Vergänglichkeit als Chance: Depeche Mode live
Memento mori („Bedenke, dass du sterben wirst“), flüsterten Sklaven im alten Rom siegreichen Feldherrn bei deren Triumphzügen durch die Stadt ins Ohr. Das Ritual sollte sie an die eigene Vergänglichkeit erinnern, denn nur den Göttern war das „Live Forever“ vorbehalten.
Erinnern moderne Stadiontourneen nicht auch an Triumphzüge? Einige Popstars werden durch ihren Erfolg anmaßend und arrogant, sie fühlen sich gottähnlich und unendlich und spüren nicht die Gefahr der Hybris. Andere zeigen sich einfach als Menschen mit all ihren Ängsten, ihrem Schmerz und ihrer Trauer. Dazu gehört auch die britische Band Depeche Mode, die seit Jahrzehnten Fans auf der ganzen Welt mit ihren ausverkauften Welttourneen mit spektakulären Shows begeistert. Auch für viele Deutsche ist die Band Teil des Lebens. Ihr aktuelles Album trägt den Titel „Memento Mori“. Die Vergänglichkeit ist in allen zwölf Songs auf dem neuen Werk, dem 15. Studio-Album der Band, allgegenwärtig – nicht nur, aber vor allem in der Single „Ghosts Again“: “Time is fleeting. See what it brings… We know we´ll be ghosts again…”
Im Video dazu, in dem erlebtes Leid und die Akzeptanz der eigenen Endlichkeit symbolisiert wird, verweist Regisseur Anton Corbijn auf eine Szene aus Ingmar Bergmans Filmklassiker „Das Siebente Siegel“ (1957): Maschinist Martin Gore und Sänger Dave Gahan von Depeche Mode sitzen in Schwarz-Weiß bei strahlendem Sonnenschein über den Dächern in New York an einem Tisch. Dave spielt mit Gevatter Tod, verkörpert durch Martin, eine Partie Schach. Erste Zuggewinne von Dave suggerieren, dass er den Tod besiegen könnte. Mit Beginn der zweiten Strophe findet sich Dave auf einem Friedhof wieder. Orientierungslos bewegt er sich kriechend er an Gräbern vorbei und versucht, dem Tod zu entkommen, der in Gestalt von Martin regungslos an einem Grabstein angelehnt sitzend die Szenerie beobachtet. Ein Geist zieht Dave schließlich in seinen Bann und weist ihm den Weg. Er kriecht demütig zurück. Wieder am Schachbrett sitzend verliert Dave Figur um Figur, um letztlich Matt gesetzt zu sein. Der weiße König fällt. Dave steht auf und reicht Martin die Hand. Er fügt sich dem Unabänderlichen. Die Symbolkraft wird durch die Schwarzweißdarstellung zusätzlich verstärkt.
Die Band begann ihre Karriere in den frühen 1980er-Jahren. Die heimatliche Kleinstadt Basildon liegt nordöstlich von London. Nach ersten Ausflügen in die Charts mit Synthie-Pop und Trips nach London und New York kamen Verlockungen wie Geld, Frauen und Drogen hinzu. All das gehörte lange Zeit zum Alltag von Dave Gahan, der sich 2009 einen Krebstumor an der Blase entfernen lassen musste und 1996 nach einer Überdosis aus Heroin und Kokain einen Herzinfarkt erlitt. Zwei Minuten lang war er klinisch tot.
Er erinnert sich an seine Nahtod-Erfahrung: "Ich schwebte direkt unter die Decke und konnte genau beobachten, was unter mir passierte", sagte er vor einigen Jahren den Medien. "Sanitäter rannten um meinen Körper herum und versuchten, mich zu retten. Ich schrie, dass ich doch gar nicht dort unten liege, sondern hier oben bin. Ich glaube, da schrie meine Seele, die bereits meinen Körper verlassen hatte und Zeuge wurde, was mit meinem Körper passierte." Er sah zwar kein Licht, erlebte aber „eine absolute, schwarze Unendlichkeit... Und plötzlich war da diese unermessliche Kraft, die mich zurückholte. Das nächste, woran ich mich erinnere, sind Sanitäter im Krankenwagen, die sagen: ‚Wow, Sie sind wieder da.‘“
Das erinnert auch an den Songverlauf von „Ghosts Again“, der zunehmend positiv anmutet. Die Endlichkeit des Lebens bietet auch die Chance, die eigenne Lebenszeit sinnvoll und nachhaltig zu nutzen. Dave Gahan war in jungen Jahren den falschen Baum hinaufgeklettert und dachte, „wenn ich nur die Spitze erreiche, wird alles gut. Das war aber nicht so. Und ich habe sehr viele Zweige abgerissen, als ich herunterkrachte. Ich bin damals dem Tod entkommen.“ Das empfindet er heute als großes Geschenk. Er fühlte, dass es im Leben einen höheren Sinn gibt. Für ihn besteht er darin, als Musiker innerlich zu wachsen. Es gibt viele Tage, an denen er sich besonders inspiriert fühlt von diesem wunderschönen Planeten. Aber manchmal steht er auch morgens auf und denkt beim Blick in den Spiegel: „Verdammt, ich mag nicht, was da zurückblickt!“ Und dann sieht er so viel Leben und Licht in anderen Menschen, dass ihn dies wieder aufrichtet („The Light The Dead See“). Zuhause bedeutet für ihn vor allem: Frieden zu finden. Etwas in sich selbst zu entdecken, dem nichts mehr hinzugefügt werden muss.
Er starb am 26. Mai 2022 im Alter von 60 Jahren an einer Aortendissektion (einem Riss der inneren Schicht der Hauptschlagader). „Man fängt an, über die eigene Vergänglichkeit nachzudenken“, sagt Dave Gahan . Der lateinische Titel „Memento Mori“ stand allerdings schon vorher fest. Alle Songs entstanden in der Frühphase von Corona. „Der Titel klingt sehr morbide, aber man kann ihn auch sehr positiv sehen. Lebe den Tag in vollen Zügen, so interpretieren wir ihn“, sagte Martin Gore dazu. Die zwölf Songs von „Memento Mori“ (in besonderer Weise auch „My Cosmos Is Mine“) geben dem Weltschmerz über Kriege, Klimawandel und tägliche Katastrophen, eine Stimme und einen technoiden Rhythmus. Das erste Album nach dem Tod von Andy Fletcher erschien im Frühjahr 2023. Ihre Memento Mori–Tour begann am 26. Mai 2023 – dem ersten Todestag von Fletch.
Nach dem Erfolgsbuch „Monument“ („die absolute Depeche-Mode Bibel“, so (Johnny Haeusler, Spreeblick) und dem beliebte Fan-Werk „Behind The Wall“, das die außergewöhnliche Beziehung von Fans aus der ehemaligen DDR mit der britischen Kultband beleuchtet, legen Sascha Lange und Dennis Burmeister anlässlich der Deutschland-Tournee von Depeche Mode den zweiten Bildband „Depeche Mode LIVE“ vor, der die Band von Tour zu Tour von 1980 bis 2023 begleitet und bisher ungesehene Fotos sowie Gespräche mit Wegbegleiter:innen der Band vereint. Im Interview sprechen die Autoren über den Zauber von Depeche Mode als Liveband und die beeindruckende Fan-Sammlung von Dennis Burmeisters Sammlung, die mehrere Tausend Stücke umfasst: Konzert-Fotos, Backstage-Pässe, Eintrittskarten, aber auch einige seltene Platten. Am meisten freut er sich über das erste Demotape von Depeche Mode von 1980, wo Vince Clark handschriftlich seine damalige Adresse in Basildon drauf geschrieben hat als Kontakt (davon sind nur noch zwei Exemplare bekannt). Enthalten sind zudem Geschichten und anekdotenreiche Interviews rund um DM-Tourneen von 1980 bis 2023. Sascha Lange teilt auch eine persönliche Favourites-Playlist aus gut 40 Jahren Diskographie. Dennis Burmeister, Sascha Lange sind im Teenager-Alter Fans geworden. Zeitweise sahen beide aus wie das fünfte Bandmitglied. Es war für sie immer sehr faszinierend zu beobachten, wie sich die Band weiterentwickelt hat und Fans eine kulturelle Heimat bot: „So was hält ein Leben lang – und es ist rational nicht erklärbar.“ Auch wenn die Popkultur der 1980er Jahre sehr oberflächlich und schnelllebig war, hob sich diese Band wohltuend und nachhaltig ab. Nachdem in den 2000ern Depeche Mode immer noch da waren, wurde vielen alten Fans bewusst, „dass diese Musik Bestandteil ihres Lebens ist und nicht nur eine Episode ihrer Jugend war.“
Sascha Lange, geboren 1971 in Leipzig, Musiker, Autor und Historiker mit Schwerpunkt Jugendkulturen im zwanzigsten Jahrhundert. Er ist außerdem wissenschaftlicher Berater für Museen, Medien und Theater. Im Aufbau Verlag erschien von ihm "DJ Westradio" und "Das wird mein Jahr", bei Blumenbar gemeinsam mit Dennis Burmeister "Depeche Mode : Monument", die bislang größte Werkschau über die britische Band. Dennis Burmeister, geboren 1975, Grafik-Designer, DJ, Veranstalter, trug in den letzten 35 Jahren eine der größten DEPECHE MODE-Sammlungen zusammen. Mit mehreren tausend Exponaten könnte sie ein Museum füllen.
Dennis Burmeister hatte schon länger die Idee eines Nachfolgebuches. Für „MONUMENT“ konnte wegen des Platzes nur ein kleiner Teil seiner Sammlung verwertet werden, der Schwerpunkt des Buches lag auf der Studio-Arbeit der Band und ihrem Output an Musik. Dann wurde die Idee des Nachfolgebandes zunächst vernachlässigt und 2018 zunächst der Band „Behind The Wall – Depeche Mode-Fankultur in der DDR“ veröffentlicht. 2019 wurde „Depeche Mode LIVE“ konzipiert. Beide hofften, dass die Band nach ihrem Vier-Jahres-Rhythmus 2021 eine neue Platte machen würde und sie parallel dazu das Buch – doch die Pandemie verhinderte dieses Vorhaben. „Depeche Mode LIVE“ wurde am 10. Oktober 2023 veröffentlicht. Das Buch bedeutet den Autoren so viel, weil die Band künstlerisch zwei Dinge ausmacht: „Ihre ausgefeilten Studioalben und ihre unvergleichliche Live-Performance. Deshalb diese beiden großformatigen Bücher.“ Zudem sollten sie auch aus dem Blickwinkel ihrer Konzerte betrachtet werden, zumal das Interesse der Fans an Depeche Mode-Konzerten „eher steigt als nachlässt“. Ihre Musik macht das Vergängliche unvergänglich.
Dennis Burmeister, Sascha Lange: DEPECHE MODE: LIVE. Aufbau Verlag, Berlin 2023.