Warum wir die Kunst des Gehens wieder lernen sollten
„Keiner begreift, welches Glück es ist, einen Fuß vor den anderen setzen zu können“, schreibt Norbert Blüm, der seit einer Blutvergiftung im Jahr 2019 von den Schultern abwärts gelähmt ist, aus dem Blickwinkel seines Rollstuhls, der ihm zu einem strengen Lehrmeister geworden ist. Der norwegische Autor Tomas Espedal bündelte die existenzielle Bedeutung des Gehens in dem Satz: „Du bist glücklich, weil du gehst.“ Dem ehemaligen Arbeitsminister kam dieses Glück abhanden, „ungehemmt durch die Gegend zu streifen“ und draußen schon nach kurzer Zeit Freiheit und Lebendigkeit zu spüren.
Glück und Gehen
Spazierengehen steigert bekanntlich die Kreativität und verbessert die Lernfähigkeit und Gedächtnisleistung. Immer mehr Menschen wollen heute aber auch wieder den Boden unter den Füßen spüren und ihre Umgebung mit allen Sinnen bewusst wahrnehmen – in einem humanen Tempo. Die Kunst des Gehens berührt sich mit der Lebenskunst, denn die gemeinsame Schnittmenge ist Selbsterfahrung und Selbstsorge.
In den 1980-er Jahren gründete der 2003 verstorbene Schweizer Soziologe Lucius Burckhardt das Fach Promenadologie. Der Spaziergang war für ihn eine Methode, um relevante Fragen zum Menschen und seiner Wahrnehmung zu beantworten: Wie sieht er auf seine Umgebung? Was empfindet er als angenehm? Was nimmt er beim Gehen wahr? Es war für ihn die einfachste und intensivste Methode, um sich die Welt nachhaltig zu „erschließen“, sich anzueignen, ohne sie zu okkupieren.
Gehen, Spazieren oder Flanieren war und ist für viele Menschen eine unverzichtbare und regelmäßige Tätigkeit. Einigen Autoren hat das Gehen ihr Denken und Schreiben überhaupt erst ermöglicht. Das inspirierende Lesebuch „Die Kunst des Gehens“ von Stefan Geyer, geb. 1953, versammelt exemplarische Texte bedeutender Autoren aus 300 Jahren vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart:
Der Geist des Philosophen Montaigne ging nur voran, wenn er seine Beine in Bewegung setzte. „Ich kann nur beim Gehen denken; sobald ich anhalte, denke ich nicht mehr, und mein Kopf geht mit den Füßen“, sagte Jean-Jacques Rousseau. „Wer geht, sieht im Durchschnitt anthropologisch und kosmisch mehr, als wer fährt", urteilte der sächsische Dichter und passionierte Wanderer Johann Gottfried Seume nach seinem berühmten Spaziergang nach Syrakus 1802. Er war für ihn auch ein Akt des zivilen Ungehorsams: „Loslaufen, mit wenig Geld, ohne Gefolge, ohne Anweisungen. Und einfach immer weiter; zuerst mit Freunden, später allein." In „Mein Sommer 1805“ bemerkte er, dass, wer geht, im Durchschnitt „anthropologisch und kosmisch“ mehr sieht, als wer fährt. Er hielt den Gang für das Selbstständigste im Menschen, und war der Meinung, dass alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge: „Man kann fast überall bloß deswegen nicht recht auf die Beine kommen und auf den Beinen bleiben, weil man zu viel fährt. Wer zu viel in dem Wagen sitzt, mit dem kann es nicht ordentlich gehen.“
Søren Kierkegaard riet in den Briefen an Henriette Lund: „Vor allem aber verliert nicht den Wunsch zu laufen. Jeden Tag laufe ich mich selbst in einen Zustand des Wohlbefindens hinein und laufe jeder Krankheit davon. Ich habe mich selbst in meine besten Gedanken hineingelaufen und kenne keinen Gedanken, der so schwer ist, dass ich ihm nicht davonlaufen könnte.“
Der amerikanische Dichter, Philosoph, Landvermesser und Lehrer Henry David Thoreau erklärte Wanderungen zum Wagnis und Abenteuer eines jeden Tages. Gehen war für ihn nicht nur Mittel zum Zweck, sondern der Zweck selbst: „Ich glaube, dass ich meine körperliche und geistige Gesundheit nur bewahren kann, wenn ich regelmäßig schlendere, täglich mindestens vier Stunden, meist sogar mehr, durch den Wald und über Hügel und Felder, gänzlich frei von allen weltlichen Belangen.“
Friedrich Nietzsche meinte sogar, dass nur Gedanken, die im Gehen kommen, irgendeinen Wert hätten. In „Ecce Homo“ ergänzt er: „So wenig als möglich sitzen; keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung, in dem nicht auch die Muskeln ein Fest feiern.“ Damit unterstreicht er den Zusammenhang zwischen Denken und Gehen.
Die Wiederbelebung des Begriffs Flaneur hilft uns zu finden, was wir unterwegs verloren haben: „Muße“.
Ursprünglich meint sie die Zeit, in der sich Menschen konzentriert den Dingen des Lebens widmen konnten, die ihren Wert in sich trugen und nicht Mittel zum Zweck waren (z. B. Freundschaft). Eine Gesellschaft, die davon ausgeht, dass sie sich Muße nicht mehr leisten kann, wird keinen Anfängergeist ausbilden können. Diesen aber brauchen wir, um bewusst zu leben und immer wieder ins Offene und Ungewisse aufzubrechen. Der Flaneur ist nicht nur den Fremden auf der Straße zugewandt, sondern auch dem Randständigen und Unscheinbaren. Er lässt sich absichtslos treiben, ist ein Müßiggänger, der alles mit hellwachen Sinnen beobachtet, denn die Entspannung des Geistes geht mit einem bewussteren Sehen einher.
Das aufmerksame Spazieren wurde besonders von Walter Benjamin, Jean Baudrillard, Franz Hessel, Siegfried Kracauer und Georg Simmel zur Kunstform erhoben, dessen Ende das Aufkommen des Automobils markiert, das den Fußgänger ablöste. Der Flaneur wurde zur zentralen Symbolfigur der modernen Stadt. Franz Hessel empfahl seinen Zeitgenossen: „Um richtig zu flanieren, darf man nichts allzu Bestimmtes vorhaben. Es empfiehlt sich, nicht ganz ziellos zu gehen. Beabsichtige, irgendwohin zu gelangen. Vielleicht kommst du in irgendeiner Weise vom Wege ab.“ In seinem Text „Von der schwierigen Kunst spazieren zu gehen“ schreibt er, dass der Flaneur die Straße wie ein Buch liest und in Schicksalen blättert, wenn er an Hauswänden entlang schaut. Während der Flaneur das 19. Jahrhundert maßgeblich prägte, so ist es im 21. Jahrhundert der Jogger, der durch die Stadt läuft oder vielmehr: rennt. Mit Flanieren hat all das nichts mehr zu tun.
Weiterführende Informationen:
Die Kunst des Gehens. Hg. von Stefan Geyer. Ein literarischer Wegbegleiter. Marixverlag in der Verlagshaus Römerweg GmbH, Wiesbaden 2019.
Norbert Blüm: Was bedeutet mein Unglück? Im Rollstuhl fällt der Blick auf das leben anders aus. In: DIE ZEIT (12.3.20209, S. 69.
Ulrich Grober: Vom Wandern. Neue Wege zu einer alten Kunst. Zweitausendeins, Frankfurt am Main 2006.
Alexandra Hildebrandt: Urlaub. Das Gute in der Nähe finden. Amazon Media EU S.à r.l. Kindle Edition 2017.
Ulrich Schnabel: Muße. Vom Glück des Nichtstuns. Blessing Verlag, München 2012.