Warum man sich selbst und dem Leben vertrauen sollte – 2022 und darüber hinaus
Gerade jetzt, zum Start in ein neues Jahr, sollten wir uns bewusst werden, dass ständige Kontrolle keine Sicherheit garantiert. Wir tun gut daran, dem Fluss des Lebens zu vertrauen. Sonst beschneiden wir nur unser Lebensglück.
Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Es gibt nur wenige Sprichworte, die so eine traurige Haltung zum Leben und zu unseren Mitmenschen transportieren wie dieses. Weil wir nicht mit absoluter Sicherheit wissen können, wer uns wohlmöglich beschummelt, belügt oder schaden möchte, sollen wir vorsichtshalber allem und jedem gegenüber misstrauisch sein. Mit diesem Argwohn sichern wir unser Lebensglück, lautet der Plan. Aber kann das funktionieren?
Kontrolle soll uns vor unangenehmen Erlebnissen schützen
Unser Wunsch nach Kontrolle gehört zu unseren psychologischen Grundbedürfnissen. Wir wollen die Kontrolle über etwas haben, um uns vor unangenehmen Erlebnissen und Ablehnung zu schützen. Kontrolle hilft uns auch, unsere Eigenständigkeit zu wahren und unsere Pläne umzusetzen. Wie grundlegend sie unseren Alltag strukturiert, ist uns oft gar nicht bewusst. Damit wir all unsere kleineren und größeren Bedürfnisse und Ziele befriedigen können, benötigen wir Kontrolle über unsere Gefühle, unsere Gedanken und unser Verhalten. Ein simples Beispiel: Wenn ich morgens aufstehen soll, aber eigentlich noch müde bin, muss ich meinen Willen kontrollieren können. Ist mein Wille aber von einer Depression gelähmt, fehlt mir diese Möglichkeit. Dann kann ich mein Verhalten nicht so steuern, wie ich es eigentlich für sinnvoll erachte.
Wir brauchen außerdem ein bestimmtes Maß an Kontrolle über unsere äußere Umgebung: Wir wollen beispielsweise unseren Beziehungen nicht hilflos ausgeliefert sein. Wir wollen mitbestimmen können, wie oft wir uns sehen und wie nah wir uns sind.
Kontrolle ist also das Gegenteil von Hilflosigkeit. Unser Kontrollstreben ist in gewisser Weise die Mutter sämtlicher Selbstschutzmaßnahmen. So weit, so normal.
Wenn wir uns nicht vertrauen, können wir auch anderen nicht vertrauen
Bei manchen Menschen ist dieses Selbstschutzbedürfnis allerdings sehr stark ausgeprägt. Sie benötigen viel mehr Sicherheit und Gewissheit als der Durchschnitt und haben viel schneller Angst, dass ihnen die Dinge entgleiten. Dahinter verbirgt sich meistens eine tiefe Sorge, dem Leben in seinen Unwägbarkeiten nicht gewachsen zu sein. „Ich genüge nicht!“ oder „Ich bin unterlegen!“ sind zum Beispiel Glaubenssätze, die solche Menschen verinnerlicht haben. Dementsprechend hoch ist ihr Kontrollmotiv. Durch penible Ordnung und das strikte Einhalten bestimmter Regeln versuchen sie, ihre Unsicherheit zu bewältigen.
Nach außen wirken sie oft überambitioniert und perfektionistisch, manchmal werden sie etwas abfällig als „Kontrollfreaks“ bezeichnet. In ihrer Unsicherheit neigen sie nicht nur dazu, sich selbst zu kontrollieren und zu optimieren, sie überwachen häufig auch ihre Partner, Familienangehörigen oder Kollegen. Ein „Kontrollfreak“ möchte über die Aktionen und manchmal auch Gedanken anderer gut informiert sein: So wenig er sich selbst vertraut, so schwer ist es für ihn auch, anderen zu vertrauen. Dieses Zuviel an Kontrolle führt dann manchmal genau zu dem Ergebnis, das der Selbstunsichere eigentlich vermeiden möchte: So manche Beziehung ist schon an dem überhöhten Kontrollbedürfnis eines Partners gescheitert. So manches berufliche Projekt kommt zu keinem Ende, weil der Kontrollfreak einfach nie davon überzeugt ist, alles berücksichtigt zu haben.
Statt Negatives zu vermeiden, sollten wir Positives anvisieren
Ich habe in meiner Praxis schon oft Klienten beraten, die sich so sehr darauf fokussierten, ihr mögliches Scheitern zu vermeiden, dass sie andere Ziele aus den Augen verloren hatten. Sie ließen sich nicht ernsthaft auf eine Beziehung ein, weil sie nicht kontrollieren konnten, ob sie nicht irgendwann verlassen und verletzt würden. Sie bewarben sich gar nicht erst für einen Job, aus Sorge in dieser Position zu scheitern. In der Psychologie spricht man in diesem Zusammenhang von Annäherungs- und Vermeidungszielen. Bei der Annäherung habe ich ein klares Ziel vor Augen und weiß, wo es hingehen soll. Bei der Vermeidung bewege ich mich von etwas weg, das mir eventuell schaden könnte, aber nicht wirklich greifbar ist. Das Ziel ist dabei nur, dass ich nicht verletzt werde. Tatsächlich sind Vermeidungsziele schlechter zu kontrollieren als Annäherungsziele.
Dieses Vermeidungsverhalten verhilft unsicheren Menschen also nicht zu größerer, innerer Ruhe sondern verursacht oft neuen Stress und zieht weitere Kontrollversuche nach sich. Mit Klienten, die von ihrem Kontrollstreben ausgebremst werden, arbeite ich an dem, was sie am wenigsten können: vertrauen. Dabei geht es oftmals grundlegend um ihr Selbstvertrauen. Je mehr wir uns nämlich selbst vertrauen, desto höher ist unsere innere Gewissheit, mit Niederlagen umgehen zu können. Erst wenn wir uns zutrauen, einen Tiefschlag aushalten zu können, ist unser Kopf frei für hochfliegende Pläne und wir können Annäherungsziele anpeilen.
Wir brauchen Vertrauen und Zuversicht für unser Lebensglück
Rate ich also zu der Umkehrung des Sprichworts und empfehle „Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser“? Gerade jetzt, zum Start in ein neues Jahr, sollten wir uns einfach bewusst sein, dass ständige Kontrolle keine Sicherheit garantiert. Wir tun gut daran, dem Fluss des Lebens mehr zu vertrauen. Sonst beschneiden wir nur unser Lebensglück.