Woran wir glauben – über die Kraft des Urvertrauens
Unser Ur-Vertrauen oder Ur-Misstrauen entwickelt sich in den ersten zwei Lebensjahren – während einer mentalen Entwicklungsphase also, an die wir uns nicht erinnern können. Erkennen wir später aber, wie unser Gehirn geprägt ist, können wir selbst in die Verantwortung gehen und wenig förderliche Verhaltensmuster aktualisieren.
„Alles wird gut, posaunt das positive Denken. Alles ist gut, flüstert das Urvertrauen.“ Seit ich gestern auf dieses Zitat des psychologischen Beraters Andreas Tenzer gestoßen bin, muss ich immerzu an meine Klientin Nicola denken. Sie hatte mir neulich in einem Therapiegespräch erzählt, dass es sie so aufregen würde, wenn KollegInnen sie mit „Hi Nicola, alles gut?“ begrüßen. Ich fragte sie, was denn an dieser Begrüßung so ärgerlich sei, und sie antwortete: „Bei mir ist nie alles gut, was soll also diese Frage?“ Alles ist gut. Natürlich entspricht das nicht immer unseren tatsächlichen Lebensbedingungen. Verfügen wir aber über ein starkes Urvertrauen, werden wir auch in schwierigen Zeiten eine Stimme tief in unserem Inneren vernehmen, die uns sagt, dass die Welt grundsätzlich gut ist. Und dass wir in unserem Leben Sicherheit und Liebe erfahren, auch wenn es gerade nicht danach aussieht. Nicola kann diese Stimme nicht hören, denn sie bräuchte Urvertrauen, um sich für das Vertrauen in ihr Leben entscheiden zu können. Ihr aber fehlt diese emotionale Sicherheit, weshalb sie eine pessimistische Lebenseinstellung entwickelt hat und mit Angst und Rückzug reagiert, wo andere Zuversicht und Stärke zeigen.
Die mentale Landkarte
Das Gehirn prägt sich durch die Umwelterfahrung. Wenn ich als Kind die Erfahrung mache, Mama und Papa freuen sich, dass es mich gibt, dann verschaltet sich das Gehirn über die hormonellen und neurobiologischen Prozesse, die ablaufen. Und ganz tief entsteht ein Urvertrauen, dass es da draußen Menschen gibt, denen ich vertrauen kann. Das ist eine tiefe Prägung. Wenn ich dieses Urvertrauen nicht habe, ist mein Gehirn viel gestresster, und ich habe weniger Sicherheitserleben. Die ersten zwei Jahre sind dafür sehr wichtig, denn in dieser Zeit entsteht im Gehirn des Kindes eine mentale Landkarte, wie die Beziehung mit anderen Menschen grundsätzlich abläuft. Sie gibt Antworten auf die Fragen: 1. Kann ich darauf vertrauen, dass andere Menschen für mich da sind? 2. Welchen Einfluss kann ich auf Beziehungen nehmen? 3. Was bin ich wert?
Auf dem Weg zum Urvertrauen gibt es einen zentralen Aspekt: Durch eine liebevolle Zuwendung der Eltern lernt das Gehirn des Kindes, seine Emotionen zu steuern. Kindliche Gehirne können nämlich in den ersten zwei Lebensjahren keinen Stress regulieren, und Stress stellt sich immer dann ein, wenn körperliche oder psychische Grundbedürfnisse nicht befriedigt werden. Die Aufgabe der Eltern ist es, dem Kind durch eine sichere Bindung diesen Stress abzunehmen. Was einfacher kling, als es oft ist. „Bindung zum Kind gelingt nicht deshalb, weil die Eltern krampfhaft versuchen, alles richtig zu machen. Damit eine sichere Bindung entsteht, müssen auch die Umstände passen“, fand etwa der Bindungsforscher Herbert Renz-Polster heraus. So zeigen viele Studien, dass es Müttern umso schwerer fällt, eine sichere Bindung zu ihrem Baby aufzubauen, je unsicherer und belasteter ihre Lebenssituation nach der Geburt ihres Kindes ist. Auch Nicolas Mutter ist es schwergefallen, inmitten ihrer Beziehungskrise und angespannten Finanzlage immer einen feinfühligen Umgang mit ihrem Baby zu wahren.
Über psychische Selbstheilungskräfte
Urvertrauen ist verknüpft mit dem Selbstwerterleben und damit einhergehend mit dem Bindungsstil des Kindes. Kinder, die Urvertrauen erworben haben, weil sie die Erfahrung machten, dass sie sich auf ihre Mutter und ihren Vater verlassen können und diese ihre Bedürfnisse befriedigen, weisen einen sicheren Bindungsstil auf. Ihre mentale Landkarte lautet etwa: Ich bin okay, andere Menschen sind auch okay. Man kann im Großen und Ganzen Vertrauen ins Leben haben. Die mentale Landkarte eines Kindes mit einem erworbenen Ur-Misstrauen und einer damit einhergehenden unsicheren Bindung ist geprägt durch die Annahme: Ich bin nicht wichtig. Andere Menschen sind nicht vertrauenswürdig und was ich bekomme, kann schnell wieder verloren gehen. Solch eine Landkarte bestimmt das Denken, Wahrnehmen und Verhalten von Nicola. Die Prägungen unseres Gehirns, die in unserer Kindheit entstehen, werden in der Psychologie als das „innere Kind“ bezeichnet, eine Metapher für die psychischen Programme, die sich durch die Interaktion des Kindes mit seiner Umwelt herausbilden. Dabei bezieht sich der Terminus „inneres Kind“ sowohl auf die psychisch problematischen Anteile, die ich unter dem Begriff Schattenkind zusammenfasse, als auch auf psychisch gesunde Anteile. Also auf ein positives Selbstbild und einen stabilen Selbstwert.
Wir alle tragen sowohl problematische als auch gesunde und stärkende Prägungen in uns. Für Letztere verwende ich den Begriff des „Sonnenkindes“, das nicht nur für unsere psychisch gesunden Anteile steht, sondern auch für die Veränderungsmöglichkeiten, über die wir als Erwachsene verfügen. Das Sonnenkind beinhaltet somit auch die psychischen Selbstheilungskräfte, die wir in uns entfalten können, indem wir auf unsere Stärken und Ressourcen gucken und auf alles, wofür wir dankbar sein können.
Wenn wir im falschen Film sitzen
Jerome Kagan, einer der bedeutendsten Entwicklungspsychologen des 20. Jahrhunderts, sagt in diesem Zusammenhang: „Es stimmt, dass das, was in den ersten drei Lebensjahren passiert, sehr wichtig ist. Aber genauso wichtig ist, was in den nächsten drei Jahren passiert. Und so weiter.“
Wollte Nicola sich aus ihrer Schattenkind-Matrix befreien, so müsste sie im ersten Schritt verstehen, dass es sich bei ihrem fehlenden Urvertrauen um eine willkürliche Prägung ihres Gehirns handelt, die nichts über ihre Fähigkeiten, geschweige denn über ihren menschlichen Wert aussagt. Wären ihre Eltern anders drauf gewesen, hätte sie heute sehr wahrscheinlich ein ganz anderes Selbstwerterleben. Also gehört das ganze Programm, was sich in ihrem Kopf abspielt, gar nicht zu ihr, sondern zu ihren Eltern, und sie kann sich davon distanzieren. Der erste Schritt ist, zu erkennen, dass man im falschen Film sitzt.
Wir haben alle die Tendenz, die Ursachen für Ärger und empfundenes Unglück in der Außenwelt zu verorten, insbesondere im Verhalten der anderen. Tatsächlich sind sie dort jedoch eher selten zu finden. Nur wenn wir unsere unbewusst ablaufenden inneren Programme verstehen lernen, können wir unser Leben in der Gemeinschaft aktiv gestalten, Vertrauen entwickeln und glücklich werden. Deshalb werde ich Nicola bei unserem nächsten Therapiegespräch zu einem persönlichen Rückblick ermutigen. Denn je mehr wir uns mit unserer Vergangenheit beschäftigen, desto mehr Verhaltensmuster werden uns bewusst, die ihren Ursprung in der Kindheit haben.
In dem Fall könnten wir darüber nachdenken, ob das Muster noch hilfreich und förderlich ist oder ob wir unsere Strategie verändern und aktualisieren sollten. Denn die Bereitschaft zu vertrauen, wird aus den eigenen Erfahrungen gespeist, jeden Tag aufs Neue. In Nicolas Fall kann da schon ein Lächeln als Reaktion auf einen Morgengruß den Unterschied ausmachen.