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Druckerpresse / Albrecht Dürer - © Pixabay

Warum unsere Wege in die Neue Welt über die Renaissance führen

Diese Übergangsphase nennt der Autor William Bridges das „no-man's-land": das Alte ist nicht mehr, und das Neue ist noch nicht da. Das deckt sich mit der Aussage des Managementvordenkers Fredmund Malik, dass vieles in der Alten Welt nicht mehr funktioniert, weil sie ihrem Ende zugeht, und in der Neuen Welt vieles noch nicht geht, weil es entweder noch nicht richtig da oder noch nicht reif genug ist. Das erzeugt Ängste und Verunsicherung. Alte Methoden sind untauglich geworden. Was damals eine Revolution durch Maschinen war, ist heute eine Revolution durch Organisation. Denn alles steht derzeit auf dem Prüfstand und muss neu überdacht werden: alte Denkmuster, Strukturen, Prozesse und Werte. Neue Gesellschaftsstrukturen brachten stets auch neue Machtverhältnisse, ein neues Wirtschaften und neue Arbeits- und Lebensformen hervor. Nach der Erfindung der Sprache, der Schrift und des Buchdrucks befinden wir uns heute in der vierten Medienrevolution der Menschheit. Im aktuellen Transformationsprozess nehmen der Umgang mit Komplexität und das ganzheitliche Denken einen bedeutenden Stellenwert ein. Es reicht deshalb beispielsweise nicht, nur Programmieren zu lernen – wer die digitale Revolution und ihre Auswirkungen verstehen und gestalten will, sollte interdisziplinär gebildet sein und sich auch mit dem Zeitalter der Renaissance ("Wiedergeburt") beschäftigen.

Damals drängte alles an die Oberfläche und bahnte sich einen Weg zu den Menschen in Europa (Kartographie, Reformation, Buchdruck, heliozentrisches Weltbild, Mathematik). Sie hat viel mit unserer Zeit zu tun, wenngleich die Informationsflut heute viel stärker wächst. Auch werden die Innovationsschübe immer schneller. So liegen zum Beispiel zwischen der Erfindung der Druckerpresse durch Johannes Gutenberg um 1442 und der Erfindung des ersten Computerdruckers 1953 etwa 500 Jahre, während es danach nur etwa 30 Jahre bis zur Erfindung des ersten 3-D-Druckers im Jahr 1984 brauchte. 1999 wurde Gutenberg von US-Journalisten zum "Menschen des Jahrtausends" gewählt und zum "Bill Gates des Mittelalters" ernannt. Bevor er sich dem Buchdruck zuwandte, produzierte er bereits andere Dinge seriell: sogenannte "Heiltumsspiegel", die unter Pilgern in Aachen ein beliebtes Souvenir waren. Die Menschen glaubten, damit das Heilige der Aachener Reliquien einfangen zu können. Gutenberg war davon überzeugt, dass sich viel für wenig Geld produzieren lasse, wenn nicht mehr gefeilt und ausgesägt wird, sondern gestanzt.

Nachdem Gutenberg zwischen 1440 und 1450 den Buchdruck mit beweglichen Lettern erfunden hatte, wurden sie das erste Massenmedium der Neuzeit. Zunächst wurde es für religiöse Werke genutzt, dreihundert Jahre später trug die Drucktechnik vor allem zur Verbreitung der Ideen der Aufklärung bei. Seit Beginn der Neuzeit sind Bücher der wichtigste (Über-)Träger von Zivilisation und westlicher Kultur. Die Erfindung des modernen Buchdrucks Lettern im 15. Jahrhundert war eine medientechnische Revolution mit nachhaltigen Konsequenzen. Lehrbücher für Zeichenkunst und Mathematik trugen das Wissen in Europas Gelehrtenstuben, und Dürers sensationelle Druckgrafiken gewannen durch Vervielfältigung ihre Breitenwirkung. Grammatiken, Ablassbriefe, Kalender, Broschüren, Flugblätter und Flugschriften, die Nachrichten und neue Ideen rasch verbreiten konnten beschäftigten die Druckerpressen zwar stärker als Bücher, doch ist es die Gutenberg-Bibel, die mit dieser kommunikativen Wende assoziiert wird.

Den Zusammenhang von Buchdruck, Bild- und Rechenkunst stellt der Physiker Thomas de Padova in seinem Buch „Alles wird Zahl“ dar, in dem er beschreibt, wie sich die Mathematik in der Renaissance, wo Arabische Zahlen für eine Revolution sorgten, neu erfand. Bis dahin waren die Menschen noch in den sehr einfachen römischen Zahlen gefangen, die im Prinzip nichts anderes sind als die Abbildung des Zählvorgangs, des Ritzens von Strichen in Holzstücke. Dann folgten plötzlich Einblicke in die faszinierende Ziffernwelt und Logik der indisch-arabischen Rechenkunst, verknüpft mit den Errungenschaften der griechischen Geometrie.

  • dass die Poesie und Mathematik dazu imstande sind, die Wirklichkeit in einer verdichteten Form abzubilden

  • wo Zahlen und Algorithmen ihre Ursprünge haben

  • wie kaufmännisches und mathematisches Denken ineinandergegriffen

  • dass Kunst bis heute viel mit Mathematik zu tun hat

  • dass doppelte Buchführung als "alla Veneziana" besser klingt

  • dass Leonardo schlecht im Rechnen, aber ein gutes räumliches Vorstellungsvermögen hatte

  • dass die meisten von uns Mathematik in der Schule als separierte Wissenschaft erlebten und der Mathematik-Unterricht anschaulicher werden sollte

  • dass Empirie, Detailtreue und der ganzheitliche Blick auf die Welt keine Gegensätze sind

  • dass Erfahrung und Genauigkeit des immer neuen Beobachtens heute weitgehend nur von den Einzelwissenschaften zur Geltung gebracht wird, während sie in ganzheitlichen Denkansätzen fehlen.

So lautet die Grabinschrift des Mathematikers und Astronomen Johannes Kepler (1571-1630), dessen Leben und Werk bis heute prägend ist: Jede Digitalkamera verfügt über ein (stark modifiziertes) Keplersches Fernrohr, und künstliche Satelliten bewegen sich auf „Kepler-Bahnen" um die Erde, die auf ihrem jährlichen Umlauf um die Sonne den Keplerschen Gesetzen folgt. Kepler glaubte an die Ganzzahligkeit und harmonikale Struktur der Naturvorgänge (im 20. Jahrhundert teilen dies der Astrophysiker Arthur Eddington und der Atomphysiker Arnold Sommerfeld). Den Harmonien nähert sich Kepler auf philosophischen, mathematischen, musiktheoretischen und astronomischen Wegen. Philosophie und Naturwissenschaft betrachtete Kepler nicht als „zwei Kulturen", sondern als Einheit. So war er auch nicht nur Mathematiker, Erfinder und Astronom, sondern ebenso Schriftsteller und Philosoph, dessen „Denken aus einem Guss" auch die Philosophen Hegel und Schelling im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts beeinflusste.

Auch Nikolaus Kopernikus leitete das Umdenken in einer Zeit ein, in der sich die Gesellschaft im Wandel befand. Er stellte die Sonne ins Zentrum des Systems, behielt jedoch die Himmelssphären und ihre gleichmäßige Kreisbewegung bei ohne die Frage nach der endlichen Welt zu stellen. Er bewahrte so die Vorstellung der Vollkommenheit und Harmonie des Weltalls. Seine grundsätzliche Infragestellung der Physik des Universums setzte sich allerdings erst mehr als ein Jahrhundert nach ihrer Formulierung durch den Gelehrten aus Thorn durch. Zu Kopernikus‘ Lebzeiten blühte die Seefahrt auf, Seefahrer benötigen dringend genaue astronomische Daten, um sich auf den Weltmeeren nicht zu verfahren.

Fredmund Malik verweist darauf, dass dafür niemand ein Genie sein muss - auf weite Strecken genügt ein bestimmtes Handwerk. In seinen Publikationen beschreibt er die neuen Methoden und Instrumente für den richtigen Umgang mit Komplexität und die höhere Form des Navigierens in einer Neuen Welt. Es ist die Fähigkeit, sich im Unbekannten zurechtzufinden – dann, wenn die Standorte ungewiss, die Ziele beweglich und die Wege vielfältig sind. Malik verbindet mit der „Neuen Welt“ etwas Positives und verwendet den Begriff ohne Rückblick auf die Geschichte: Für ihn entsteht sie durch die Große Transformation21, wie er schon 1997 den fundamentalen Umwandlungsprozess nannte. In der Alten Welt geht vieles nicht mehr, weil sie ihrem Ende zugeht. In der Neuen Welt geht vieles noch nicht, weil es noch nicht richtig da oder noch nicht reif genug ist. Gerade deshalb ist es in allen Organisationen eine der Kernaufgaben der Führung, nach Wegen zu suchen, auf denen es dennoch geht.

Ohne zu verstehen, was passiert und was es bedeutet, ist richtiges Handeln heute nicht möglich. Dazu braucht es allerdings einen weit aufgespannten Geist, der Kunst, Wissenschaft und Wirtschaft nicht trennt. In der Renaissance ging alles Hand in Hand. Die Kunstakademie in Florenz ist im Grunde die Vorläuferin der heutigen polytechnischen Hochschulen. Dort wurde gelernt, was fürs Vermessungswesen oder für die Astronomie benötigt wurde. Auch Galileo Galilei studierte an einer solchen Kunstakademie. Die Menschen lernten damals, die Natur und ihr Abbild mit neuen Augen zu betrachten – bevor sich das Wissen durch Spezialisierung wieder in separate Disziplinen auffächerte. Unsere Aufgabe ist es heute, alles wieder zu einer Ganzheitlichkeit zusammenzuführen, um auch Zukunft nachhaltig gestalten zu können. Wir haben die Mittel und Möglichkeiten, aber der Anfang des Wandels beginnt im Kopf.

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Dr. Alexandra Hildebrandt schreibt über Wirtschaft & Management, Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Internet & Technologie

Als Publizistin, Herausgeberin, Bloggerin und Nachhaltigkeitsexpertin widme ich mich den Kernthemen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Beim Verlag SpringerGabler habe ich die CSR-Bände zu Digitalisierung, Energiewirtschaft und Sportmanagement herausgegeben sowie "Klimawandel in der Wirtschaft".

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