Scheitern ist erlaubt: Was wir gewinnen, wenn wir Fehler zulassen
Wir alle möchten ungute Gefühle möglichst vermeiden. Und ungute Gefühle entstehen nicht nur in ausgeprägten Konflikt- oder Stresssituationen, sondern ganz generell immer dann, wenn es eine Kluft gibt zwischen dem, was wir wollen, und dem, was ist. Eine Kluft, die auch bei jedem Misserfolg entsteht. Warum wir es dennoch wagen sollten, öfter mal zu scheitern.
Gestern erzählte mir eine Klientin, dass man ihr in dem Unternehmen, für das sie arbeitet, eine neue Position angeboten hätte. Mehr Verantwortung, mehr Geld und noch mehr Aufstiegsmöglichkeiten. Ich klatschte vor Begeisterung in die Hände und gratulierte ihr – wissend, dass sie schon länger den Wunsch hegt, sich beruflich weiterzuentwickeln. „Sie brauchen mir nicht zu gratulieren, ich habe abgelehnt.“ „Oh nein“, sagte ich leise und sie erwiderte: „Oh doch!“
Dann erklärte sie: „Wenn ich nicht weiß, welche Konsequenzen etwas für meine Zukunft hat, kann ich mich einfach nicht festlegen. Die Furcht, womöglich die falsche Wahl zu treffen und am Ende zu scheitern, lähmt mich. Mir wurde zwar noch eine Woche Bedenkzeit eingeräumt, aber ich werde meine Meinung sicher nicht ändern.“
Ich ließ einen Augenblick Stille zu, dann zitierte ich den irischen Schriftsteller Samuel Beckett, der sagte: „Immer versucht. Immer gescheitert. Einerlei. Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.“
Warum wir Verletzungen nicht vermeiden können
Der Wunsch, Kontrolle auszuüben, gehört zu unseren Grundbedürfnissen. Dabei üben wir nicht allein Kontrolle aus, um bestimmte Ziele zu erreichen, sondern auch, um uns vor Verletzungen zu schützen. So kann ich den starken Wunsch haben, beruflich in eine verantwortliche Position zu kommen, aber gleichzeitig Angst, in dieser zu scheitern. Die Frage ist dann: Nehme ich die Angst in Kauf und setze mich aktiv dafür ein, diese Position zu erreichen und mich in ihr zu bewähren, wenn sie mir dann tatsächlich angeboten wird? Oder ist es mir wichtiger, mich vor einem etwaigen Scheitern zu bewahren?
Psychologen sprechen in diesem Zusammenhang von Annäherungs- und Vermeidungszielen. Bei der Annäherung habe ich ein klares Ziel vor Augen und weiß, wo es hingehen soll. Bei der Vermeidung bewege ich mich von etwas weg. Den Selbstwert vor einer Kränkung zu schützen, ist ein typisches Vermeidungsziel.
Meine Klientin richtet ihr Leben eher nach Vermeidungs- als nach Annäherungszielen aus. Aufgrund ihres geringen Selbstwertgefühls rechnet sie häufig mit Ablehnung und persönlichem Versagen. Sie möchte anderen Menschen nur ihre starken Seiten zeigen und versperrt deswegen einen Teil ihrer Identität.
Auch mit nahestehenden Personen wie guten Freundinnen redet sie nicht über ihre Selbstzweifel und Versagensängste. Festen Liebesbeziehungen weicht sie aus. Sobald ein Mann näheres Interesse zeigt, das über eine unverbindliche Affäre hinausgeht, zieht sie sich von ihm zurück, weil sie überzeugt ist, dass sie früher oder später sowieso verlassen würde. Auch in ihrem Beruf fühlt sie sich am wohlsten, wenn sie, trotz sehr guter Leistungen, möglichst wenig Aufmerksamkeit auf sich zieht. Ihr ganzer Daseinsvollzug ist darauf ausgerichtet, sich vor persönlichen Verletzungen zu schützen.
Das Schwierige an Vermeidungszielen ist, dass wir sie – anders als Annäherungsziele – nur schwerlich erfüllen können. Bei einem Annäherungsziel ist das Kriterium, wann man es erreicht hat, meistens recht klar definiert. So möchte ich zum Beispiel mit Person XY eine feste Beziehung beginnen oder ich möchte die nächste Beförderung erhalten. In beiden Fällen weiß ich, wann ich mein Ziel erreicht habe.
Vermeidungsziele hingegen verlangen eine ständige Wachsamkeit – ich komme nicht am Ziel an, weil es negativ definiert ist. Ist die eine potenzielle Verletzung abgewendet, taucht schon direkt die nächste Gefahrensituation auf. Das Ziel, nicht verletzt zu werden, kann nicht erreicht werden, denn solange ich am Leben bin, bin ich verletzbar.
Wenn Fehler schmerzen
Wir vermasseln immer wieder irgendetwas, manchmal sogar die großen Projekte unseres Lebens. Es ist einfach Teil des Lebens, dass Dinge geschehen, die wir nicht erleben wollen, die uns frustrieren. Wir alle machen diese Lebenserfahrung unweigerlich. Und nicht nur einmal. Warum tun wir uns dann mit dem Scheitern dennoch so schwer?
Eine Antwort auf diese Frage kommt aus der Hirnforschung. Fehler aktivieren das Schmerzzentrum im Gehirn, wir beginnen also tatsächlich zu leiden. Unser Gehirn ist nämlich darauf programmiert, Angenehmes zu suchen und Unbehagen zu vermeiden. Auf einer bestimmten Ebene registriert es Unbehagen – das ja meist aus einem Gefühl des Scheiterns resultiert – als Gefahr, als etwas das wir loswerden müssen. Das gilt für die allermeisten Menschen in unserem Land.
So wurde in einer Studie an der Leuphana-Universität in Lüneburg die Toleranz für Fehler in 61 Ländern verglichen, Deutschland und Singapur landeten auf den letzten Plätzen. Gerade in individualistisch orientierten Gesellschaften stellt Scheitern eine Bedrohung des Selbstwertes dar, und je mehr Leistung zum Kriterium für die soziale Rolle und das Selbstbild wird, als desto gravierender wird ein Versagen angesehen.
Tatsächlich aber gehört es zu den wichtigen Erfahrungen in unserer Entwicklung, dass Dinge manchmal schiefgehen, schon im Kindergarten. Die norwegische Psychologin Ellen Sandseter fand beispielsweise Hinweise darauf, dass Kinder, die beim Toben und Klettern öfters stürzen, als Jugendliche tendenziell seltener an Höhenangst leiden. Sie haben offenbar die Erfahrung gemacht, dass es gar nicht so schlimm ist, hin und wieder zu fallen.
Wir sind Meister der Krise
Manchmal müssen wir sogar erst auf die Nase fallen, um zu erkennen, dass wir nicht das tun, was wir gut können, oder nicht das Leben führen, das zu uns passt. Auch um uns weiterentwickeln zu können. Wenn nämlich immer alles glatt läuft, besteht für uns keine Notwendigkeit, uns zu hinterfragen, und dann haben wir keine Chance, etwas über uns zu lernen, uns zu verändern, zu wachsen. Auch würden wir ohne Misserfolge nicht die Erfahrung machen, dass wir mit Frustrationen und Niederlagen umgehen, sie sogar konstruktiv und kreativ nutzen können. Diese gelernte Fähigkeit verringert im Laufe des Lebens die Anzahl potenziell frustrierender Situationen.
Das Beruhigende am Scheitern ist zudem, dass wir Krisen in der Regel viel besser überstehen, als wir erwarten. In der psychologischen Forschung spricht man vom psychologischen Immunsystem. Gescheiterte Ehen und verlorene Arbeitsplätze setzen psychische Verteidigungsmaßnahmen in Gang. So konnte nachgewiesen werden, dass seelische Schmerzen kognitive Prozesse auslösen, die den Blick auf die Welt so verändern, dass wir uns besser fühlen.
Eine Weile nach einer Niederlage pendelt sich unser Glücksniveau deshalb häufig wieder auf dem Ausgangsniveau ein. Sofern wir dafür sorgen, dass unser Gehirn, nach einem Misserfolg, nicht lange in einem inaktiven Frustrationsmodus verweilt, sondern bald in einen Problemlösungsmodus gelangt.
Wie Misserfolge gut zu bewältigen sind
Angst ist das häufigste „Problemgefühl“, und die Verdrängung stellt den am häufigsten genutzten psychischen Abwehrmechanismus dar, um unsere Ängste in Schach zu halten und unliebsamen Gefühlen aus dem Weg zu gehen. Es gibt jedoch drei deutlich gesündere und wirksamere Maßnahmen, um unsere innere Einstellung zu einem Problem zu verändern und es somit zu bewältigen: die Anpassung von Erwartungen, die Fokussierung auf andere Prioritäten oder die Annahme von Unabänderlichem.
Wenn wir über wenig Handlungsmöglichkeiten verfügen, dann können wir unsere Einstellung zu der Situation verändern. Indem wir beispielsweise unsere Erwartungen dämpfen oder auch indem wir neue Prioritäten setzen und somit unseren Fokus verändern. Eine psychisch gesunde Reaktion auf einen Misserfolg ist etwa, wenn wir nach einer kurzen Phase der Trauer oder Verärgerung sagen können: Okay, geschehen ist geschehen. Ich konzentriere mich jetzt auf das nächste Projekt.
Psychisch gesund ist es ebenso, Dinge, die ich nicht verändern kann, anzunehmen. Wenn ich etwa meine Hochzeit unter blauem Himmel geplant habe, es aber unentwegt regnet, dann kostet es mich viel zusätzliche Energie, gegen dieses Schicksal aufzubegehren, anstatt das Beste daraus zu machen. Es trägt erheblich zu unserem Lebensglück bei, Dinge anzunehmen, die man nicht verändern kann.
Eine große Hilfe bei der Bewältigung von Schicksalsschlägen ist deshalb, uns nicht ausschließlich auf den Verlust oder das Scheitern zu fokussieren, sondern uns auch immer wieder in Dankbarkeit zu üben, für alles, was uns das Leben dennoch an Fülle bereitstellt.
„Ich bin dankbar für unser Gespräch heute“, sagte meine Klientin am Ende unserer gestrigen Sitzung, bei der wir ausschließlich über die Angst vor Misserfolgen und die Kunst des Scheiterns gesprochen hatten. Auch über die Bedenkzeit meiner Klientin, die ja noch ein paar Tage andauert.
So beendete ich unser Gespräch, wie ich es begonnen hatte, mit einem Zitat. Der Psychologe Olaf Morgenroth sagt: „Scheitern bringt Menschen dazu, Neues an sich selbst und der Umwelt zu erkennen, aus Denk- und Handlungsroutinen auszubrechen und sich auf andere Erfahrungen einzulassen. Scheitern trägt zur individuellen Entwicklung bei, weil es die Erkenntnis fördert, auch ein anderer sein zu können.“ Meine Klientin lächelte, nahm ihre Tasche und ging zur Tür. Mit der Klinke in der Hand drehte sie sich noch einmal um und nickte mir zu: „Okay, ich werde noch mal über alles nachdenken.“