücher betonen die Macht und Magie, die den Dingen eigen sind oder durch ihren Gebrauch entstehen, heute sind sie unerschwingliche Sammlerstücke. Die Reprints dieser Bücher gleichen Warhols Originalen im Detail - bis hin zum ursprünglichen Format und Papier. In seinen Werbebüchlein („Promotionals“), die sich dem Geist der Vielfalt verdanken, spielt er mit Stilen und Gattungen, mit Design, Materialien und Formaten. Dabei geht es nicht um die Frage, wer oder was er ist, sondern was er machen kann: aus sich selbst und den Möglichkeiten, die sich ihm boten. Nicht das Sein stand im Vordergrund, sondern das Können, das nur in Kooperation mit anderen Künstlern zur vollen Entfaltung kam: Autoren schrieben Originaltexte, Fotografen lieferten Bilder zum Nachzeichnen, Freunde und Bekannte kolorierten seine Bilder auf „Ausmalpartys“, oder Warhol nutzte vorgefundenes Material und beschaffte sich Bilder aus Zeitschriften, Büchern und dem Bildarchiv aus der New York Public Library.
In den 1950er-Jahren schenkte er die Büchlein, die sich in Aussehen, Inhalt, Farbgebung, Größe und Papierqualität unterscheiden, an Freunde und Geschäftspartner. Einige Exemplare enthalten handschriftliche Widmungen, andere wurden mit einer fiktiven niedrigen Auftragsnummer versehen, die er zur Wertsteigerung zufügte. Das Steindruckalbum A Is for Alphabet widmet jedem Buchstaben des Alphabets eine eigene Seite, während die Illustrationen von Dreizeilern über außergewöhnliche Begegnungen zwischen Mensch und Tier begleitet werden. In the Bottom of My Garden ist eine Art Kinderbuch, aber auch ein Bekenntnis zur homoerotischen Liebe. Bei Wild Raspberries parodiert er mit einem Füllhorn abenteuerlicher Rezepte ein Kochbuch.
1962 fasste Warhol alle Werke in einer Ausstellung zusammen. Er gründete daraufhin die "Factory", einzelne Ateliers in New York. Auf 100 mal 100 Zentimeter großen Leinwände bildete er Prominente, aber auch aufsehenerregende Unfälle ab. 1968 verübte die Amerikanerin Valerie Solanas ein Attentat auf ihn, das er nur knapp überlebte. Danach zog er sich zurück, startete Fotografie-, Kunst- und Malereiprojekte und schrieb ein Theaterstück. Sein letztes Werk bildet das Abendmahl von Leonardo da Vinci ab – dem Mann, der sich bereits Mitte des 15. Jahrhunderts mit vernetztem Denken und technischen Innovationen beschäftigte.
II. Jean Michel Basquiats
Als Andy Warhol bereits als der Übervater des Pop und außerdem der Altmeister der New Yorker Kunstszene galt, war Jean Michel Basquiats (1960–1988) ein Shootingstar der Graffiti-Szene von Downtown. Zusammen bildeten sie ein elektrifizierendes persönliches und künstlerisches Team. Gemeinsam mit seinem Schulfreund Al Diaz schrieb Jean-Michel Basquiat ab 1977 auf Häuserwände des Galerienviertels Soho sarkastische Kommentare und fragmentierte Gedichte wie „SAMO© as an end to playing art“, „SAMO© as an end to mindwash religion, stop running around with the radical chic playing art with daddy’s dollars“. Signiert wurden die Botschaften mit dem Pseudonym SAMO©, eine Abkürzung für „same old shit“, was in der afro-amerikanischen Umgangssprache für die unveränderten rassistischen Verhältnisse in den Vereinigten Staaten steht.
Ab 1979 war der Graffitikünstler, Maler und Zeichner Basquiat gemeinsam mit Walter Steding, Debbie Harry, Chris Stein und Klaus Nomi regelmäßiger „TV-Party“-Gast, einer wöchentlich ausgestrahlten Underground-Punk-Rock Show mit Glenn O’Brien. Durch ihn lernte er Andy Warhol kennen, mit dem er ab 1983 zusammenarbeitete. Bereits zwei Jahre zuvor gelang Basquiat der Schritt in die wichtigsten New Yorker Galerien, 1985 war er auf dem Titelbild des New York Times Magazine zu sehen. Es war die Zeit, als in New York aus Mannequis plötzlich Models und aus Bankangestellten Banker wurden. Die Stadt schien plötzlich die Erfüllung aller Versprechen zu sein. Das zeigte sich auch in der Mode, im New-Power-Look: Körper und Kleidung muteten wie eine Rüstung an, um gegen neue Bedrohungen zu bestehen. Viele Menschen fühlten sich abgehängt und wussten nicht, wo und sie ihren Platz in der Welt finden sollten.
Diese Themen spiegelten sich auch in der New Yorker Kunstszene, die maßgeblich auch von Basquiat geprägt wurde. Sein Erfolg währte allerdings nur kurz: Anfang 1988 lernte er den Künstler Ouattara Watts kennen. Sie planten, im August nach Abidjan, Elfenbeinküste, in dessen Heimat zu fliegen, wo ihn Schamanen von seiner Drogensucht befreien sollten. Doch am 12. August 1988 starb Basquiat unerwartet mit nur 27 Jahren an einer Überdosis. „Als er starb, war mir sofort klar, welches Szenario herhalten musste, um ihn mit Erklärungen in den Griff zu bekommen: zu viel in zu kurzer Zeit, eine disziplinlose Gier nach Leben. Es ist das Wesen der Medienbestie, das Komplexe zu simplifizieren, dass es bis zur Unkenntlichkeit entstellt wird“, schrieb Keith Haring in der Vogue.
Basquiat hinterließ ein Portfolio mit Arbeiten, die wie Tagebücher anmuten. Historische Verweise, Texte, Bilder und Zeitkritik gehen bei ihm bemerkenswerte Verbindungen ein, die belegen, dass er sich nicht als Maler, sondern eher als ein „Schreiber“ von Listen, Tafeln und „Vokabelheften“ verstand. Sie waren häufig politisch motiviert und spiegelten seine Erfahrungen als schwarzer Künstler in einer statusbewussten Szene. Inspiriert von den Stars des Jazz, Boxern oder Basketballspielern, lautete seine Antwort auf die Frage nach seinen Themen dann auch „Könige, Heldentum und die Straße“, wo die Freiheit immer neu erkämpft werden musste.
In seinen Bildern deutet sich bereits an, was in den 1990er-Jahren folgte: Die Menschen verloren sich in New York bis zur Anonymität. Die Metropole, in der die Sprache des Geldes zugleich die Sprache der Entfremdung war, verhieß etwas Statuenhaftes und Erkältendes. Der Kapitalismus hatte der Stadt das Herz herausgerissen: "Da war nichts Freundliches mehr, nichts Bohèmehaftes, keine Romantik.“ Das weiß auch der gefrorene Wolf, Wolfgang Joops Protagonist in seinem Roman „Im Wolfspelz“, dessen Handlung er in das Jahr 1996 verlegt hat. Die Disposition des Menschen besteht auch hier aus einem liebenden und enttäuschten Herzen, aus zielgerichteten und ziellosen Trieben - der Mensch steht mit zwei Beinen auf der Erde oder auf Wolken. Im Mittelpunkt stehen der Narzissmus des modernen Menschen und der Abschied davon. All das ist auf Basquiat Bildern „vorgezeichnet“.
III. Warhol und Basquiat
Bücher sollten in Beziehung gelesen werden. Wie sich die Themen zu einem Ganzen zusammenfügen, zeigen die Bücher im TASCHEN-Verlag: das Kleine zeigt sich im Großen und umgekehrt. Jedes Buch steht für sich und fügt sich in einen erweiterten Kontext. Das zeigt sich besonders am Umgang mit diesen beiden Künstlern, von denen Einzelwerke erschienen sind – und ein „Beziehungsbuch“: Als akribischer Dokumentar hielt Warhol seine Freundschaft mit Basquiat, die sie zwischen 1982 und 1987 miteinander verband, in Fotos fest und schrieb über sie jeweils vor der Kulisse der 1980er-Jahre in New York. Die emotionale Tiefe ihrer Beziehung, ihre Extreme und Vielschichtigkeit zeigt der in Zusammenarbeit mit der Andy Warhol Foundation und den Nachlassverwaltern von Jean Michel Basquiat entstandene Band. Er spürt der komplexen persönlichen und künstlerischen Beziehung des Duos nach und präsentiert eine Vielzahl bisher unveröffentlichte Fotos, die nicht nur Basquiat zeigen, sondern auch Persönlichkeiten von Madonna bis Grace Jones und von Keith Haring bis Fela Kuti. Begleitet werden die Bilder von Einträgen aus ausgewählten Gemeinschaftswerken der beiden Künstler und den legendären Andy Warhol Diaries, in denen Andy Warhol über Basquiat schreibt: „Er hat Angst, nur eine Eintagsfliege zu sein. Ich sagte ihm, er solle sich keine Sorgen machen. Das sei er bestimmt nicht.“
Warhol hat nahezu jede Facette seines Lebens dokumentiert und hielt sein letztes Lebensjahrzehnt in Buchform fest, indem er The Andy Warhol Diaries (Die Tagebücher von Andy Warhol) seinem Freund und Gefährten Pat Hackett fast täglich diktierte. Ständig fotografierte er und entwickelte zu Lebzeiten fast jeden Tag einen ganzen Film. Er warf kaum etwas weg und hob vieles davon in seinen 610 Time Capsules (Zeitkapseln) auf, die als ein serielles Kunstwerk gelten, das aus Hunderttausenden unterschiedlicher, von Warhol gesammelten Objekte bestehen. Sie schließen das Gewöhnliche und das Außergewöhnliche gleichermaßen ein. Die Time Capsules wurden von der Andy-Warhol-Stiftung dem 1994 eröffneten Andy-Warhol-Museum übereignet. Durch die genaue, 2014 abgeschlossene Arbeit des Museums wurde der Inhalt aller Time Capsules akribisch katalogisiert.
Warhol erfasste sein privates Leben durch die Linse seiner 35-mm-Kompakt-Kamera, Abzüge machte er aber nur von einem kleinen Teil seiner Negative. Im Jahr 2014 schenkte die Andy-Warhol-Stiftung das gesamte Archiv des Künstlers, ungefähr 130 000 Negative und 3 600 Kontaktbögen, dem Cantor Arts Center der Stanford University, um Warhols fotografischen Nachlass den Studierenden zur Verfügung zu stellen. Die Stanford University übernahm das Material und widmete sich der ehrgeizigen und komplexen Aufgabe, es zu archivieren, digitalisieren, katalogisieren, auszustellen und online zugänglich zu machen. Aus diesem Universum stammen die Schwarz-Weiß-Aufnahmen des Buches, von denen die meisten hier zum ersten Mal veröffentlicht werden.
Seit ihrer Gründung gemäß dem Willen des Künstlers im Jahr 1987 hat sich die Andy Warhol Foundation unter den führenden Förderern zeitgenössischer Kunst in den Vereinigten Staaten etabliert und über 200 Millionen Dollar in Form von Stipendien vergeben, die die Produktion, Präsentation und Dokumentation zeitgenössischer bildender Kunst unterstützen, besonders solcher Werke, die als experimentell, verkannt oder abseits der Norm gelten. Dies kontinuierliche Bemühen der Stiftung, das kreative Erbe des Gründers zu schützen und zu fördern, stellt sicher, dass der erfinderische und unkonventionelle Geist Warhols auch für die kommenden Generationen einen tiefgreifenden Einfluss auf die bildende Kunst haben wird. Auch das gehört zum Thema Nachhaltigkeit.
Der Herausgeber
Michael Dayton Hermann erwarb einen Master of Fine Arts am Hunter College in New York, wo er bei dem Konzeptkünstler Robert Morris Kunsttheorie studierte. Außer seinem Schaffen als multidisziplinärer Künstler ist er seit 2005 auch Lizenzmanager bei der Andy Warhol Foundation, für die er wichtige renommierte Projekte wie die Kollaborationen mit Calvin Klein, Dior, Comme des Garçons, Supreme, Absolut und Perrier entwickelte. Für TASCHEN hat er die Bücher Andy Warhol: Polaroids 1958–1987 und Andy Warhol: Seven Illustrated Books 1952–1959 konzipiert.
Weiterführende Literatur:
<div>Warhol on Basquiat. The Iconic Relationship Told in Andy Warhol’s Words and Pictures Michael Dayton Hermann, The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts Hardcover. TASCHEN Verlag, Köln 2019.
</div>
Jean-Michel Basquiat. Texte von Hans Werner Holzwarth, Eleanor Nairne. Mehrsprachige Ausgabe: Englisch, Italienisch, Spanisch. TASCHEN Verlag, Köln 2018.
Kieth Haring: Remembering Basquiat In: Vogue. November 1988, S. 230–234.
Ingrid Sischy: Jean-Michel Basquiat as told by Fred Braithwaite a.k.a. Fab 5 Freddy. Interview. Oktober 1992, 119-123.
Wolfgang Joop: Im Wolfspelz. Roman. Eichborn Verlag. Frankfurt a. M., Eichborn 2003.
Nina Schleif, Reuel Golden: Andy Warhol. Seven Illustrated Books 1952–1959. Portfolio mit 7 Faksimiles und 56-seitigem Begleitheft. TASCHEN Verlag, Köln 2017 (Deutsch, Englisch, Französisch).