Woher kommt eigentlich „Sell in May“?
Die Börsenweisheit „Sell in May and go away“ klingt modern, stammt aber aus einer Zeit, in der Finanzmärkte noch anders tickten – und Investoren andere Pläne hatten.
Ihr Ursprung liegt vermutlich im England des 19. Jahrhunderts. Dort verließen viele wohlhabende Londoner Banker und Börsianer ab Mai die Stadt, um den Sommer auf dem Land zu verbringen – fernab vom hektischen Börsengeschehen. Sie verkauften ihre Aktienpositionen, weil sie keine Nachrichtenlage verpassen wollten – und kehrten erst im Herbst zurück. Die vollständige Redewendung lautete: „Sell in May and go away, and come back on St. Leger’s Day“, wobei der St. Leger’s Day ein Pferderennen im September markiert.
Damals war das nachvollziehbar: kein Bloomberg, kein Internet, keine Push-Nachrichten auf dem Handy. Diese saisonale Abwesenheit führte zu geringerer Marktaktivität und potenziell schwächeren Kursentwicklungen während der Sommermonate.
Was damals ein praktischer Ratschlag war, wurde über die Jahre zu einer Börsenlegende. Und tatsächlich zeigen einige historische Daten: Die Monate November bis April waren in vielen Jahren renditestärker als Mai bis Oktober. Ein Beispiel: Der amerikanische Dow-Jones-Index erzielte zwischen 1950 und 2013 im Winterhalbjahr im Schnitt rund 7,5 Prozent Rendite – im Sommerhalbjahr dagegen nur rund 0,3 Prozent. [1]
Aber: Das ist Statistik – keine Strategie.
Zwischen Mythos und Marktpsychologie
Warum halten sich Börsenweisheiten so hartnäckig? Weil sie einfach klingen – und weil sie genau das bieten, was viele Anleger in unsicheren Phasen suchen: Orientierung. Sie funktionieren wie mentale Abkürzungen, sogenannte Heuristiken. Eine Art ökonomischer Reim, wenn die Lage komplex ist.
„Sell in May“, „Buy the rumor, sell the news“, „The trend is your friend“ – all das sind Formeln, die beruhigen. Sie vermitteln den Eindruck, es gäbe klare Regeln für chaotische Märkte. Wer sich daran hält, fühlt sich sicher. Und oft genug bestätigt sich das auch – zumindest zufällig. Doch genau darin liegt die Gefahr.
Denn wer seine Entscheidungen nur an alten Börsenreimen ausrichtet, blendet das Wichtigste aus: die eigene Strategie, das persönliche Risikoprofil – und die individuelle Lebenslage. Aus der Statistik wird dann schnell Psychologie. Und aus Orientierung ein Trugschluss.
An der Börse geht es nicht um Reime, sondern um Struktur. Um Langfristigkeit, Diversifikation, Disziplin. Und um die Fähigkeit, in unruhigen Zeiten nicht die Nerven zu verlieren.
Was Anleger wirklich brauchen – und was nicht im Mai passiert
Wer im Mai verkauft, weil ein Spruch es nahelegt, trifft selten eine gute Entscheidung. Denn Kapitalmärkte belohnen keine Kalendergläubigkeit, sondern Klarheit. Eine gute Strategie ist kein saisonales Projekt, sondern ein System.
Gerade in diesem Jahr ist die Versuchung groß, sich von Emotionen leiten zu lassen. Der Handelskonflikt zwischen den USA und ihren Partnern eskaliert, neue Zölle sorgen für politische Schlagzeilen – die Aktienmärkte reagieren. Und mit jeder Nachricht wächst der Druck. Seit Anfang April haben wichtige Indizes wie der DAX, der S&P 500 oder der Nikkei deutlich nachgegeben. Anleger spüren: Es wird unruhiger.
Doch genau hier zeigt sich, wie wichtig Struktur ist. Wer jetzt hektisch verkauft, nur weil die Stimmung kippt oder der Kalender „Mai“ ruft, läuft Gefahr, das Falsche zur falschen Zeit zu tun. Denn echte Risiken lauern meist nicht im Kalender, sondern in der eigenen Ungeduld.
Als Berater erlebe ich es immer wieder: Viele Anleger verfallen gerade im Frühjahr in eine Art taktisches Zucken. Man hat ein gutes Jahr hinter sich, liest Schlagzeilen über saisonale Schwächen und denkt: Jetzt bloß nicht den Gewinn verlieren. Verständlich. Aber auch gefährlich.
Was Anleger jetzt brauchen, ist keine neue Börsenregel, sondern eine saubere Struktur. Ein Portfolio, das zur eigenen Lebenssituation passt. Einen Anlagehorizont, der Schwankungen aushält. Und einen Sparringspartner, der nicht bei jedem Marktflattern mitzuckt, sondern Orientierung bietet.
Kurz: Wer langfristig investiert ist, sollte nicht auf Reime hören – sondern auf Prinzipien.
Wenn jeder zur Stimme wird, aber keiner zur Orientierung
Was „Sell in May“ besonders gefährlich macht, ist nicht nur seine Verbreitung – sondern seine Verstärkung. In einer Welt, in der jeder Tweet eine Meinung pusht, jede Schlagzeile ein Alarmruf ist und jeder Finfluencer ein Mikrofon hat, verbreiten sich Börsenweisheiten wie Lauffeuer. Was früher auf Parkett geflüstert wurde, geht heute viral – in Sekundenschnelle.
Dabei verschwimmt die Grenze zwischen Information und Meinung. Zwischen Chartanalyse und Bauchgefühl. Zwischen Marktkommentar und Inszenierung. Wer heute investiert, steht nicht nur vor wirtschaftlichen Entscheidungen, sondern mitten in einem digitalen Stimmengewirr.
Gerade deshalb tragen Berater heute eine besondere Verantwortung. Es reicht nicht, Produkte zu erklären oder Modelle zu präsentieren. Es geht darum, Orientierung zu geben. Den Lärm zu filtern. Einzuordnen, zu entemotionalisieren und die richtige Frage zu stellen: Passt diese Entscheidung zu Ihrem Leben?
Ja, langfristig könnte auch mehr Finanzbildung helfen – in Schulen, in der Ausbildung, in der Gesellschaft. Aber kurzfristig braucht es vor allem eines: Menschen, die Verantwortung übernehmen. Die nicht mit dem Wind drehen, sondern erklären. Denn nicht jeder Trend verdient Applaus. Und nicht jeder Marktkommentar, Blogger oder Finfluencer einen Trade.
Zwischen den Zeilen
Börsenweisheiten wie „Sell in May“ sind wie Kalendersprüche: Sie bieten ein bisschen Wahrheit, ein bisschen Trost – und viel Projektionsfläche. Doch wer heute Vermögen verwalten will, braucht mehr als Reime. Denn Kapital folgt keiner Saison, sondern Überzeugungen. Und die entstehen nicht aus historischen Mustern, sondern aus Zielen, Werten und einem belastbaren Plan. Gerade in unsicheren Zeiten – mit Zöllen, geopolitischer Unruhe und nervösen Märkten – ist eines besonders wertvoll: Ruhe.
Eine gute Anlagestrategie ist nicht laut. Sie muss sich nicht jedes Frühjahr neu erfinden. Sie wirkt, weil sie klar strukturiert ist, individuell passt und Raum für Schwankungen lässt. Sie schützt nicht vor jedem Verlust. Aber sie bewahrt davor, aus jeder Nachricht ein Drama zu machen.
Ich bin überzeugt: Wer heute investiert, sollte nicht fragen, ob der Mai kommt. Nicht der Kalender entscheidet, sondern das Leben. Und genau dafür sollte das Portfolio gemacht sein.
[1] Forbes (USA), 2013: “Sell In May And Go Away: Does It Work?”