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Dr. Alexandra Hildebrandt

Training in Überlebenskunst: Zum 90. Geburtstag von Hans Magnus Enzensberger

Keine vollendete Meisterschaft

Hans Magnus Enzensberger ist eine der letzten freischwebenden Intelligenzen in Deutschland, denn er entzieht sich, sobald er auf etwas „festgelegt“ wird. Er ist auch kein Zu-Ende-Denker, sondern jemand, der ständig Impulse aufnimmt und verarbeitet, geistige Samen streut, die irgendwann irgendwo aufgehen. Auch das hat mit Nachhaltigkeit zu tun. In seinem Buch „Überlebenskünstler geht es dem am 11. November 1929 in Kaufbeuren geborenen Lyriker, Essayisten, Biographen, Herausgeber und Übersetzer nicht um die Frage nach dem, wer er ist (und wenn ja, wie viele), sondern um andere Menschen und das, was (von ihnen) bleibt. Es ist ein Merkbüchlein mit wertvollen Lesefrüchten, Zitaten und Anekdoten. „Es kommen härtere Tage“, kündigte Ingeborg Bachmann 1958 mit ihrem Gedicht „Die gestundete Zeit“ an. Sollte sie Recht behalten, „könnte ein Training in der Kunst des Überlebens von Nutzen sein.“ Im Sinne eines bewusst geführten Lebens ist sie ein ständiger Lernprozess und keine vollendete Meisterschaft. Überlebenskunst kann dazu beitragen, mit den persönlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen besser zurechtzukommen.

Das 20. Jahrhundert war eine Blütezeit von Schriftstellern, die die harten Schläge der Existenz und zeitgeschichtlichen Ereignisse im „Zeitalter der Gewalt“ überlebt haben (bei vielen, die umkamen, sind die Ursachen meistens bekannt). Aber wie stand es mit den anderen, wie haben sie die Zeit überstanden? Waren es bestimmte Strategien oder Glücksfälle, durch die sie dem Gefängnis, dem Lager und dem Tod entronnen sind? Waren jene Menschen zu standfest, um vor der Macht zu kapitulieren? Waren sie intelligenter als andere, agierten sie taktischer? Ihnen widmet Hans Magnus Enzensberger seine "99 literarische Vignetten aus dem 20. Jahrhundert", die 2018 unter dem Titel "Überlebenskünstler" erschienen sind.

Eine Vignette bezeichnet im Französischen eine Rebsorte, später wurde das gesamte Etikett der Weinflasche so benannt. Zuletzt meinte dieses Wort Randverzierungen in der Drucktechnik. Als Vignette wird auch eine Variante der besonders im 19. Jahrhundert beliebten Porträtmalerei bezeichnet. Es war damals Mode, geliebte Personen auf ovalen Miniaturgemälden abzubilden, die häufig um den Hals getragen wurden. Zu Enzensbergers "Überlebenskünstlern" gehören u. a. Ernst Jünger, Maxim Gorki, Ilja Ehrenburg, Pablo Neruda, Carl Zuckmayer, Gottfried Benn, Rudolf Borchardt, Erich Kästner, Peter Weiss, Ezra Pound und Gabriele D’Annunzio, Alfred Döblin, Marcel Reich-Ranicki, Robert Musil und Jean Cocteau, Nelly Sachs, Michail Bulgakow, Konstantin Paustowski, Julian Tuwim, Bertolt Brecht, Hans Sahl, Georg Glaser, Albrecht Fabri, Veijo Meri, Danilo Kiš. Viele von ihnen kannte Enzenzberger persönlich. Sie haben ihn bei der Suche nach einem gelingenden Leben angeregt. Es wie ein Kunstwerk zu gestalten bedeutet nicht Perfektion – vielmehr muss es authentisch und inhaltsvoll sein.

Spiel mit Identitäten

"Er ist eigentlich ein Lehrer. Und er ist - glaube ich - auch ein Menschenfreund", sagt Hans Magnus Enzensberger über Andreas Thalmayr. Andreas Thalmayr ist aber eines seiner Pseudonyme, unter denen Enzensberger veröffentlicht hat. Sein Buch "Eine Handvoll Anekdoten, auch Opus incertum" ist unter seinem eigenen Namen erschienen und liegt seit Ende 2018 der Öffentlichkeit vor. Enzensberger erzählt darin von seinen frühen Jahren in der dritten Person Singular:

„Wenn er über sich selber schreibt,

schreibt er über einen andern.

In dem, was er schreibt,

ist er verschwunden.“

Opus incertum heißt lateinisch „unregelmäßiges Werk, römischer Mauerbau aus Fundsteinen“. Enzensbergers Text besteht aus vielen Erinnerungssteinen, die „aufgelesen“ werden und manchmal wie lose Fundstücke erscheinen. Eigentlich war das Buch nur für einige Freunde und Kollegen gedacht, deshalb erschien es zuerst als Privatdruck in einer Auflage von nur 99 Exemplaren. Auch Wichtiges und Unwichtiges, Alltägliches und Historisches, Altes und Neues hat darin seinen angestammten Platz. Das gilt auch für sein Buch „Eine Experten-Revue in 89 Nummern“, in dem er einen Dialog zwischen der Natur und einem Unzufriedenen beschreibt und darin Nebensächliches und Dinge des Alltags verwebt: Bierdeckel, Fahrräder, Hemden, Hüte, Nadeln, Papier, Taschen Tresore und: Knöpfe. Sie sind in der Regel unauffällig – häufig bemerkt man sie erst, wenn sie fehlen. Für die meisten Menschen sind sie lediglich Mittel zum Zweck, unauffällige Schnittstellen, die Kleidungsstücke zusammenhalten. Im Digitalisierungszeitalter, in dem die Bedeutung des Analogen immer mehr verschwindet, sind sie für einige Menschen zu begehrten Kunstwerken geworden. Wer das Kleine in seinem Denken und Tun vernachlässigt und geringschätzt, wird es auch im Großen zu nichts Nachhaltigem bringen. Die Klugen verbinden wie Enzensberger das Kleine, das buchstäblich begriffen und verändert werden kann.

Eine Handvoll biographischer Anekdoten

Der Publizist wuchs in einer bürgerlichen Familie auf. Sein jüngerer Bruder Christian war Anglist und verstarb 2009. Vierzig Jahre verbrachte er in Elementar-, Ober-, Hochschulen und Kollegien. Seine Schüler schätzten ihn, doch dann hatte er genug von der Universität, „warf seinen Lehrstuhl um und ging jeden Tag ins Freie. Er redete mit den Steinen, sah den Pflanzen und den Wolken zu und machte sich an seine Hauptarbeit, eine gänzlich neue Geschichte der Natur, die ohne den Darwinismus auskam“ Als er nach fünfzehn Jahren damit fertig war, „hörte er auf zu essen und starb. Dass die Jüngeren vor den Älteren enden sollten, kam M. widersinnig vor. Sich mit diesem Fehler der Natur abzufinden war schwer.“ Der andere Bruder, Ulrich, war ein Gründungsmitglied der Berliner Wohngemeinschaft Kommune I und ist als Autor tätig. Der Bruder Martin verstarb Mitte der 1980er-Jahre an Lungenkrebs.

Die Eltern ließen den Jungen fast immer das machen, was er wollte - im Gegensatz zur Außenwelt, die ihm regelmäßig vorgeschrieben hat, was zu tun war. Während des Luftkrieges siedelte die Familie von Nürnberg in die mittelfränkische Kleinstadt Wassertrüdingen. Enzensberger hatte einen Lehrer, der überqualifiziert war, ein Schüler des Physikers und Mathematikers Arnold Sommerfeld. Durch den Krieg hatte es ihn in die Provinz verschlagen. Dieser Lehrer hat ihn von der Mathematik überzeugt, weil er sie nicht wie eine Formelsammlung vermittelt hat, die man abfragen konnte. Nur eine richtige Lösung hinzuschreiben, ohne zu wissen, warum, reichte ihm nicht. Deshalb ärgerte sich Enzensberger später auch so sehr, dass seine Kinder Mathematik rein mechanisch lernen mussten: wie man das richtige Ergebnis hat, ohne zu verstehen, warum. Um seiner Tochter die Mathematik zugänglich zu machen, schrieb er später das Buch „Der Zahlenteufel – Ein Kopfkissenbuch für alle, die Angst vor der Mathematik haben“ , die Geschichte des kleinen Robert, der alles hasst, was mit Mathematik zu tun hat, und der dann seine Angst verliert. Er lernt, dass die Zahlen nicht nur ein Hilfsmittel sind, um sich das Taschengeld einzuteilen, sondern auch Charakter haben. Im Zeitalter von Fake News erhält das Thema eine besondere Relevanz.

Wie alle Beamtenkinder war Enzensberger zur Teilnahme bei der Hitlerjugend verpflichtet, wurde aber mit der Begründung, er sei trotzig und ein Querulant, ausgeschlossen. Der Rauswurf war der Auslöser für seine Bücherliebe. Nach dem Krieg machte er an der Oberschule in Nördlingen das Abitur, seine Familie ernährte er als Schwarzhändler, Dolmetscher und Barmann bei der Royal Air Force. Mit einem Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes studierte Enzensberger Literaturwissenschaft und Philosophie in Erlangen, Freiburg im Breisgau, Hamburg und an der Sorbonne in Paris. Da der Doktortitel „eine bürgerliche Existenz zu verbürgen schien“, beschloss M., eine kleine Dissertation in der fränkischen („kleinen und muffigen“) Universitätsstadt E. zu schreiben, „obschon mit den Lehrstuhlinhabern der Germanistik schwer auszukommen war.“ Unschwer ist darin die Universität Erlangen zu erkennen, an der ich in den 1990er-Jahren ebenfalls Germanistik studierte und zu meiner Zeit genauso mit den Verantwortlichen haderte, wenngleich eine andere Generation dort lehrte. Die Professoren waren untereinander verstritten, schienen geistig verstaubt und eitel.

1955 wurde Enzensberger mit einer Arbeit über Clemens Brentanos Poetik promoviert. In der Handbibliothek der Neueren deutschen Literaturwissenschaft, einem grauen Betonbau, der kaum Kreativität und Inspiration zuließ, hielt ich diese Arbeit während meiner Studienzeit sogar in den Händen. Der hitzige Brentano und die deutsche Romantik hatten es mir in jungen Jahren ebenfalls angetan. Später begegnete mir Enzensberger als Herausgeber der Buchreihe Die Andere Bibliothek wieder, in der unter anderem auch die Freundschaftsbriefe von Clemens Brentano und Achim von Arnim erschienen. Unverzichtbar sind mir bis heute auch die von ihm herausgegebenen Essais von Montaigne. Der Essay ist bestens geeignet, sich einem Gegenstand spielerisch von vielen Seiten zu nähern, ohne das strenge Korsett der wissenschaftlichen Abhandlung. „Essay“ stammt vom „Wägen“, von der Kostprobe und dem Versuch. Daraus entwickelten Francis Bacon und Michel de Montaigne eigene Produkte der Urteilskraft. Das Unfertige weist über Grenzen hinaus und will weitergedacht werden. Das gilt auch für die Publikationen von Hans Magnus Enzensberger.

Weiterführende Literatur:

Hans Magnus Enzensberger: Eine Experten-Revue in 89 Nummern. Suhrkamp Verlag Berlin 2019.

Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler. 99 literarische Vignetten aus dem 20. Jahrhundert. Suhrkamp Verlag. Berlin 2018.

Hans Magnus Enzensberger: Eine Handvoll Anekdoten, auch Opus Incertum. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.

Hans Magnus Enzensberger: DER ZAHLENTEUFEL Hanser, München 1997.

Kommentare

Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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