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Vertrauen lernen

Wie wir besser miteinander klarkommen werden

Vertrauen ist die Grundlage für Beziehungen und im Grunde sogar unserer Gesellschaft. Denn wie sollen sich Menschen jemandem nah fühlen, wenn sie ihm nicht vertrauen könnten, für sie da zu sein und vor allem gut mit ihnen umzugehen? Womit Vertrauen zusammenhängt, wie wir Vertrauen aufbauen und mit Vertrauensbrüchen umgehen können.

„Vertrauen ist die Mutter der Sorglosigkeit“, schrieb der spanische Dichter Baltasar Gracián Morales über die tiefe Überzeugung, dass alles richtig ist. Eine Überzeugung, die in der Arbeitswelt derzeit nicht unbedingt verbreitet ist. So bewertet in einer aktuellen Studie jeder vierte Beschäftigte die Vertrauenskultur in seinem Unternehmen negativ, und fast jeder Dritte hat schon mal einen Vertrauensbruch im Job erlebt.

Bei dem Begriff Vertrauensbruch muss ich an meine Klientin Franca denken, die kürzlich in dem Zusammenhang von einem „inneren Erdbeben“ gesprochen hat. Dieses Gefühlsbeben empfand sie, als sie von ihrem Chef aufs Schärfste kritisiert wurde, obwohl nicht sie den Fehler zu verantworten hatte, der hier für heftige Aufregung sorgte, sondern ihre Kollegin. „Christa stand neben mir und hörte sich das Donnerwetter seelenruhig an, ohne einzugreifen und die Dinge klarzustellen“, berichtete Franca in einer unserer letzten Sitzungen. „Ich war so unglaublich enttäuscht, wo sie doch im Job eine enge Vertraute von mir war. Ich weiß gar nicht, ob ich jemals wieder Vertrauen zu anderen aufbauen kann.“

Von der Hoffnung auf erfüllte Erwartungen

Vertrauen ist der Glaube oder die Annahme, dass man sich auf jemanden oder auf etwas verlassen kann. Es wird auch als hoffnungsvoller Vorschuss hinsichtlich bestimmter Erwartungen beschrieben, und in einer Welt voller Unsicherheiten und Ungewissheiten ist es keine so selbstverständliche Sache, dass unsere Erwartungen erfüllt werden. Deshalb verwundert mich das Studienergebnis aus der Arbeitswelt auch nicht besonders, denn das Maß an Vertrauen wird durch gemachte Erfahrungen beeinflusst. Und zwar von Beginn unseres Lebens.

Das Gehirn prägt sich nämlich durch die Umwelterfahrung. Wenn ich als Kind die Erfahrung mache, Mama und Papa freuen sich, dass es mich gibt, dann verschaltet sich das Gehirn über die hormonellen und neurobiologischen Prozesse, die ablaufen. Und ganz tief entsteht ein Urvertrauen, dass es da draußen Menschen gibt, denen ich vertrauen kann. Das ist eine tiefe Prägung. Wenn ich dieses Urvertrauen nicht habe, ist mein Gehirn viel gestresster und ich habe weniger Sicherheitserleben. Die ersten zwei Jahre sind dafür sehr wichtig, denn in dieser Zeit entsteht im Gehirn des Kindes eine mentale Landkarte, wie die Beziehung mit anderen Menschen grundsätzlich abläuft. Sie gibt Antworten auf die Fragen:

1. Kann ich darauf vertrauen, dass andere Menschen für mich da sind?

2. Welchen Einfluss kann ich auf Beziehungen nehmen?

3. Was bin ich wert?

Kein Fremdvertrauen ohne Selbstvertrauen

Die mentale Landkarte eines Kindes mit einer sicheren Bindung und damit einhergehendem Urvertrauen lautet etwa: Ich bin okay, andere Menschen sind auch okay. Man kann sich auf die Welt da draußen im Großen und Ganzen verlassen. Die mentale Landkarte eines Kindes mit einer unsicheren Bindung ist geprägt durch die Annahme: Ich bin nicht wichtig. Andere Menschen sind nicht vertrauenswürdig, und was ich bekomme, kann schnell wieder verloren gehen.

Franca hat als Kind und Teenager das Verhältnis zu ihrer Mutter oft als schwierig empfunden, weil sie sich nie sicher war, wie die Mutter zu ihr stand: „Sie war sehr bewertend, es gab immer Vergleiche immer nur Aufwertung oder Abwertung. Sie gab mir das Gefühl, dass ich generell irgendwie nie richtig bin, und das Gefühl habe ich bis heute.“

Ein schlechtes Selbstwertgefühl hat immer Auswirkungen auf unsere Bindungen. Wenn ich mich als unwichtig, uninteressant oder „irgendwie nicht richtig“ wahrnehme, fällt es mir schwer zu glauben, dass mein Gegenüber mich spannend und sympathisch findet. Oder ich glaube, dass der- oder diejenige nur noch nicht gemerkt hat, dass ich die Aufmerksamkeit gar nicht verdiene. Es gibt kein Fremdvertrauen ohne Selbstvertrauen. So rechnet auch Franca in der Regel nicht damit, bei anderen auf Interesse zu stoßen, sondern stellt sich von vornherein auf Ablehnung ein.

Entsprechend hat sie verschiedene Mechanismen entwickelt, um sich davor zu schützen, verletzt zu werden. Und wenn sie dann doch einmal jemanden näher an sich heranlässt und beginnt, Vertrauen zu fassen, wie sie es in der Beziehung zu ihrer Kollegin Christa erfahren hat, dann wiegt ein Vertrauensbruch natürlich umso schwerer. Die Folge ist eine zunehmende Angst vor weiteren schmerzhaften Beziehungserfahrungen.

Eine Frage der Gewohnheit

Allen Ängsten, egal ob rein psychischer und/oder körperlicher Natur, liegt ein tatsächlicher oder fantasierter Kontrollverlust zugrunde. Kontrolle ist das Gegenmittel zur Angst. Eine Situation, die ich kontrollieren kann, erzeugt keine Angst. Das Gleiche gilt allerdings auch für Vertrauen. Wenn ich den äußeren Umständen (z. B. der Flugsicherheit), anderen Menschen (z. B. meiner Kollegin) oder mir selbst vertraue, dann ist dies auch ein gutes Gegenmittel zu Ängsten, die sich ohne das entsprechende Vertrauen einstellen könnten (Flugangst, Verlustangst, Angst vor Ablehnung oder Versagen). Je mehr Vertrauen ich aufbringen kann, desto weniger muss ich kontrollieren – und umgekehrt.

Eine Variante des Vertrauens ist die Gewöhnung. Wir haben die Fähigkeit, uns an Zustände, die anfänglich angsteinflößend waren, zu gewöhnen. Hierdurch stellt sich eine Art des Vertrauens ein. Umfragen zufolge war etwa die Angst vor dem Coronavirus am Anfang der Pandemie am größten. Zu einem späteren Befragungszeitpunkt sanken die Werte deutlich, obwohl sich die Situation objektiv nicht verbessert hatte, aber die Menschen hatten sich halt daran gewöhnt.

Das soll nicht bedeuten, dass wir uns an ständige Vertrauensbrüche gewöhnen sollen, schon aber an Dynamiken erwachsener Beziehungen. Und für die gilt, dass nicht immer das reibungslose und harmonische Miteinander die Basis des Vertrauens ist, sondern die Fähigkeit, sich wieder aufeinander einzustimmen, wenn es zu vorübergehenden Problemen oder Störungen gekommen ist.

So sind alle unsere psychologischen Probleme immer auch Beziehungsprobleme, denn jedes Problem, das ich mit mir selbst austrage, hat zwangsläufig auch eine Auswirkung auf meine Beziehungen. Umgekehrt sind meine Beziehungen auch die Ursache für meine Probleme. Das Außen (Beziehungen) und Innen (Ich) sind unzertrennlich. Das bildet sich in unserer Gehirnentwicklung ab: Unser Gehirn entwickelt sich entsprechend den Erfahrungen, die es mit der Außenwelt, also mit seinen zwischenmenschlichen Beziehungen, macht – eine Frage der Gewöhnung.

Wie unser Gehirn lernt

Wenn wir uns bewusst machen, dass unsere Erfahrungen und Erinnerungen unsere Wahrnehmung beeinflussen, folgt daraus, dass wir auch alle neuen Informationen unter unseren individuellen Voraussetzungen aufnehmen. Lernen und Erinnern sind untrennbar miteinander verknüpft. Indem wir Informationen in unserem Gedächtnis abspeichern, lernen wir, und alles neu Erlernte prägt und verändert gegebenenfalls unsere zukünftigen Reaktionen. Jedes Mal also, wenn Franca eine positive Beziehungserfahrung macht, kann dies ihren durch die Kindheit geprägten misstrauischen Bindungsstil in die andere Richtung verändern. Ihr Gehirn lernt Vertrauen, weil es eben wandelbar ist.

Je öfter wir also eine bestimmte Information dargeboten bekommen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie von unserem Gehirn abgespeichert wird und wir sie uns merken. Ein zweites Kriterium, welches Lernen enorm erleichtert, sind Emotionen. Erlebnisse, die entweder ganz besonders schön oder ganz besonders schrecklich sind, merken wir uns am besten.

Leider hat unser Gehirn die schlechte Angewohnheit, sich deutlich mehr auf die Probleme und Baustellen in unserem Leben zu konzentrieren als auf die Dinge, die gut laufen. Es ist also kein Wunder, dass wir mit dieser Konfiguration unseres Gehirns schnell Vertrauen verlieren oder uns aus Angst, verletzt zu werden, gar nicht erst auf eine Beziehung einlassen. Dabei müssten wir unsere Aufmerksamkeit nur öfter mal auf erfreuliche Begegnungen lenken, damit unser Gehirn abspeichern kann, wie schön ein vertrauensvolles Miteinander doch ist.

Franca bitte ich deshalb jetzt immer zu Beginn einer Sitzung, mir von netten Gesprächen, gutem Teamwork oder unterhaltsamen Kaffeepausen im Job zu berichten und sie hat jedes Mal mehr zu erzählen. Und vergangene Woche teilte sie mir mit, dass sie ihre Kollegin Christa in der Bahn getroffen, sich neben sie gesetzt und sie endlich auf deren Vertrauensbruch angesprochen hätte. „Und, wie hat sie reagiert?“, fragte ich und sah meine Klientin erwartungsvoll an. „Sie hat ihren Fehler eingestanden und mich mit Tränen in den Augen gebeten, ihr zu verzeihen. Für mich war das eine aufrichtige Entschuldigung, mit der ich gut leben kann.“

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Stefanie Stahl schreibt über Gesundheit & Soziales, Job & Karriere

Stefanie Stahl ist Deutschlands bekannteste Psychotherapeutin. Ihr Ratgeber „Das Kind in dir muss Heimat finden“ steht seit 2016 auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste. Stahl ist eine gefragte Keynote Speakerin. Sie gilt als DIE Expertin, wenn es um Liebe, Bindungsangst und Selbstwertgefühl geht.

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