Navigation überspringen
article cover
Bürogebäude am späten Abend. Foto: IMAGO/Olaf Döring
Premium

Steuerfreie Überstundenzuschläge: Anreiz zur Mehrarbeit oder Subvention für Gutverdiener?

Schwarz-Rot will die Zuschläge für Mehrarbeit steuerfrei stellen und so Menschen motivieren. Allerdings könnte die Regelung mehr schaden als nutzen.

„Wir werden Überstunden steuerfrei stellen“, kündigte CDU-Chef Friedrich Merz an, als er mit den anderen Parteivorsitzenden in dieser Woche den Koalitionsvertrag im Bundestag vorstellte. Dass der künftige Kanzler diesen Punkt extra erwähnte, ist wohl so zu verstehen, dass er ihn für einen wichtigen, einen lobenswerten Teil der Vereinbarung zwischen Union und SPD hält.

Dass Merz den Menschen etwas zumuten will, hatte er im Wahlkampf immer wieder deutlich gemacht: „Anstrengung, Ärmel aufkrempeln, anpacken – und alle zusammen wieder eine größere Wirtschaftsleistung erarbeiten.“ So hatte er es beispielsweise in der ARD-Wahlarena formuliert. Nun lautet das Signal: Anstrengung ja – aber die soll sich auch für jeden und jede lohnen.

Knapp 4,6 Millionen Beschäftigte haben 2023 im Durchschnitt mehr gearbeitet, als in ihrem Arbeitsvertrag vereinbart ist, zeigen Zahlen des Statistischen Bundesamts. Also etwa zwölf Prozent aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Männer leisteten mit einem Anteil von 13 Prozent etwas häufiger Mehrarbeit als Frauen (zehn Prozent).

Die meisten Beschäftigten arbeiteten dabei nur wenige Stunden pro Woche mehr als vorgesehen. Knapp ein Fünftel leistete allerdings auch mindestens 15 Stunden Mehrarbeit in der Woche. Insgesamt machen die Deutschen heute allerdings deutlich weniger Überstunden als früher: Waren es Anfang der 2000er Jahre noch mehr als zwei Milliarden Überstunden, arbeiteten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zuletzt noch etwa 1,3 Milliarden Stunden mehr als vertraglich vereinbart.

Zur Wahrheit gehört aber auch: Nur knapp 42 Prozent der Mehrarbeit wurde 2024 überhaupt vergütet. Die Mehrheit der Überstunden leisten die Deutschen seit vielen Jahren unbezahlt.

Um nun einzuschätzen, wer von den Plänen der neuen Regierung profitieren könnte, muss man zunächst den Koalitionsvertrag lesen. Dort steht nämlich etwas anderes, als Merz angekündigt hat. Die Rede ist nicht von Überstunden im Allgemeinen, sondern nur von Zuschlägen auf Überstunden und zwar bei Vollzeitarbeit. Anwendbar wäre die neue Regelung also zunächst einmal für alle, in deren Arbeits- oder für die im Tarifvertrag überhaupt Überstundenzuschläge vereinbart sind. Zum Teil ist das in der Industrie der Fall.

Andreas Peichl, Leiter des ifo Zentrums für Makroökonomik und Befragungen, kann sich jedoch vorstellen, dass auch andere Branchen eine solche neue Regelung nutzen könnten, beispielsweise Unternehmensberatungen. Statt Angestellten ein hohes Grundgehalt zu bezahlen, mit dem auch die regelmäßig geleisteten Überstunden abgegolten sind, ließe sich das Grundgehalt senken. Arbeitnehmer könnten dann über vergütete Überstunden samt steuerfreier Zuschläge ein höheres Nettogehalt erzielen – bei gleichbleibenden Kosten für das Unternehmen.

👉 Exklusiv bei XING: 6 Wochen die WirtschaftsWoche kostenlos lesen

Peichls Überlegungen führen jedoch zu dem Problem, das Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bei steuerfreien Überstunden(zuschlägen) erkennen: Es profitieren gerade die Personen, die ohnehin schon mehr arbeiten als vertraglich vorgesehen. Damit entstehen Kosten, weil dem Staat Steuern entgehen. Die Zahl der geleisteten Stunden und die Produktivität dagegen steigen kaum.

Das zeigen Analysen einer solchen Regelung in Frankreich: Dort führte 2007 die Regierung des damaligen Präsidenten Nicolas Sarkozy Steuer- und Abgabenermäßigungen für Überstunden ein. Die Vergünstigungen nutzten vor allem gut qualifizierte Besserverdienende, die mehr Überstunden angaben und ihre Steuerlast senkten. Das Arbeitsvolumen wuchs kaum.

Außerdem würden Besserverdienende stärker profitieren als Geringverdienende, analysiert Sebastian Dullien, wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung – schlicht, weil ihre Grenzsteuersätze höher sind.

Eine solche Regelung könnte also die Ungleichheit vergrößern. Ein Beispiel: Die IG Metall nennt als gängige Größenordnung von Überstundenzuschlägen zehn bis 25 Prozent.

Bei einem Durchschnittslohn einer Pflegehilfskraft von knapp 20 Euro pro Stunde und einem Überstundenzuschlag am unteren Ende der Skala von zehn Prozent, ginge es um einen Zuschlag von zwei Euro. Wäre der Zuschlag steuerfrei, blieben der Person bei einem Steuersatz von 20 Prozent dann 40 Cent mehr. Bei einem Stundenlohn von knapp 50 Euro für eine Unternehmensberaterin läge der Zuschlag hingegen bei fünf Euro. Sie hätte aber mit einem Steuersatz von fast 50 Prozent dann bei Steuerfreiheit 2,50 Euro mehr.

Für beide Berufsgruppen allerdings bleibt die Frage, ob solche Summen überhaupt viele Leute bewegen würden, (mehr) Überstunden zu machen.

Mehr Ungleichheit droht auch innerhalb von Familien: Denn für Paare würde es attraktiver, dass eine Person sehr viele Stunden arbeitet, in Deutschland ist das meist der Mann, und die andere, meist die Frau, weniger Stunden arbeitet oder ganz zu Hause bleibt, warnt Dullien. Frauen, die in Jahren mit kleinen Kindern aus dem Job aussteigen, kehrten aber auch später oft nicht in Vollzeit in qualifizierte Jobs zurück: „Langfristig ist das schädlich für das Arbeitsangebot“, so Dullien.

Der Arbeitgeberverband BDA weist zudem auf die Schwierigkeiten für Unternehmen hin, eine solche Regelung umzusetzen, beispielsweise, wenn Arbeitszeitkonten genutzt werden. Von den Personen, die 2023 mehr arbeiteten als vertraglich vereinbart, waren das 71 Prozent, teilt das Statistische Bundesamt mit. „Der überwiegende Teil der Überstunden wird in Form bezahlter Freizeit gewährt“, heißt es auch vom BDA. Zuschläge abgabenrechtlich zu privilegieren, dürfe diese Flexibilität nicht gefährden.

Der Verband fürchtet sogar, Gewerkschaften könnten in Tarifverhandlungen niedrigere Arbeitszeiten fordern, damit steuerfreie Zuschläge früher in Anspruch genommen werden können. „Das wäre kontraproduktiv für die Steigerung des Arbeitsvolumens“, urteilt der BDA.

Friedrich Merz‘ Aufruf zu mehr „Anstrengung, Ärmel aufkrempeln, anpacken“ – der wäre dann gescheitert.

👉 Exklusiv bei XING: 6 Wochen die WirtschaftsWoche kostenlos lesen

👉 Exklusiv bei XING: 6 Wochen die WirtschaftsWoche kostenlos lesen

Steuerfreie Überstundenzuschläge: Anreiz zur Mehrarbeit oder Subvention für Gutverdiener?

Premium

Diese Inhalte sind für Premium-Mitglieder inklusive

Der Zugang zu diesem Artikel und zu vielen weiteren exklusiven Reportagen, ausführlichen Hintergrundberichten und E-Learning-Angeboten von ausgewählten Herausgebern ist Teil der Premium-Mitgliedschaft.

Premium freischalten

WirtschaftsWoche - das Beste der Woche

Deutschlands führendes Wirtschaftsmagazin – verstehen zahlt sich aus.

Artikelsammlung ansehen