Perfektionismus als größte Schwäche? Warum du das lieber nicht von dir behaupten solltest
Wer keine Mängel zulässt, macht sich selbst das Leben schwer – bis hin zur Erschöpfung. Mit diesen Strategien kannst du dich endlich davon befreien.
„Meine größte Schwäche? Perfektionismus!“
Hast du das auch schon mal behauptet, um zu suggerieren, dass du stets nach Höchstleistung strebst? Vielleicht in einem Bewerbungsgespräch? Dann wird es dich vielleicht wundern, dass führende Psychologen wie Dr. Brené Brown, Dr. Thomas Curran oder Dr. Paul Hewitt Perfektionismus gar nicht als Stärke sehen, sondern als „fundamentalen Risikofaktor, der psychischen und seelischen Stress auslöst“.
In meiner langjährigen Erfahrung als Stressmanagement- und Burnout-Prophylaxe-Expertin ist mir Perfektionismus auch immer wieder als einer der Haupttreiber zur persönlichen Erschöpfung begegnet.
Perfektionismus: Ein lähmender Begleiter im Alltag
Perfektionismus ist das ständige Streben nach Vollkommenheit in Verbindung mit der Angst vor Fehlern. Es geht weit über den Wunsch hinaus, gute Arbeit zu leisten – es ist der innere Zwang, keinerlei Mängel zuzulassen. Perfektionisten setzen sich extrem hohe Standards, die oft unerreichbar sind, und bewerten sich selbst anhand dieser strengen Maßstäbe.
Dieses Verhalten hat viele negative Auswirkungen, die das Leben erheblich erschweren können. Perfektionisten neigen dazu, Aufgaben hinauszuzögern, aus Angst, sie nicht perfekt erledigen zu können. Dies führt oft zu Stress, Überforderung und Zeitdruck. Sie verbringen unverhältnismäßig viel Zeit damit, an Details zu feilen, was schnell zu Überarbeitung und Erschöpfung führen kann.
Ein Perfektionist ist selten zufrieden mit seinen Leistungen. Selbst kleinste Fehler werden von ihm stark kritisiert, was das Selbstwertgefühl beeinträchtigt. Die Angst, nicht zu genügen, kann dazu führen, dass Perfektionisten schließlich Herausforderungen vermeiden, was ihre persönliche und berufliche Entwicklung hemmen kann.
Immer auf der Jagd nach der 5-Sterne-Bewertung, versuchen sie, ihr „unperfektes Selbst“ zu optimieren, stets darum bemüht, alle noch so kleinen Fehler, Schwächen und Unzulänglichkeiten vor allen anderen zu verbergen.
Häufig führt das zu einem Leben voller Zweifel, Unzufriedenheit und Versagensängsten, in der Folge kann dies zu Angststörungen, gestörter Körperwahrnehmung oder Depressionszuständen führen.
Viele Menschen, die ich bei meinen Seminaren berate, sind gefangen in diesem Kreislauf und suchen nach einem Ausweg.
Wie entsteht Perfektionismus?
Wie verschiedene Studien zeigen, kann Perfektionismus verschiedene Ursachen haben, darunter auch genetische Faktoren, Erziehung und kulturelle Einflüsse. Oft spielt eine Kombination dieser Elemente eine Rolle.
Perfektionismus ist unaufhaltsam auf dem Vormarsch, steht im Zusammenhang mit psychischen Krankheiten und ist zum globalen Problem geworden, besonders bei jungen Menschen.GORDON FLETT UND PAUL HEWITT
Menschen, deren Eltern oder Großeltern hohe Ansprüche an sich selbst stellen, neigen dazu, ähnliche Muster in ihrem Leben zu entwickeln. Kinder, die in einem Umfeld aufwachsen, in dem hohe Leistungen stark betont und Fehler streng kritisiert werden, entwickeln häufig perfektionistische Tendenzen. Diese Kinder lernen, dass ihr Selbstwert an ihre „Erfolge“ gekoppelt ist.
Soziale Medien, TV-Formate und Filme verstärken Perfektionismus, indem sie oft unrealistische und idealisierte Darstellungen des Lebens zeigen. Der ständige, oft unbewusst ablaufende Vergleich der eigenen Lebenswirklichkeit mit diesen Hochglanzbildern kann das Gefühl erzeugen, nie gut genug zu sein.
Ein weiterer Aspekt ist das Wirtschaftssystem, das durch Werbung und Medien den Druck erzeugt, bestimmten Idealen zu entsprechen. Diese kulturellen Vorstellungen tragen dazu bei, dass Menschen glauben, sie müssten perfekt sein, um wertvoll zu sein. Es ist also von enormer Bedeutung zu erkennen, dass dieses Bedürfnis nach Perfektion oft von äußeren Einflüssen erzeugt wird und nicht von einem selbst stammt.
Verschiedene Erscheinungsformen des Perfektionismus
Schauen wir uns zunächst an in welchen Formen Perfektionismus auftritt. Jede Form hat ihre eigenen Charakteristika und Auswirkungen auf das Leben der Betroffenen. Häufig treten die verschiedenen Formen als Mischform auf:
Selbstbezogener Perfektionismus: Du setzt dir selbst extrem hohe Standards und bist oft unzufrieden, selbst bei kleinsten Fehlern.
Fremdorientierter Perfektionismus: Du erwartest von anderen, dass sie deinen hohen Standards gerecht werden, und bist oft kritisch gegenüber anderen.
Sozial vorgegebener Perfektionismus: Du glaubst, dass andere (z.B. Eltern, Arbeitgeber, die Gesellschaft) unrealistisch hohe Erwartungen an dich haben und fühlst dich ständig unter Druck.
Wie kannst du erkennen, ob du zu ungesundem Perfektionismus neigst?
PerfektionistInnen suchen Sicherheit darin alle Eventualitäten einzukalkulieren und übersehen, dass das Grübeln sie noch mehr lähmt.DR. THOMAS CURRAN
Selbstwert an Erfolge koppeln: Bewertest du deinen Wert oft nach deinen Leistungen?
Detailverliebtheit: Versuchst du, jede Kleinigkeit perfekt zu machen und alle Eventualitäten zu berücksichtigen?
Überstunden machen: Arbeitest du häufig länger, weil du eine Aufgabe perfekt abschließen willst, auch wenn es dich überlastet?
Angst vor Fehlern: Hast du oft Angst zu versagen oder Fehler zu machen?
Aufschieben: Schiebst du Aufgaben häufig auf, ohne erkennbaren Grund?
Schwierigkeit im Umgang mit Kritik: Kannst du Kritik schlecht ertragen und fühlst dich schnell angegriffen? Gleichzeitig neigst du selbst bei kleinen Fehlern zu harter Selbstkritik?
Wege aus der Perfektionismusfalle
Es ist möglich, Perfektionismus zu überwinden und ein gesünderes Verhältnis zu deinen Zielen und deinen Leistungen zu entwickeln. Der erste Schritt aus der Perfektionismusfalle ist Wahrnehmung und Erkenntnis.
Perfektion ist völlig illusorisch. Es gibt sie einfach gar nicht ... Als perfektionistischer Mensch ist man bei allem, was man tut, garantiert auf der Verliererseite.DAVID BURNS (Psychiater und emeritierter Professor an der Stanford University)
Hier sind einige Strategien, die dir helfen können:
Erkenne, dass Perfektion unerreichbar ist!
Setze dir realistische und erreichbare Ziele. Fehler sind menschlich und bieten Lernchancen. Übe dich darin, Fehler als Teil des Wachstumsprozesses zu akzeptieren. Lerne, deine Zeit effektiv zu nutzen und setze dir klare Deadlines, um Prokrastination zu vermeiden. Sei freundlich zu dir selbst und erkenne deine Bemühungen an, auch wenn das Ergebnis nicht perfekt ist.
Stoppe den ständigen Vergleich mit anderen.
Selbstakzeptanz und Selbstmitgefühl sind entscheidend – akzeptiere deine Grenzen und deine Fehler und sei gut zu dir selbst. Sich selbst anzunehmen und die Kraft des „Gut genug“ zu erkennen ist hier essenziell. Die Vorstellung, dass man immer den hohen Anforderungen der Gesellschaft/der anderen entsprechen muss, ist eine Illusion, die uns davon abhält, unser Leben wirklich zu genießen.
Wenn du erkennst, dass diese Vorstellungen häufig kulturell bedingt sind und nicht zuletzt auch im Zusammenhang mit unserem, auf stetiges Wirtschaftswachstum ausgerichteten System stehen, kannst du lernen, dich aus diesen Denkmustern zu lösen und dich schließlich selbst als wertvolles und im besten Sinne „ausreichendes“ Individuum zu schätzen.
Arbeite an den inneren Antreibern.
Perfektionismus ist einer von fünf inneren Antreibern, die in der frühen Kindheit in uns angelegt werden. Stell dir diesen Antreiber vor wie einen verbissenen Kutscher, der dauernd die Peitsche schwingt, um dich zu ermahnen, dass du nicht gut genug bist. Um ihm die Peitsche aus der Hand zu nehmen, suche dir einen „Erlaubnissatz“ - sehr gut passt beispielsweise „gut ist genug“. Es wird eine Weile dauern, bis du diese Erkenntnis verinnerlicht hast. Trainiere täglich und belohne dich, wenn du eine Leistung akzeptierst, die „nur“ gut ist.
Denke an das Pareto-Prinzip.
Es besagt, dass 80% der Ergebnisse oft mit 20% des Aufwandes erreicht werden. Konzentriere dich darauf, diesen 80%-Effekt zu erzielen, anstatt ständig nach den letzten 20% der Perfektion zu streben, die oft unverhältnismäßig viel Energie und Zeit kosten.
Gesundheit ist immer mehrdimensional. Stressabbau durch z.B. PMR oder Meditation kann helfen, dich zu erden. Unsere Gesundheit beruht auf Schlaf, Ernährung, Bewegung und sozialen Beziehungen. Schaffe hier eine ausgewogene Balance, um zu dir selbst zurückzufinden und umfassend zu gesunden.
Und zum Schluss: Die richtige Balance finden!
Perfektionismus kann auch eine positive Seite haben – wenn er in Maßen eingesetzt wird. Denn er kann zu Sorgfalt und hoher Qualität führen. Der Schlüssel liegt darin, die Balance zu finden und den Perfektionismus bewusst zu steuern, sodass er motiviert, anstatt zu lähmen.
Den ungesunden Perfektionismus in den Griff zu bekommen, ist ein fortdauernder Prozess. Auch ich tappe ab und an noch immer in die Falle, obwohl ich mir der Gefahr seit vielen Jahren bewusst bin. Aber der Perfektionismus hat die Macht über mich und mein Handeln verloren.
Auch beim Schreiben dieses Textes musste ich ihn wieder bändigen.
Ist der Text perfekt? Sicher nicht ... aber er ist gut – und das genügt vollkommen!
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