Wieso verpassen sich Unternehmen und potenzielle Azubis?
Eigentlich hätten im August zahlreiche Azubis ihre Lehre starten sollen. Dass in Zeiten des demografischen Wandels viele Ausbildungsplätze unbesetzt bleiben, dürfte niemanden überraschen. Aber: Zahlreiche junge Menschen finden gleichzeitig gar keine Lehrstelle. Mit den folgenden Tricks geraten kleine und mittelgroße Unternehmen ins Sichtfeld der Gen Z.
Auch in diesem Jahr wurden wieder zahlreiche Ausbildungsplätze nicht besetzt, wie Angaben der Bundesagentur für Arbeit (BA) verdeutlichen. Im Juni gab es demnach noch etwa 256.000 freie Ausbildungsplätze. Demgegenüber standen rund 147.000 Bewerberinnen und Bewerber, die noch keine Stelle gefunden hatten. In Zeiten des demografischen Wandels dürften diese Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt wohl niemanden überraschen. Verwunderlich ist jedoch die Tatsache, dass viele junge Menschen bis in den späten August hinein zahlreiche Absagen kassieren. Warum? Etliche von ihnen können keinen Schulabschluss vorweisen und gehen schon im Bildungssystem verloren.
Jeder junge Mensch ohne Schulabschluss ist einer zu viel
Noch immer beenden in Deutschland Zehntausende Jugendliche die Schulzeit, ohne zumindest den Hauptschulabschluss zu erwerben. Im Jahr 2021 traf dies auf rund 47.500 junge Menschen zu, was einem Anteil von etwas mehr als sechs Prozent an allen gleichaltrigen Jugendlichen entspricht. Wie der Zehn-Jahres-Vergleich zeigt, stagniert die Quote der Jugendlichen ohne Schulabschluss seit 2011 auf diesem Niveau. Das geht aus einer neuen Auswertung hervor, die der Bildungsforscher Klaus Klemm vorgenommen hat.
Dabei können wir es uns insbesondere in Zeiten des Fachkräftemangels nicht leisten, dass zwischen Schule und Berufsleben so viele junge Menschen vom Weg abkommen. Andere Expert:innen gehen sogar davon aus, dass diese Zahl als Nachwirkung der Coronapandemie eher weiter ansteigen wird. Die Folge: Junge Menschen ohne Schulabschluss werden häufig schon per se von den Betrieben abgelehnt. Ihnen wird gar keine Chance gegeben.
Aber Surprise: Nicht nur Deutschland steht vor dem Problem, auch unsere Nachbarländer beschäftigen sich seit Jahren mit Schulabbrecher:innen, und von einigen können wir richtig viel lernen. Anfang der 2000er hatten die Niederlande eine höhere Schulabbrecher:innen-Quote als Deutschland. Rund 15 Prozent der 18- bis 24-Jährigen hatten damals laut Eurostat keinen Abschluss. Die Regierung probierte daraufhin viele Dinge aus: Es gab Sozialpädagog:innen, die als Link zwischen Schule und Elternhaus fungierten. Es gab Bonuszahlungen für Schulen, die ihre Abbrecherquotesenkten. Zehn Jahre später wurde analysiert, dass die Maßnahme eines Mentoring- und Coachingprogrammes für Jugendliche am effektivsten war. Sozialarbeiter:inen unterstützten dabei die Jugendlichen bei der Ausbildungssuche und telefonierten ihnen im Zweifel hinterher, wenn sie morgens nicht aus dem Bett kamen.
Die Zahl der Schulabbrüche sank daraufhin rapide: Heute haben die Niederlande mit 5,3 Prozent eine der niedrigsten Abbrecherquoten in Europa. Für alle, die sich einen Deep Dive zu dem Thema geben möchte, habe ich an dieser Stelle einen Podcast-Tipp: Im Gespräch mit der Lehrerin Lisa Graf beleuchte ich im „HUNGRY MINDS“-Talk, wie die Situation in deutschen Klassenzimmern wirklich aussieht und warum Unternehmen auch jungen Menschen ohne Schulabschluss eine Chance geben sollten. Hier geht’s zum Podcast.
Wie Unternehmen ins Sichtfeld von jungen Menschen rücken
Darüber hinaus spielt die Schule eine zentrale Rolle, wenn es darum geht, als kleines, regionales Unternehmen in das Sichtfeld der Schüler:innen zu rücken. Denn im Idealfall finden schon vor der Ausbildung Gespräche mit den potenziellen Lehrlingen statt:
👉Azubis erzählen: Ein Gesprächsformat könnte beispielsweise sein, dass die aktuellen Azubis unterschiedlicher Unternehmen auf einer Schulveranstaltung transparent alle Fragen rund um Berufsalltag und Berufsschule beantworten. 👉Grill den Chef: Ein weiteres Gesprächsformat entstünde, wenn sich die Chefs und Chefinnen regionaler Unternehmen den Fragen der Schüler:innen stellen. 👉Schülerpraktis: Ein anderes unterschätztes Mittel sind die zweiwöchigen Schülerpraktika, die zum Lehrplan gehören. Natürlich sind zwei Wochen keine lange Zeit, und der Aufwand auf Unternehmensseite ist entsprechend hoch, aber dennoch ist es eine wahnsinnige Chance, um einen ersten Kontakt herzustellen. 👉Präsenz bei lokalen Veranstaltungen: Der letzte unterschätzte Faktor ist das Unterstützen von lokalen, jungen Veranstaltungen. Das fängt beim Trikotsponsoring der Jugendfußballgruppe an und hört beim Support von kleinen Konzerten der Schülerbands längst nicht auf. Insbesondere im ländlichen Raum punkten Unternehmen bei potenziellen Azubis auf diese Weise schon lange bevor überhaupt von einer Ausbildung die Rede ist.
Erwartungsmanagement für beide Seiten
Mit den oben beschriebenen Maßnahmen können insbesondere kleine und mittelgroße Unternehmen bei jungen Menschen punkten und im Idealfall mit mehr Bewerbungen rechnen. Bleibt aber ein Problem: Ein Viertel aller unterschriebenen Ausbildungsverträge wird wieder aufgehoben. Die Abbruchquote bleibt seit Jahren massiv hoch.
Aus meiner Erfahrung als Unternehmensberaterin und Gründerin der E-Learning Plattform TEAM OF TOMORROW, die sich an mittelständische Unternehmen richtet, weiß ich, dass oft kein Erwartungsmanagement betrieben wurde. Und zwar für beide Seiten. Deswegen initiieren wir nun im nächsten Schritt Vorstellungsgespräche von Schüler:innen und Ausbildungsbetrieben, in denen es zunächst noch gar nicht konkret um eine gemeinsame Ausbildung geht. Es ist eher ein Beschnuppern ohne Erwartungen.
Gemeinsam mit der Gesamtschule Kevelaer, Nordrheinwestfalen, erproben wir im Schuljahr 2023/24 eine Podcast-AG, in der Schüler:innen regionale Unternehmen interviewen. Das Ziel ist es, dass beide Seiten deutlich machen können, worauf es ihnen in der Zusammenarbeit ankommt. Da der Podcast ab Oktober auf allen gängigen Audio-Plattformen veröffentlicht wird, profitieren auch andere junge Menschen und Unternehmen aus der Region von den aufgezeichneten Gesprächen.
Authentischere Einblicke in das Leben der Gen Z bekommen Unternehmen wohl nirgendwo anders – und ja, genau darum geht es, wenn beide Seiten erfolgreich zusammenarbeiten wollen: Authentizität ab der ersten Begegnung.