Was im Alter bleibt: Über die Liebe, das Leben und das Loslassen
Mit der Zerschneidung der biographischen Einheit in immer kürzere Lebensabschnitte (Berufswechsel, Partner) verliert auch das Alter jenen nachhaltigen Sinn, der aus dieser stabilen Einheit und Identität abgeleitet war. Fehlender Sinn wird heute häufig durch die scheinbar symbolische Rückgewinnung von Jugend und blindem Aktionismus ersetzt. Auch der Respekt vor dem Alter und die Bedeutung von Erfahrungswissen geht dadurch verloren.
Der Philosoph Hans-Georg Gadamer bemerkte dazu: „Erfahrung ist etwas, was aus der Welt verschwindet. Die geregelte Welt bietet keine Erfahrung. Sie ist vorgeformt, wenn man so sagen darf. Eine Dressur. Und die Überschwemmung mit Informationen ist nicht die beste Form, einen Erfahrungsschatz aufzubauen.“ Kaum noch jemand zitiert heute mehr aus dem Gedächtnis, sondern er drückt auf einen Knopf. Gedächtnis im Sinne der echten Pflege und Auswahl dessen, „was überleben soll, wird wohl nicht mehr gepflegt.“ In der Vergangenheit waren die Ältesten in der Gesellschaft diejenigen, die Wissen weitergetragen haben. Heute lassen sich Fakten blitzschnell jederzeit übers Internet abrufen.
Im Gegensatz zu den jungen sind ältere Menschen in der Lage, noch „in der Strecke“ denken, eine Fähigkeit, die viele junge Menschen zugunsten kurzer Etappen und digitalen Denkens weitgehend verlernt haben. Ältere machen intensivere, bewusstere Erfahrungen und haben eine andere Zeitökonomie als in jungen Jahren, denn sie spüren, dass ihre Lebenszeit begrenzt ist. Keinen Tag nehmen sie mehr für selbstverständlich. Das Leben ist endlicher geworden.
Auch wenn die Gesellschaft immer älter wird - die Menschen fühlen sich nicht alt. Wissenschaftliche Studie belegen, dass sich 60-Jährige viel eher mit Mittvierzigern als mit Gleichaltrigen identifizieren. „Wir haben ein neues Altern bekommen“, bemerkt auch Rocklegende Tina Turner: „50-Jährige sind heute wie 40-Jährige. Das alte 50-jährige-Frau-Ding – das waren unsere Mütter und Großmütter, aber nicht wir.“ Das Alter wird aufgrund der steigenden Lebenserwartung zukünftig als eigene Phase definiert werden. Dabei spielen körperliche Aktivität und geistige Anregung eine wesentliche Rolle.
Allerdings kann man im Alter nur leben, was man zuvor an Leben gewonnen hat. „Wer mit siebzig eine reizvolle alte Dame sein möchte, muss als siebzehnjähriges Mädchen damit anfangen.“ Agatha Christie sagt zu Recht, dass die Vorbereitung aufs Alter bereits in jungen Jahren beginnt. Sie ist kein Dauerlauf, sondern eher ein ausdauerndes Voranschreiten. Nur auf diese Weise lässt sich das eigene Weltverständnis vertiefen.
In diesem Kontext sollte das Buch „Älter werden“ von Martha Nussbaum und Saul Levmore gelesen werden. Sie gehen den unterschiedlichen Themen des Alters in je eigenen Essays nach, die sich zu einem Gespräch verbindet und widmen sich literarischen Figuren wie König Lear, analysieren Filme und betrachten ihre eigene und fremde Erfahrungen mit dem Älterwerden (Sex, Freundschaft, Umgang mit dem eigenen Körper, Vorsorge, Großzügigkeit, Altruismus, Ungleichheit und das Verhältnis zur Vergangenheit). Auch die Machtlosigkeit, die uns in verschiedenen Formen begegnet, wenn wir älter werden, spielt hier eine wichtige Rolle: „… für diejenigen, die ihre Identität durch die Kontrolle über andere definieren, kommt die Machtlosigkeit als verheerenderer Schock.“
Die Form des Buches ist von Ciceros „De Senectute“ (Über das Altern) inspiriert. Dieses im Jahr 45 v. Chr. geschriebene Werk ist als ein Gespräch mit Ciceros bestem Freund Atticus gestaltet, an den er Tausende erhalten gebliebener Briefe adressiert hat. Das philosophische Werk handelt auch von Freundschaft und steht in engem Zusammenhang mit seinem Werk „De Amicitia“ ("Über die Freundschaft"). Beide wurden innerhalb eines Jahres geschrieben, und sind Atticus (damals 65, Cicero 62 Jahre alt) gewidmet. Zudem sind die beiden Werke auch durch Lebensumstände miteinander verbunden. De Senectute ist in das Jahr 150 v. Chr. versetzt, in die Zeit, zu der seine Hauptfigur, Cato der Ältere, 83 Jahre alt ist. Eine der großen Freuden des Alters, sagt Cato, ist das Gespräch mit jüngeren Menschen.
Freundschaft hat deshalb eine so große Bedeutung im Buch „Älter werden“, weil sie Menschen herausfordert, tröstet und belebt. Bis heute wird Freundschaft in westlichen Gesellschaften als wichtiger sozialer „Kleber“ betrachtet, der Menschen miteinander verbindet, ihnen Trost spendet und Halt gibt. Aristoteles hat in seiner Philosophie den Begriff der „praxis“ von dem der „poesis“ unterschieden und damit ein Handeln bezeichnet, dessen Zweck nicht außerhalb dieses praktischen Tuns liegt, sondern im Handeln selbst. Es geht darum, die Qualität der Freundschaft, die weder zielführend noch ergebnisorientiert ist, im eigenen Tun immer wieder aufs Neue sichtbar werden zu lassen.
Freundschaft setzt gemeinsame Entwicklung voraus und ermöglicht als wahre Freundschaft, sich einander ganzheitlich zu zuwenden. Sie ist eine frei gewählte Beziehung, in der sich erlernen und einüben lässt, wie Beziehungen zwischen Menschen gestaltet werden können. „Niemand kann ein glückliches Leben führen, der nur auf sich sieht“, schreibt Seneca im 1. Jahrhundert n. Chr. Im 48. Seiner Briefe an Lucilius über Ethik. Freundschaft braucht aber auch Luft: Sie muss einatmen (engl. to inspire, auch „inspirieren“) und ausatmen (ehl. to expire, auch „sterben“) können. Das gelingt nur durch Nähe und Distanz.
Philosophie und Literatur sind für Martha Nussbaum Instrumente der Erkenntnis und der Analyse. Die Autorin wurde 1947 in New York City geboren und wuchs in einem wohlhabenden, konservativen, protestantischen Elternhaus auf. In Harvard studierte sie klassische Philologie. 1969 heiratete sie den Altphilologen Alan Nussbaum und konvertierte zum Judentum. 1972 wurde sie als erste Frau in Harvard zum Junior Fellow ernannt. Sie arbeitete trotz zahlreicher Widerstände bis 1983 an der Universität.
Bereits zu Schulzeiten wurde sie "Artha, the Marguer" genannt: Martha, die Argumentiererin, die schon immer rationale Vermittlungsversuche unternahm, wenn sich andere gestritten haben. Sie bewahrte einen kühlen Kopf. Diese Eigenschaft half ihr, die chaotische Gefühlswelt der Menschen zu analysieren. Anfangs ging es ihr vor allem um die Frage: Wie kommen Mitgefühl, Liebe und Gemeinsinn in den öffentlichen Raum? Dann interessierte sie sich für Wut und Zorn - und den daraus resultierenden Wunsch nach Vergeltung. Sie plädiert dafür, den Zorn von der Rache zu trennen und von Ersterem das mobilisierende Moment zu nutzen. Ihre Vorbilder sind Mahatma Gandhi, Martin Luther King oder Nelson Mandela. Deren Geschick habe darin bestanden, den Zorn ihrer Anhänger vom Wunsch nach der Rache zu trennen, um dadurch beständige Veränderung zu bewirken. "Das ist es, was vor allem auch junge Menschen lernen sollten. Um sich auf ihre Rolle im Leben, ihre Rolle als Bürger vorzubereiten".
Das Buch ist eine Einladung, immer neugierig auf andere Menschen zu bleiben und Vielfalt zu respektieren: „Frage sie, wie sie das Leben erfahren, bevor du ihnen einen Vortrag darüber hältst, wie sie das Leben seinem Wesen nach erfahren müssen. Sei darauf vorbereitet, Sinnhaftigkeit in Lebensweisen zu erkennen, die anders sind als deine eigene.“
Die Autoren:
Martha Nussbaum ist Philosophin und Professorin für Rechtswissenschaften und Ethik an der University of Chicago. Mit ihrem umfangreichen Werk hat sie mehrere Literaturpreise und über dreißig wissenschaftliche Ehrengrade erhalten und gilt als eine der profiliertesten Philosophinnen der Gegenwart.
Saul Levmore promovierte in Wirtschaftswissenschaften sowie in Jura an der Yale University. Seit 1998 ist er Professor für Rechtswissenschaften an der University of Chicago Law School.
Weiterführende Literatur:
Martha Nussbaum und Saul Levmore: Älter werden. Über die Liebe, das Leben und das Loslassen. Aus dem Englischen übersetzt von Manfred Weltecke. wbg Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2018.