Selbstverwirklichung im Job? Träumt weiter!
Selbstverwirklichung im Job - Wunschdenken realitätsfremder Traumjobber oder echte Chance für Zufriedenheit und persönlichen Erfolg im Beruf?
Selbstverwirklichung ist für viele Angestellte heute Maßstab für ihre Karriere. Sie möchten sich entfalten und das tun, was sie wirklich erfüllt und im Job zufrieden macht. Sie streben nach Freiheit im abhängigen Beschäftigungsverhältnis, selbstbestimmtem Arbeiten an der langen Leine und ergebnisorientierter Führung statt Kontrolle in Präsenzkultur. Sie sehnen sich nach einem möglichst hohen Grad an Unabhängigkeit in einem System, das ihnen dennoch maximale Sicherheit bieten soll.
Doch ist dies in unserer Arbeitswelt überhaupt noch vorgesehen?
Schöne neue Arbeitswelt? Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arbeitgeber!
Das Bild, das uns von der modernen Arbeitswelt vermittelt wird, ist je nach Perspektive Schreckgespenst oder große Chance - oder etwa beides in einem? Freiheit und Flexibilität sollen herrschen, etwa bei der Arbeitszeitgestaltung, neuer Karrieremodelle oder auch der Berufswahl selbst. Schul- und Ausbildungssysteme mit gleichen Chancen für jedermann, immerhin kommen jährlich rund 500 neue Studiengänge an deutschen Hochschulen hinzu. Gleichberechtigung der Geschlechter, Diversity und wertschätzende Förderung von Angestellten bis ins hohe Alter. So die schöne Theorie, mit der heute nahezu jeder Arbeitgeber wirbt, der auf Mitarbeiterfang ist.
Sie locken die Hochschulabsolventen der angeblich so anspruchsvollen Generationen mit flexiblen Arbeitszeiten, Homeoffice, Weiterbildungsmöglichkeiten, spannenden Teamevents und einer Menge Spaß neben der Arbeit. Sie versprechen abwechslungsreiche Tätigkeiten, einen unkomplizierten Umgang miteinander und vielfältige Möglichkeiten, seine eigenen Ideen einzubringen. Und dazu Getränke und Bio-Obst gratis für alle. Nicht genug, obendrauf gibt’s das Smartphone zur "privaten" Nutzung.
Klingt doch richtig gut, oder? Ja, trendiges New Work oder das politische Pendant Arbeiten 4.0 klingen echt nach einer Menge Fun im Job. Und naja, das ist es vielleicht auch in manchem hippen Startup, der Digital- oder Kreativ-Branche oder frisch gegründetem Think-Tank-Ableger ansonsten staubtrockener Konzerne, die erkannt haben, dass Innovation nicht in Angstkultur gedeiht.
Ja, im Kleinen tut sich was: Ich sehe, wie ganze Firmen ihre kompletten Hierarchien und damit auch Führung abschaffen und fortan alles demokratisch per Handzeichen abstimmen, inklusive der Entscheidung, ob das Toilettenpapier drei- oder vierlagig, geblümt oder uni sein soll. Sie führen das konzernweite Zwangs-Du ein und schaffen die Krawattenpflicht ab. Sie bekommen Presse und Aufmerksamkeit als Vorreiter. Ich sehe, wie sie von heute auf morgen die seit Jahren per Excel-Liste organisierten Projekte auf agil umstellen und plötzlich jeder glaubt, eigenmächtig mal irgendwie an jeder Stelleschraube drehen zu dürfen. Und ich sehe Mitarbeiter, die mit alledem vollends überfordert sind, weil sie plötzlich selbst Verantwortung übernehmen und auch solche Entscheidungen treffen sollen, die sie sich bisher beim Chef haben sicher absegnen lassen.
Schöne neue Welt? - Oder akute Gesundheitsgefahr für Menschen, die mit diesen Veränderungen so schnell nicht umgehen können? Doch alles das eigentlich mit dem Ziel, Arbeit gesünder zu gestalten, Mitarbeitern Gutes zu tun, sie zu binden und natürlich - nicht zu vergessen, um im Wettbewerb in der komplexen digitalen Arbeitswelt von morgen noch bestehen zu können.
Sagt mal, was ist Euch eigentlich wichtig ..?
Vor zwei Wochen sorgte dann eine Umfrage unter Studenten für mediales Aufsehen, nach der sich 32 Prozent von ihnen danach sehnen, nach ihrem Abschluss Beamte im Staatsdienst zu werden. Der öffentliche Dienst als Traumberuf für junge Berufseinsteiger?
Mein erster Gedanke war, dass sie nicht wissen, was sie tun. Ja, junge Menschen wünschen sich Sicherheit im Beruf, das ging auch aus meiner Karrierestudie hervor. Doch wie passt das Ergebnis zu dem Bild der ebenso Freiheit und Unabhängigkeit liebenden jungen Generationen? Werden es diese Karriere ambitionierten Absolventen wirklich schaffen, sich in starre Strukturen und tiefe Hierarchien einzugliedern? Werden sie Freude daran haben, ohne Rücksicht auf Talent, Kenntnisse und eigenem Engagement in öffentlich einsehbare Tarife eingruppiert zu werden? Haben sie Lust auf Arbeitsanweisungen, DIN-Normen und PC-Systeme, die nicht auf Effizienz, sondern auf rechtssichere Prozesse ausgelegt sind?
Oder bin ich im falschen Film und haben sich die Ansprüche bereits schon wieder so sehr verändert, dass die Privatwirtschaft im War for Talents ihre Mitarbeiter der Zukunft mit heute unattraktiven Preisen ködert? Sind Bio-Obst und Kickertische schon wieder out und stattdessen steriles Linoleum und Tageslichtlampen im städtischen, auf Lebenszeit sicheren Beamtenbüro in? Ist der Ruf von Deutsche Bank, VW & Co. inzwischen so sehr ruiniert, dass selbst die vielen Auszeichnungen als Top-Arbeitgeber und die schillernden Visitenkarten mächtiger Marken keinen Wert mehr bei Absolventen haben?
Auch wenn ich hier überzeichne, ist das, was sich momentan auf dem Arbeits- und Bewerbermarkt tut, irgendwie auch paradox. Es kommt mir so vor, als habe sich bei Angestellten und Bewerbern eine eigene Dynamik entwickelt, geprägt von stark persönlichen individuellen Werten und Zielen, jedoch gleichzeitig einer hohen Unsicherheit (Blindheit?) bei der Orientierung nach dem richtigen, eigenen Weg.
Auch wenn der Drang nach individueller Freiheit und Handlungsspielraum im beruflichen Tun weiterhin existent ist, sind wir doch immer mehr integraler Teil eines Arbeitsumfeldes, das immer weniger in der Lage sein wird, diese Freiheit und Flexibilität zulassen zu können.
Angestellte arbeiten heute fremdbestimmter. Ihnen fehlt die Zeit für Selbstverwirklichung.
Werfen wir einen Blick hinein in die deutsche Unternehmenslandschaft. Rund 16 Millionen Beschäftigte arbeiten in kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU), etwa 3,5 Millionen Arbeitnehmer sind bei DAX-Konzernen beschäftigt. Egal, ob Großkonzern oder Eisenwaren Müller um die Ecke, Arbeitnehmer sollen funktionieren. Sie sind der Motor der Wirtschaft und trotz Digitalisierung wird das Human-Kapital noch lange einer der wichtigsten Produktionsfaktoren sein. Und auch wenn Personalabteilungen fröhlich in Human Relations umfirmieren, geht es doch am Ende um den wirtschaftlich sinnvollen Einsatz von Ressourcen. Umso mehr, je stärker der Wettbewerb und der ökonomische Druck in Märkten werden.
Und dieser Druck wird weiter steigen, denn Produktlebenszyklen werden mit fortschreitender Technisierung immer kürzer, die früheren Cash-Cows aus Wettbewerbsvorteilen durch echte Innovationen werden in globalen Märkten immer magerer. Unternehmen, die über Jahrzehnte ihr so bröckelndes operatives Ergebnis durch satte Kapitalanlagegewinne aufgepolstert haben, müssen im anhaltenden Niedrigzinsniveau nach gänzlich neuen Quellen für den Shareholder-Value suchen.
Selbstverwirklichung im Job? - Sorry, keine Zeit!
Wie sieht es denn heute in Ihrem Terminkalender im Büro aus?
Wie viele Einladungen zu Meetings erhalten Sie jede Woche ungefragt von Ihren Kollegen, die mal wieder irgendetwas mit Ihnen zu besprechen haben?
Wie viel Zeit haben Sie als Führungskraft, sich um die Entwicklung Ihrer Mitarbeiter zu kümmern, geschweige denn inhaltlich strategisch an der Entwicklung Ihres Bereichs zu arbeiten?
Wie stark werden Sie eingespannt von Ihren Chefs und genötigt, am liebsten bis vorgestern drängende und aus Ihrer Sicht oftmals sinnlose Aufgaben zu erledigen?
Wie oft haben Sie das Gefühl in Ad-hoc-Meetings, Video-Konferenzen morgens um 5 Uhr quer durch die Welt oder am späten Freitag Nachmittag angesetzten Projektbesprechungen, dass sich die Welt ohne Sie morgen nicht weiter drehen wird?
Wie viel Zeit bleibt Ihnen für alles das neben dem Beruf, was auch wichtig ist?
Ja, ich male hier bewusst schwarz. Vielleicht sind es die Extremfälle, die mir im Coaching begegnen. Doch während aus meiner Wahrnehmung der innige Wunsch nach Freiheit, Flexibilität und Selbstverwirklichung von Angestellten und Führungskräften immer größer wird, werden die Möglichkeiten hierfür in der Arbeitswelt immer knapper. Zumindest so, wie der Großteil der Angestellten heute in ihren Jobs unterwegs ist. Denn hier gilt: Je höher die Taktung und Geschwindigkeit, desto geringer die Freiheit, im Hier und Jetzt innezuhalten, Bestehendes zu reflektieren und neue Wege zu entdecken.
Erst die Selbstverantwortung, dann die Selbstverwirklichung.
Digitalisierung und Globalisierung sind gut für unsere Wirtschaft sowie für uns als Arbeitnehmer, Unternehmer und Konsumenten. Dynamik, Taktung und Geschwindigkeit im Außen sorgen für Wachstum und Fortschritt und sollten als gegeben akzeptiert werden.
Wir sind es, die anstelle von Verteufelung der modernen Arbeitswelt inklusive ihrer Lenker lernen müssen, damit gesund umzugehen. Mit mehr Gelassenheit und Neugierde, einer neuen Haltung uns selbst und unserem Umfeld gegenüber, mit mehr Toleranz zu Fehlern sowie der wiedererlangten Kompetenz, Entscheidungen für uns und unser Leben treffen zu wollen.
Flexibilität und Freiheit für mehr Selbstverwirklichung im Beruf wird nur derjenige morgen ernten, der heute bewusst Selbstverantwortung übernimmt, statt sich fremdbestimmt im reißenden Strom des täglichen Job-Wahnsinns weiter treiben und runterziehen zu lassen.
Nein, es geht nicht um den Schritt in die Selbständigkeit als Sinnbild unendlicher Freiheit. Jeder Angestellte besitzt heute viele Möglichkeiten, bewusst gezielt mehr Selbstverantwortung zu übernehmen und einen Weg zu gehen, der zu den eigenen Werten und Zielen im Beruf und auch im Leben passt. Das ist das Gute an den vielen Möglichkeiten, die die Arbeitswelt heute zu bieten hat.