Stolz: Über ein Gefühl zwischen Arroganz und Selbstachtung
Stolz ist ein elementares Gefühl, das angeboren ist und nicht anerzogen wird. Ausgedrückt wird es durch eindeutig erkennbare Gesten: aufrechter Kopf und Haltung, hervorgewölbte Brust und eine gestreckte Körperhaltung. Als Symbol für Eitelkeit und Stolz gilt in der Tierwelt der Pfau: Er bewegt sich während der Balz mit geschwellter Brust und gespreizten, farbenprächtigen Schwanzfedern, sodass ihn ein prächtiges Rad schmückt. Dieses Bild findet sich bereits beim römischen Dichter Ovid, der in seinen „Metamorphosen“ „superbior pavone“ (stolzer als ein Pfau) erwähnt. Auch bei Ovid war der Pfau ein Symbol für den Stolz [von mnd.: stolt = prächtig, stattlich]. Darauf bezog sich später auch Darwin: Menschen "scheinen aufgeplustert zu sein und sich so groß wie nur möglich geben zu wollen." Im griechischen Mythos des Prometheus wird Hochmut gegenüber den Göttern mit unendlichen Qualen bestraft. Die christliche Kirche erklärt „superbia“ („Stolz“) zur schlimmsten der sieben Todsünden: Stolz war mit Arroganz, Hochmut und Hybris verbunden. Thomas von Aquin nannte sie sogar eine der „Wurzelsünden“, aus denen sich anderes Fehlverhalten ableitet.
Für Aristoteles war Stolz allerdings die "Krone der Tugenden". Jeder Mensch müsse verachtet werden, "der seinen eigenen Wert nicht erkennt". Er verband Stolz mit Selbstachtung und dem Gefühl einer großen Zufriedenheit mit sich selbst oder anderen. Schon diese wenigen Aussagen belegen, dass Stolz ein ambivalentes Gefühl ist, das zu Fehlentwicklungen führt, wenn er uns als gesteigerter Selbstwert beherrscht - aber ebenso, wenn er fehlt. Der Stolz auf eigene Errungenschaften bzw. Leistungen („Leistungsstolz“), die bewundert und anerkannt werden, kann zu Spitzenleistungen führen - verletzter Stolz kann allerdings zwischenmenschliche Beziehungen zerstören und sogar zu Kriegen führen. Gunter Gebauer, Professor für Philosophie und Sportsoziologie, ist der Meinung, dass offen gelebter, sozial anerkannter Stolz heute fast nur im sportlichen Bereich (Fangesänge etc.) zu finden ist – vor allem im Fußball. Im Stadion sei eine konkrete Leistung sicht- und kollektiv erlebbar. Gleich zu Beginn seines aktuellen Buches bringt auch Henning Theißen, der Systematische Theologie an der Universität Lüneburg lehrt, als Beispiel für gemeinschaftlichen Stolz das deutsche Fußballmärchen aus dem Jahr 2014 mit dem Slogan „Wir sind Weltmeister“.
Mit dem Thema Stolz setzte er sich im Rahmen einer Vorlesung zu Ethik und Theologie auseinander. Die überarbeitete Version erschien jetzt als Buch, das eine differenzierte Auseinandersetzung mit diesem Spannungsfeld bietet, in dem sich ein gesundes Selbstbild entwickeln kann. Stolz ist nämlich nicht nur schlecht. Es gibt zwei Arten: Die eine macht Menschen anmaßend und arrogant - die andere macht sie sympathisch. Er betont allerdings auch, dass der Begriff Stolz allein nicht ausreicht, um ihn zu bewerten – es geht ebenso darum, warum und worauf jemand stolz ist. Ein Selbstlob, das Gottes Handeln der eigenen Leistung zuschreibt, fällt für ihn in die Kategorie des falschen Rühmens, die Paulus an vielen Stellen beschreibt (siehe 1. Korinther, Kapitel 1, Vers 31). Im Alten Testament in Sprüche, Kapitel 18, Vers 12, heißt es: „Vor dem Zusammenbruch wird das Herz des Menschen hochmütig, aber vor der Ehre kommt die Demut.“ Diese gilt im Gegensatz zum Stolz als Tugend, die mit Bodenständigkeit („Grund unter den Füßen“) zusammenhängt. Das Wort kommt von „diomuoti“ („dienende Gesinnung“) und drückt die Bereitschaft aus, andere als Hilfe und Korrektiv an sich arbeiten zu lassen. Theißen verweist auf die ironische Formel „Ich bin stolz auf meine Demut!“, mit der einige Christen ihre Einstellung zum Thema Stolz zum Ausdruck bringen und damit meinen, dass sich Stolz eigentlich nicht gehört. Das Ziel einer christlichen Grundhaltung sollte vielmehr Demut sein.
Die Psychologin Jessica Tracy von der British Columbia University in Vancouver forscht seit langer Zeit über die Eigenschaften von menschlichem Stolz. Sie spricht von "authentischem" beziehungsweise "anmaßendem" Stolz. Das Erleben von Stolz sei eine wichtige emotionale Voraussetzung für die Leistungsmotivation. Als stolze Helden ritten Winnetou und Old Shatterhand über die Prärie, aber auch Tolkiens „Herr der Ringe“ oder „Harry Potter“ legen davon Zeugnis ab. Kein Mensch kann selbstbewusst sein ohne Stolz. Auch aus evolutionärer Sicht hat Stolz einen Sinn, denn er ist ein Mechanismus, der gesellschaftlichen Status fördert, so Tracy. Stolz ist für sie eine Haltung, die von Außenstehenden als „positive Ausstrahlung“ wahrgenommen wird oder arrogant wirken kann. Er ist zum Beispiel ein Mittel, um Macht über andere Menschen auszuüben: Sie können dadurch motiviert und mitgerissen (Respekt), aber auch eingeschüchtert werden (Furcht). Häufig gelten jene Menschen als besonders erfolgreich, die ihre einflussreiche Macht oder ihren Besitz dadurch erlangt haben, dass sie andere hintergangen oder diese für ihre Ziele und ihren äußeren Erfolg benutzt haben. Schon eine Blutuntersuchung kann zeigen, zu welcher Art von Stolz ein Mensch neigt. Wer sich seiner Bestleistung bewusst ist und dafür auch Anerkennung erhält, hat vergleichsweise wenig Testosteron im Blut, dafür aber einen höheren Serotoninspiegel. Dieser Botenstoff spielt bei vielen sozialen Verhaltensweisen eine große Rolle. Erwiesenermaßen treten in Führungspositionen auffallend hohe Testosteron-Konzentrationen auf. In Studien neigten diese Personen auch häufiger zu anmaßendem Stolz.
Menschen, die einfach nur stolz sind auf ihre eigenen Leistungen, sind Studien zufolge angenehme Zeitgenossen: Sie sind emotional stabil, hilfsbereit und gut eingebunden in soziale Gemeinschaften. Sie sind sich ihrer Würde bewusst, verhalten sich achtsam und umsichtig und erleben sich aus sich selbst heraus als wertvoll und bedeutsam.
Henning Theißen: Über den Stolz. Annäherung an eine riskante Tugend. Claudius Verlag, München 2022.
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Bauchgefühl im Management. Die Rolle der Intuition in Wirtschaft, Gesellschaft und Sport. Hg. von Alexandra Hildebrandt und Werner Neumüller. SpringerGabler Verlag 2021.
Alexandra Hildebrandt: Manieren 21.0: Warum gutes Benehmen heute wieder salonfähig ist. Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2017/2022.
Gerald Hüther: Würde. Was uns stark macht – als Einzelne und als Gesellschaft. Albrecht Knaus Verlag, München 2018.