Wenn zum stressigen Job ein privater Pflegefall kommt – was Mitarbeitende dann brauchen
Etwa 6,6 Millionen Menschen in Deutschland pflegen Angehörige zu Hause. Ein Drittel dieser Pflegenden ist berufstätig. Oft bedeutet das einen kräftezehrenden Dauerspagat. In dieser Situation können sensibilisierte Führungskräfte ihre Mitarbeiter unterstützen. Das kommt auch den Unternehmen zugute.
Wenn Mitarbeiter die Pflege für Angehörige übernehmen, ist das oft eine Zäsur in ihrem Leben. Der Umbruch kommt zudem meist plötzlich, häufig ausgelöst durch Ereignisse wie einen Sturz. Es kann ein monate- und jahrelanger Marathon mit besonderen organisatorischen, formalen und emotionalen Herausforderungen folgen. Die eigene Mutter oder den Vater zu pflegen kann psychisch und körperlich enorm belastend sein. Insbesondere wenn es dabei um Demenzerkrankungen geht. Viele Pflegende erleben diese Zeit als größte Krise ihres Lebens.
Für die Pflege wenden Angehörige bis zu 25 Stunden wöchentlich auf.(Quelle: Personalwirtschaft)
All dies bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die Arbeit der betroffenen Mitarbeiter und somit auch deren Unternehmen. Die Zahl der pflegebedürftigen Menschen wird laut Statistischem Bundesamt bis zum Jahr 2055 um 37 Prozent zunehmen. Für die Pflege wenden Angehörige bis zu 25 Stunden wöchentlich auf (Quelle: Personalwirtschaft). In meinen Trainings für Mitarbeiter haben mittlerweile bis zu 50 Prozent aller Teilnehmer einen Pflegefall im engsten Familienkreis.
Es wird für Unternehmen also drastisch an Bedeutung gewinnen, Arbeit und Pflege in eine funktionierende Balance zu bringen. Nur so werden sie weiterhin gesunde, leistungsfähige Mitarbeiter und unternehmerischen Erfolg haben.
Damit dies gelingen kann, müssen die Führungskräfte der Unternehmen zunächst einmal verstehen und nachfühlen: Vor welche Herausforderungen stellt die Pflegesituation meine Mitarbeiter? Und welche Auswirkungen kann dies auf meine Mitarbeiter haben?
Mit anderen Worten: Es braucht auf Seiten der Unternehmen und ihrer Führungskräfte als Basis ein empathisches Bewusstsein dafür, was es heißt, berufstätig zu sein und gleichzeitig einen sehr nahestehenden Menschen über Monate und Jahre zu pflegen.
78 Prozent der Pflegenden klagen über starke seelische Belastung.(Quelle: Kassenärztliche Bundesvereinigung)
Pflegen kann sehr deprimierend, erschöpfend und überfordernd sein. So klagen 57 Prozent der Pflegenden über starke bis sehr starke körperliche und 78 Prozent über seelische Belastung (Quelle: Kassenärztliche Bundesvereinigung).
Auch während der Arbeit sind die Gedanken bei den Schwerkranken, möglicherweise Dementen, daheim. Die Sorge, es könne jederzeit zu einem neuen Drama kommen, ist unterschwellig ständig da. Mehrfache tägliche Telefonate während der Arbeitszeit können die Regel werden – samt Schuldgefühlen den Kollegen gegenüber.
Ständig gibt es organisatorische, oft zeitaufwendige Herausforderungen, um den Tagesablauf der Pflegebedürftigen zu managen. Dazu gehören die Koordination und Auseinandersetzungen mit einem ebenfalls permanent überforderten Pflegedienst, der selbst mit dem personellen Pflegenotstand zu kämpfen hat. Ganz zu schweigen von Anträgen und Auseinandersetzungen mit der Krankenkasse oder Behörden. Und dann sind da noch die finanziellen Belastungen...
Was Menschen innerlich stärkt, kommt jetzt zu kurz.
Vieles von dem, was Menschen für Krisen stark – also: resilient – macht, kann in einer Pflegesituation gefährlich ins Wanken geraten. Zum Beispiel ein gesundes Gefühl dafür, wo die eigenen Grenzen liegen – Grenzen der physischen und emotionalen Belastbarkeit. Schuldgefühle sind einer der Kollateralschäden. Die innere Stimme fragt immer wieder: „Leiste ich wirklich genug Hilfe?“ Oder sie sagt: „Ich kann mich doch nicht stärker von Papas Leiden distanzieren.“ Bei all dem rückt die Selbstfürsorge – sei es durch Bewegung, Pausen, Aktivitäten mit Freunden, gesundes Essen – dauerhaft in den Hintergrund. Die Nerven liegen chronisch blank – im Job und bei der Pflege.
So düster dies klingen mag, darf an dieser Stelle nicht untergehen: Wer Angehörige pflegt, erlebt natürlich auch wunderbare Momente. Pflegen kann beiden Seiten guttun. Und die existenzielle Natur der Pflege kann großes emotionales Wachstum ermöglichen.
Wie geht es dir mit der Arbeit plus der Pflegesituation?
Wie können sich Führungskräfte für dieses Thema sensibilisieren und vor allem gegenüber ihren Mitarbeitern sensibel zeigen, unabhängig von allen Schulungen und Informationsangeboten des Unternehmens?
Ein erster Schritt wäre, die betreffenden Mitarbeiter zu fragen, wie es ihnen überhaupt mit der Pflegesituation und der Arbeit geht. Offenheit hierüber lässt sich herstellen, indem die positive Intention dieser Frage deutlich wird: nämlich das Angebot der Unterstützung. Hierzu können unter anderem gehören:
flexible Arbeitszeiten und -orte
angepasste Arbeitsabläufe
Vertretungsregeln
Delegieren von Aufgaben
weniger geschäftliche Reisen
Pflegelotsen
Informationsangebote
Auszeiten auf Basis des Pflegezeitgesetzes
Sonderurlaub
Sebbaticals
Interne Pflegebudgets
Einem pflegesensiblen unternehmerischen Leitbild folgen.
Mit einem sowohl empathischen als auch organisationalen Verständnis als Basis können sich Führungskräfte mit möglichen Hebeln auseinandersetzen, um die Arbeits- und Pflegesituation Betroffener in Balance zu bringen, ihre Gesundheit und Leistungsfähigkeit so weit wie möglich zu erhalten.
All dies hilft dem Unternehmen, weiterhin funktionierende Arbeitsabläufe zu gewährleisten und eine gute Arbeitsatmosphäre zu bewahren. Es zeigt nach innen und außen ein pflegesensibles unternehmerisches Leitbild. Das kann Mitarbeiter binden und attraktiv für neue Fachkräfte sein.
Du möchtest mehr zu Themen wie diesem erfahren? Dann sei dabei in meinem nächsten offenen Training für mehr seelische Widerstandskraft (Resilienz) für Mitarbeiter und Führungskräfte vom 14.10.2024 – 15.10.2024 im Beach Motel St. Peter Ording. Für Infos zu diesem und weiteren Trainings zu den Themen „Stressmanagement“, „Resilienzorientierte Führung“ oder „Mehr Gelassenheit entwickeln“ sende mir gern hier eine Nachricht oder eine Mail an drkaikaufmann@icloud.com oder besuche meine Homepage mit meinem Blog.
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