Von guten Häusern und Menschen
Selbstverwirklichung bedeutet heute oft nur „Selbstdarstellung um jeden Preis, oder: alles muss rein, also Selbstverwirklichung im Konsum“, schreibt der Philosoph Rüdiger Safranski in seinem aktuellen Buch „Einzeln sein“. Er zeigt allerdings auch, dass sich Selbstverwirklichung noch anspruchsvoller denken lässt – dann allerdings muss auch „ein Moment der Selbstüberwindung“ mitgedacht werden.
Früher war dies ein Weg, zu sich selbst zu kommen. Heute nehmen diese Mühe nur wenige Menschen auf sich – und nur ganz wenige „haben überhaupt das Zeug dazu“. Diese Sätze stehen am Anfang seiner philosophischen Überlegungen. Ihn interessieren vor allem die unterschiedlichen Wandlungen, die das Einzelnsein in den letzten Jahrhunderten durchlaufen hat. Vor diesem Hintergrund zeichnet er Porträts von Menschen, die autonome Individuen sein wollten (von Martin Luther, Michel de Montaigne, Jean-Jacques Rousseau, Denis Diderot, Stendhal, Sören Kierkegaard, Henry David Thoreau, Max Stirner bis zu Jean-Paul Sartre und Ernst Jünger). „Einzeln sein“ muss nicht automatisch Isolation bedeuten. Wer einzeln ist, gehört immer irgendwo dazu, ist aber auch imstande, für sich allein zu stehen, „ohne seine Identität nur in einer Gruppe zu suchen oder seine Probleme nur auf die Gesellschaft abzuwälzen. Es bedeutet auch, Abstand halten und womöglich auf Zustimmung verzichten zu können.“
Wer für sich selbst bestimmen will, muss nämlich auch für sich selbst sorgen und wissen, was er wirklich zu leben imstande ist. Was es bedeutet, etwas Konkretes aus seinem Leben zu machen und es als Aufgabe zu verstehen, zeigt die NDR-Langzeitdokumentation über alte und verfallene Gutshäuser in Mecklenburg-Vorpommern „Mit Mut, Mörtel und ohne Millionen“ von Steffen Schneider, der darüber mittlerweile acht Filme gemacht und zwei Bücher geschrieben hat. Es geht auch um Eigentümer ihrer selbst, nicht nur um alte Häuser und ihre Vergangenheit, sondern auch um starke Persönlichkeiten und unverwechselbare Charaktere, die „genau wissen, dass sie sich nur auf sich selbst verlassen können.“ Dennoch verbindet alle eine Art intensiver Seelenverwandtschaft, denn sie eint die Suche nach der Wahrheit dieser „guten Häuser“, die sie wieder mit Leben erfüllen und ihre Geschichten weiterschreiben.
Knut Splett-Henning und Christina von Ahlefeldt in Rensow bilden dabei die „Gutshausretterzentrale“, von denen sich auch lernen lässt, was Nachhaltigkeit konkret bedeutet, ohne dass sie den Begriff bemühen müssen: „Normale Häuser werden den ganzen Winter über beheizt. Aber wir ziehen uns auf ein, zwei Räumchen zurück.“ Die Häuser sind genauso authentisch wie diese Menschen selbst. „Authentizität heißt ja – sich selbst nicht zu verleugnen.“ (Rüdiger Safranski) Mit der Sanierung der Herrenhäuser starteten sie einen völlig neuen Lebensabschnitt. „Vor diesen Projekten nicht einzuknicken und das als Lebensaufgabe anzusehen, verlangt Mut und Kraft“, sagt Steffen Schneider. Unweigerlich kommt einem dabei auch der Appell des Dichters Rainer Maria Rilke in den Sinn: „Du musst Dein Leben ändern“. Im französischen Bildhauer Auguste Rodin sah er den ernsten, gesammelten Arbeiter, der "tief wie ein Knecht" seinen Weg geht und sein tägliches Handwerk ausübt. Nichts anderes tun die Gutshausretter, die keine dicken Autos fahren, sondern lieber in Dachziegel, Mauersteine oder Eichenbalken investieren.
„Vor allem hohe Räume, edles Parkett und Flügeltüren sowie der Pflanzen- und Baumbestand im Garten oder Hof. Wer sich für eine Bestandsimmobilie entscheidet, dessen Herz schlägt meist für besondere Details, die ihm oder ihr vielleicht noch aus der Kindheit vertraut sind wie das Knacken eines alten Parkettbodens“, sagt der Bauunternehmer und Immobilienexperte Matthias Krieger. Für ihn sind Bestandsimmobilien auch grundsätzlich gute Anlageobjekte, die deutlich günstiger als Neubauwohnungen sind. Der Kauf birgt allerdings auch viele Risiken (Beachtung des Denkmalschutzes, umfangreiche Sanierungen von Dach oder Heizungsanlage etc.) - hier können immense Kosten entstehen. Um eine nachhaltige Geldanlage geht es den Gutshausrettern allerdings nicht.
Sie sind Behältnisse für Nostalgie und beschützen unsere größten Träume, Wünsche und Hoffnungen. Und sie zeigen das, wonach wir uns sehnen und verteidigen die große Idee, dass ein anderes Leben möglich ist. Ihre Motivationen sind unterschiedlich: „Das geht von der Flucht aus der Großstadt, die Suche nach Freiraum bis zur persönlichen Entscheidung, das eigene Leben komplett umzukrempeln. Mal ist es der Künstler, der aus einer Notsituation heraus einen neuen Ort für sich und seine Skulpturen sucht, mal ist es ein Fan des Spätbarocks, der ein Gebäude findet, das ihn zu sich ruft“, so Steffen Schneider. Besonders berührend ist das Schicksal von Philipp Kaszay und seiner Tochter Paula, der nach dem tragischen Verlust von Frau und später auch dem Sohn, mit Disziplin und Langmut ein Herrenhaus in Kobrow als seine neue Lebensaufgabe angenommen hat. „Das Wichtigste ist: Anfangen. Weil ich erfahren habe, was die Endlichkeit des Daseins bedeutet, denke ich manche Sachen einfach anders“, sagt Philipp Kaszay. Anfänge entstehen nur dann, wenn sich auch die Richtung des Denkens verändert. Und das tut sie beim Menschen nur aus zwei Gründen: aus Lust oder Leid. Ist eines von beiden groß genug, offenbaren sich enorme Potenziale und unendliche Möglichkeitsräume.
Reporterglück: Mit Mut, Mörtel und ohne Millionen
Neu bauen statt sanieren? Nicht resignieren!
Matthias Krieger: Praxiswissen Eigentumswohnung: Was Sie vor dem Kauf einer Neubauwohnung wissen sollten. BusinessVillage Verlag, Göttingen 2020.
Rüdiger Safranski: Einzeln sein. Eine philosophische Herausforderung. München: Hanser Verlag 2021.
Steffen Schneider: Mit Mut, Mörtel und ohne Millionen. Abenteuer Baustelle – von Gutshausrettern und guten Handwerkern. HINSTORFF Verlag, Rostock 2022.
Steffen Schneider: Mit Mut, Mörtel und ohne Millionen. Über das Abenteuer, in einem Gutshaus zu leben. Über das Abenteuer, in einem Gutshaus zu leben. HINSTORFF Verlag, Rostock 2020.