Stress und Stressmanagement im Kontext der osteopathischen Praxis
Wer sich der Ruhe hingibt, zieht sich von der alltäglichen Welt beobachtend zurück, um dann mit erneuter Kraft wirksam und produktiv zu sein. Dazu muss ein Schritt zurückgegangen werden, um die Unruhe zunächst einmal zu verstehen: Sie ist ein ständiges Sehnen und Drängen, ein permanenter Aufbruch, ein zielloses Treiben und Getriebensein, ein Wandel ohne Ziel. Es ist nicht der Augenblick, der zählt, sondern immer nur der nächste. „Die Unruhe liebt es, in der Maske aufzutreten: als Aktion, als Veränderung, als Bewegung, als Wandel, als Aufgebrachtheit, als Zerstreuung, als Stress, als Burnout“, sagt der Philosoph Ralf Konersmann. Im Interview zeigt die Osteopathin Christine Bergmair Wege aus der Stressfalle, und wie es uns gelingen kann, den eigenen Körper wieder ins Gleichgewicht zu bringen.
Stress hat eine große Bedeutung in der Gesellschaft und damit ist das Thema in der osteopathischen Praxis automatisch zentral! Meine Praxis befindet sich in einem modernen, ökologischen Holzneubau mitten in der Natur. Ich beobachte, dass den Patienten sehr schnell auffällt, wenn sie in diesen Räumlichkeiten sind, dass sie zur Ruhe kommen, sich wohlfühlen und entspannen können. Dies ist auch ein Hinweis darauf, wie hoch der Stress anderorts ist: durch unsere Umgebung, Lärm, Geschwindigkeit und andere Stressfaktoren. Im osteopathischen Gespräch ist es wichtig einen Raum zu schaffen, der möglichst stress- und druckfrei ist - und zwar für beide Seiten: Gelingt es nicht, den Patienten in Entspannung zu führen, ist die Behandlung erschwert. Dafür muss natürlich auch der Therapeut in der Lage sein, selbst in einen Entspannungszustand zu finden.
Das ist auf jeden Fall mein Wunsch! Dadurch, dass die Osteopathie eine sanfte Behandlung ist, kann sie sehr gut dabei unterstützen, den Menschen in einen Entspannungs- und Ruhezustand zu versetzen. Ich erlebe die Osteopathen dabei auch sehr offen, mit anderen Therapeuten und Ärzten zusammenzuarbeiten und integrierte Behandlugnskonzepte zu entwickeln.
Aus meiner Sicht ist das eine Folge von hoher Spezialisierung, Technisierung und Leistungsorientierung – womit wir wieder beim Thema Stress sind. Diese Entwicklungen haben einen enormen Fortschritt in der Medizin, gerade in der Behandlung von hochkomplexen Erkrankungen gebracht. Je spezifischer Behandlungsgebiet und Therapieansatz werden, desto mehr geht die Integration des gesamten Menschen mit allen Organ- und Körpersystemen, Umfeld- und Umweltfaktoren sowie Emotionen und Psyche verloren.
Ein Osteopath kann nicht heilen, genauso wenig wie ein Arzt. Es geht immer um das Zusammenspiel von Behandler/Therapeut und Patient. Je mehr Informationen dem Behandler zur Verfügung stehen, desto konkreter kann er den Patienten begleiten. In einer osteopathischen Behandlung wird zu Beginn meist eine umfassende Anamnese durchgeführt. Bei der körperlichen und osteopathischen Untersuchung und Befundung helfen dann ebenso möglichst genaue Angaben und Hinweise der Patienten bei der Auswahl des Behandlungspfades.
Ich kann nur vermuten, dass bei solchen Beschwerden, die häufig langwierig sind, die Therapiemöglichkeiten begrenzt oder aber auch ausgeschöpft sind. In der Regel stehen hier zur Auswahl: Schonen oder Bewegen, Schmerzmittel, Salben, Kälteanwendungen. Die Osteopathie kann durch ihre Behandlung die Durchblutung in den verletzten Regionen erhöhen und damit die Sauerstoffzufur verbessern. Eine gute Versorgung einer Körperregion ist eine optimale Voraussetzung für körpereigene Heilungsprozesse.
Ich denke es ist inzwischen weitreichend untersucht, dass wir in unseren überwiegend sitzenden Tätigkeiten und aufgrund unserer wohlstandsbasierenden Ernährung anders leben, als es die Natur des Menschen ist: viel in Bewegung, an der frischen Luft und mit wenig verarbeiteten Lebensmitteln. Auch darf man nicht außer Acht lassen, dass die Vererbbarkeit und familiäre Disposition solcher Beschwerden für generationsübergreifende wiederholende Erkrankungsmuster sorgt. Dies steht auch im Fokus von osteopathischer Behandlung.
Das ist sicherlich ein Aspekt. In der osteopathischen Behandlung ist meist etwa eine Stunde Zeit, dadurch kann zum einen eine umfassende Untersuchung und Behandlung stattfinden. Zum anderen ist auch mehr Zeit dafür, den Patienten kennenzulernen und einen vertrauens- und respektvollen Raum der Behandlungsbeziehung aufzubauen.
Ich versuche durch anschauliche Beispiele und Vereinfachung von Prozessen die Menschen in den Behandlungsprozess mitzunehmen. Wenn Sie sich beispielsweise vor Augen führen, dass im Falle einer Schnittwunde der Körper innerhalb weniger Sekunden und Minuten „Selbstreperaturprozesse“ in Gang bringt und dann ein Heilungsprozess beginnt, bis alles wieder abgeheilt ist, dann wird sichtbar, welche Fähigkeiten unser Körper hat. Dies lässt sich auch auf andere Verletzungen oder Erkrankungen übertragen und hilft den Menschen dabei, nachzuvollziehen, was passiert. Wichtig finde ich auch den Austausch über Medikationen und aktuelle Therapiepläne. Hier biete ich den Patienten auch an, dass ich in Kontakt mit dem jeweiligen Facharzt oder Therapeuten gehe, um über die Therapie und Vorgehensweise zu beratschlagen. Wie schon angesprochen, ist die Verbindung von Körper, Geist und Psyche auch bei den Patienten häufig noch nicht im Bewusstsein. Auch hier kann man im Gespräch in Austausch kommen.
Ein empathisches Gespräch, bei dem sich der Patient gehört und verstanden fühlt und man ihm Aufmerksamkeit und Vertrauen für seine Beschwerden und Erkrankungen entgegenbringt.
Mein Eindruck ist, dass sich das in den letzten Jahren nochmal sehr gewandelt hat. Ich treffe auch in medizinischen Fachkreisen immer mehr auf Ärzte, die Osteopathen als gut ausgebildete Kollegen schätzen. Ich denke, das Hauptproblem liegt an der fehlenden Anerkennung als Berufsbild. Hier kämpfen viele Osteopathen dafür, die Osteopathie als eigenständigen Beruf zu etablieren. Ich bin hier anderer Meinung: mit der Grundausbildung als Arzt oder dem großen Heilpraktiker liegen den Osteopathen anerkannte Berufsbilder zugrunde, die großen Spielraum im diagnostischen wie therapeutischen Spektrum liefern. Aus meiner Sicht sollte man aber darüber nachdenken, den sektoralen Heilpraktiker für Physiotherapie, der häufig auch Grundlage für osteopathisches Praktizieren ist, abzuschaffen. Hierbei ist aus meiner Sicht die medizinische Kenntnis zu rudimentär.
Sie können beobachten, dass sich mit osteopathischen Behandlungen viele Beschwerden deutlich verbessern. Und das ohne teure Medikamente. Daher ist die Osteopathie im Sinne des Präventionsgedanken eine tolle Therapieform, die hohe Behandlugnskosten reduzieren kann. Die Krankenkassen haben dies erkannt und wissen auch, dass Patienten die Zuschüsse schätzen.
Worte können sehr mächtig sein – in die positive wie negative Richtung. Und sie bilden die Grundlage unserer bewussten menschlichen Kommunikation. Wenn wir eine vertrauensvolle Basis mit dem Patienten aufbauen wollen, ist Kommunikation eine zentrale Rolle.
Die Unterstützung der Selbstheilungskräfte ist zentrales Element der osteopathischen Behandlung. Da Körper, Geist und Seele zusammenhängen, kann sich die osteopathische Behandlung auf alle drei Bereiche – eben den gesamten Menschen – auswirken. Der Osteopath hilft dabei, in einer Region so zu unterstützen, dass Raum entsteht und Bedingungen, die dem Körper die Möglichkeit geben, in diesem Heilungsprozess zu gelangen.
Alle drei Elemente greifen eng ineinander. In meinem osteopathischen Studium war für mich der Satz prägend: „Alles was ich gespürt habe, muss ich nicht mehr verstehen – es ist verinnerlicht!“ Und daraus leitet sich automatisch das Begreifen und damit auch das Bewegen ab. Nach der Berührung folgen Hände und Wahrnehmung automatisch dem Gewebe, um das, was sich zeigt zu begreifen und dann in Bewegung zu bringen.
Der Tastsinn ist einer unserer überlebensnotwendigen Sinne! Berührung ist für den Menschen zentral. Durch einen guten Tastsinn kann unsere Wahrnehmung auf dieser Ebene geschärft werden. In einer digitalisierten Welt, in der die Haptik mehr und mehr verloren geht, halte ich eine gute Entwicklung des Tastsinns absolut für förderlich – hinsichtlich der Wahrnehmung, aber auch des Körpergefühls und -bewusstseins.
Christine Bergmair, Jahrgang 1993, widmet sich beruflich ihren beiden Leidenschaften Management und Medizin. Sie studierte Corporate Management and Economics – Wirtschaftswissenschaften – an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen. Nach verschiedenen praktischen Erfahrungen im Krankenhaus-Management, im bayerischen Gesundheitsministerium und einem südafrikanischen AIDS-Hospiz entschied sie sich für ein weiteres Studium zum M. Sc. Osteopathischen Medizin. Seit 2022 arbeitet sie aktiv an der Umsetzung des Gesundhaus i-Tüpferl, in dem Gesundheit und Prävention ganzheitlich und zukunftsfähig gelebt werden soll.
Vielen Dank für das Gespräch.
Gesundheit und Prävention: Bedeutung, Anwendungsspektrum und Wirkung der Osteopathie
Wie effektiv und nachhaltig sind osteopathische Behandlungsmethoden?
Greifen und reifen: Warum Berührungen auch im Zeitalter der Digitalisierung überlebenswichtig sind
Christine Bergmair: Zukunftssicheres Umsetzen von Entwicklung und Gesundheit im Kontext von SDG 11 am Beispielprojekt i-Tüpferl. Beides in: Zukunft Stadt: Die globale und lokale Bedeutung von SDG 11. Wie die sozialökologische Transformation in Wirtschaft und Gesellschaft gelingen kann. Handlungsempfehlungen – Chancen – Entwicklungen. Hg. von Alexandra Hildebrandt, Matthias Krieger und Peter Bachmann. SpringerGabler. Berlin, Heidelberg 2025.
Ralf Konersmann: Die Unruhe der Welt. S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2015.