Selbstmanagement: Wie anpassungsfähig sind Sie?
Wenn Führungskräfte heute eines brauchen, ist es die Fähigkeit, mit Veränderungen positiv umzugehen. Ein Selbsttest zeigt, wie hoch Ihr persönlicher Anpassungsquotient ist und wie Sie ihn gezielt verbessern können.
Von Carl Naughton
Welche Fähigkeit ist für den Erfolg einer Führungskraft am wichtigsten? Seit Jahrzehnten ist dies die Kernfrage bei der Arbeit unzähliger Personalberater, Leadership-Forscherinnen und Recruiter. Zu ihren Antworten gehören Konzepte wie emotionale Intelligenz, Assessment-Center und Case-Interviews für Bewerberinnen und Bewerber sowie alle Arten von Persönlichkeitstests. Herauszufinden, was Führungsstarke auszeichnet, ist so etwas wie der Heilige Gral großer Teile der Managementliteratur. Eine Eigenschaft liegt jedoch allen anerkannten Konzepten zugrunde. Die Eigenschaft, Veränderung positiv zu begleiten und zu gestalten, in anderen Worten: sich ihr anzupassen.
Der Karriereforscher Douglas T. Hall sprach schon 2002 von „Adaptability“ als einer Metakompetenz, die den Kern einer erfolgreichen Karriere ausmacht. Seinen Erkenntnissen nach sind anpassungsfähige Menschen nicht nur zielorientierter und initiativfreudiger, sie schneiden auch in allen individuellen Leistungsdimensionen besser ab. Im „Flux Report“, einer Befragung der britischen „Right Management“-Organisation von 2014, gingen 91 Prozent der Personalleiter davon aus, dass die Fähigkeit, mit ständigen Veränderungen umzugehen, in Zukunft zum wichtigsten Kriterium für die Einstellung von Bewerberinnen und Bewerbern werde. Der Physiker Stephen Hawking verstieg sich gar zu dieser Aussage: Die Fähigkeit, sich an Veränderungen anzupassen, sei das Gleiche wie ... Intelligenz.
Leider können Menschen von Natur aus nicht gut mit Veränderung umgehen. Wir bevorzugen den Status quo, dieser bedeutet Sicherheit. Als 2014 die US-Unternehmensberatung Eagle Hill 1000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer befragte, wie gut sie mit Veränderung zurechtkommen, gaben 70 Prozent an, Veränderung mache sie unsicher und angespannt.
Studien von Organisationspsychologinnen wie Rose Mueller-Hanson vom Personnel Decisions Research Institute, Karen van Dam von der Open University der Niederlande wie auch von unserem Team zeigen jedoch: Anpassungsfähigkeit lässt sich erlernen. Grundlage dieser Forschung ist das Konzept des Anpassungsquotienten, kurz AQ. Er besteht aus drei Clustern: einem kognitiven, einem affektiven und einem verhaltensbezogenen. Diese drei Cluster stärken oder schwächen sich gegenseitig.
So wird ein Mitarbeiter, der offen für Veränderung ist (kognitiver Cluster), auch weniger Angst vor Veränderung haben (affektiver Cluster) und darum auch eher gewillt sein, aktiv an der Veränderung mitzuwirken (Verhaltenscluster). Hingegen wird ein Organisationsmitglied, das eher besorgt auf die Veränderung schaut (affektiver Cluster), auch weniger offen für das darin enthaltene Neue sein (kognitiver Cluster) und daher die Veränderung meiden oder sogar torpedieren (Verhaltenscluster). Ich bezeichne diese drei Cluster auch als Denk-AQ, Emotions-AQ und Handlungs-AQ.
Wenn ich Managern vom Anpassungsquotienten erzähle, fragen sie mich oft, ob sie sich selbst testen könnten. Sie wollen, analog zum Intelligenzquotienten, wissen, wie hoch ihr AQ ist. Das lässt sich machen. Ich gebe ihnen dann den Selbsttest. Es handelt sich um die deutsche Version des international anerkannten AQ-Fragebogens von Karen van Dam, die ich 2021 gemeinsam mit Achim Wortmann, Professor für Wirtschaftspsychologie der Northern Business School, und dem Datenwissenschaftler Leon Vahlkamp wissenschaftlich validiert habe.
An unserer Untersuchung nahmen 236 Berufstätige teil, darunter viele Führungskräfte. Wir beobachteten, dass die gemessene Anpassungsfähigkeit signifikant mit der Offenheit für neue Technologien, dem erfolgreichen Umgang mit Ungewissheit und der Veränderungsbereitschaft allgemein zusammenhängt. Ein Anstieg des individuellen AQs verringerte die Abneigung gegen Veränderung im Durchschnitt um 42 Prozent und erhöhte die Bereitschaft, sich auf neue Techniken einzulassen, um 23 Prozent.
Bevor wir dazu kommen, wie auch Sie Ihren AQ erhöhen können – oder den Ihrer Teammitglieder –, will ich anhand von ein paar Beispielen erklären, wie sich eine gesteigerte Anpassungsfähigkeit positiv im Berufsalltag auswirkt.
Mehr Innovation
Für Unternehmen sind anpassungsfähige Mitarbeiter unter anderem deshalb wichtig, weil von ihnen die Innovationskraft der Organisation abhängt. Diesen Zusammenhang konnten wir in einem Beratungsprojekt mit dem Automobilzulieferer Hirschvogel Group (rund 6000 Mitarbeitende; 1,2 Milliarden Euro Umsatz 2021) nachweisen. Der Wandel hin zur Elektromobilität erfordert von der Branche ein hohes Maß an Anpassungsfähigkeit. Das Hirschvogel-Management entwickelte daher das Ziel, bei den Mitarbeitern Neugier, Offenheit und Begeisterung für Neues zu steigern. Ein sechsköpfiges Team des Unternehmens identifizierte dazu verschiedene Initiativen, wie zum Beispiel Brown-Bag-Meetings unter Kollegen, und arbeitete zudem in Workshops an den eigenen Fähigkeiten im Bereich des Denk-AQs.
Einer der Workshops befasste sich mit dem sogenannten „Janusian Thinking“. Der Begriff leitet sich vom römischen Gott Janus ab, der gleichzeitig in zwei entgegengesetzte Richtungen schauen konnte. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer setzen sich in diesem Workshop mit widersprüchlichen Annahmen und Hypothesen auseinander und finden Wege, diese aufzulösen. Ein Beispiel aus der Konsumgüterbranche ist das Verbinden der zwei Gedanken „Mehr Produkt – weniger Raum.“ Die Janus-Konstellation war einer der intellektuellen Grundpfeiler für die Entwicklung von Pringles – stapelbare Chips in Dosen ermöglichten mehr Produkt auf weniger Raum.
Das Team trainierte auch Mindset-Techniken, die Berater Andreas Steinle und ich in einem Workshop einführten und die sich in anderen Unternehmen bewährt hatten (siehe auch „Der Neugier auf der Spur“, Harvard Business manager, April 2018). Eine dieser Techniken bestand darin, die Teilnehmenden mit einer misstrauischen Grundhaltung auszustatten. Die Forschung der Psychologen Jennifer Mayer und Thomas Mussweiler von der Universität Köln zeigt, dass ein solches „Misstrauens-Mindset“ dazu führt, dass Menschen mehr Ideen entwickeln. Der Grund liegt, einfach formuliert, darin, dass wir stärker nach Erklärungen suchen und so auch ungewöhnliche Gedanken zulassen, wenn wir zweifeln. Dieses Mindset lässt sich beispielsweise dadurch hervorrufen, dass Teilnehmer verdrehte Satzteile in die richtige Reihenfolge bringen müssen.
Im Verlauf des Programms konnten wir bei den Teammitgliedern von Hirschvogel deutliche Veränderungen beobachten – bei der Herangehensweise, der Agilität, dem Miteinander und messbar auch bei der Innovationskraft. Letzteres zeigte sich anhand der Anzahl, der Originalität und der Komplexität der Lösungsskizzen, die die Teamleitung vorgelegt bekam und die bei Innovationsausschreibungen eingereicht wurden. Inzwischen weitet das Unternehmen das Programm auf weitere Teams in der Belegschaft aus.
Besseres Selbstmanagement
Anpassungsfähigen Menschen gelingt es gut, Krisen zu bewältigen. Von unerwarteten Ereignissen lassen Sie sich nicht unterkriegen, sondern ziehen im besten Fall noch Energie daraus. Das drückt sich in einem hohen Emotions-AQ aus. Manche Menschen gewinnen hier durch Krisen enorm hinzu – wenn sie die richtige Unterstützung erhalten.
Verdeutlichen kann ich dies am besten am Beispiel einer Managerin, die ich für meine Forschung interviewt habe. Silvia Kemp übernahm Anfang 2020 die Teamleitung für das Veranstaltungsmanagement beim Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW). Kurz darauf brach die Corona-Pandemie aus. Mitten in der Vorbereitung musste sie die Leitveranstaltung der Energiewirtschaft absagen, den BDEW Kongress mit rund 1500 Teilnehmenden. Ich war damals für ebenjenen Kongress als Impulsgeber angefragt und erlebte mit, wie Kemp und ihr Team reagierten: Als Ersatz organisierten sie ein Online-Live-Event sowie einen hybriden Kongress im Herbst.
Der Notfallplan war mit Unsicherheit verbunden. Hatte zuvor viele Jahre lang eine externe Agentur den Kongress routiniert organisiert, lag die Verantwortung für die neuen Events nun komplett in der Hand von Silvia Kemp – und zwar von der Notfallplanung verschiedener Optionen bis hin zur Hotelsuche. „Ich stellte fest, dass ich das alleine nicht schaffe und eine personelle Unterstützung brauchte“, sagt sie. Ihre Chefin gab ihr das nötige Vertrauen und die geforderte Unterstützung. „Sie fragte mich: Was brauchst du? Ich sagte ehrlich, dass ich Hilfe benötigte, und bekam sie auch – in Form einer externen Projektleiterin.“
Die Veranstaltungen waren ein Erfolg. Doch Corona war nicht vorbei. Im Folgejahr wurde der Kongress erneut in den Herbst verschoben. Kemp verbrachte die Sommerferien mit ihrer Familie in der Toskana. Dabei waren ihre Gedanken oft bei der bevorstehenden Veranstaltung. „Ich bin ein optimistischer Mensch und schlafe gut“, sagt sie. „Aber nun wachte ich mitten in der Nacht mit klopfendem Herzen auf und dachte: Was, wenn wir wieder absagen müssen oder zu wenige Teilnehmende kommen?“
Nach dem Herbstkongress, der schließlich unter Corona-Regeln als eines der ersten größeren Energie-Events stattfinden konnte, stieg Kemp zur Co-Geschäftsführerin der neu gegründeten BDEW Kongress GmbH des Verbands auf. Andere Rolle, größeres Team, mehr Aufgaben, mehr Bälle in der Luft; rückblickend sagt sie: „Die neue Verantwortung, die gewachsene Führungsspanne mit internen und externen Kollegen und Kolleginnen und die Aufgabenfülle verlangten mir sehr viel ab.“
Die Yogalehrerin gab ihr den Tipp, einen Achtsamkeitskurs zu besuchen, auch MBSR-Kurs genannt – das Akronym steht für Mindfulness-Based Stress Reduction. Dieser gab ihr Tools an die Hand, mit dem Fokus auf das Hier und Jetzt zu arbeiten. „Im Kurs habe ich gelernt, eins nach dem anderen zu machen und Gedanken an mögliche Katastrophen einfach an mir vorüberziehen zu lassen“, sagt sie. „So machte ich mich nicht mehr mit Problemen verrückt, die noch gar nicht eingetreten waren, und konnte Aufgaben der Reihe nach fokussiert angehen.“
In ihrem Team hat Kemp inzwischen eine Metapher eingeführt: Wenn der Berg zu hoch scheint, muss man nach den Stufen suchen – und sie eine nach der anderen betreten.
„Ich sage meinen Mitarbeiterinnen, dass sie sich bei mir melden sollen, wenn sie vor einem gefühlt zu hohen Berg stehen. Dann sehen wir uns die Aufgabenfülle gemeinsam an. Wir priorisieren und finden damit im übertragenen Sinn die notwendigen Stufen, um den Berg zu meistern“, sagt Kemp. „Die Kunst ist es, die Komplexität und Dynamik eines Projekts – das große Ganze – im Blick zu haben und gleichzeitig die Aufgaben so herunterzubrechen, dass wir fokussiert und Schritt für Schritt vorgehen können. So gelingt es uns viel besser, Veränderungen zu bewältigen – oder sogar voranzutreiben.“ Im Jahr 2022 organisierte ihr Team den BDEW Kongress erfolgreich in „Vor-Corona-Größe“ – und das angesichts der Energiekrise inmitten einer der herausforderndsten Zeiten für die gesamte Energiebranche.
Flexiblere Führung
Führungskräfte müssen Impulse geben, die die Leistung der Mitarbeiter in die richtige Richtung lenken. In Zeiten der Ungewissheit fehlt dabei oft Stabilität, weil Chefinnen und Chefs selbst nicht wissen, in welche Richtung sie gehen sollen. Managementprofessor J. Craig Wallace von der Universität Denver untersuchte in einer Feldstudie 346 Mitarbeitende zweier Unternehmen aus der Elektro- und Klempnerbranche. Die Studie zeigte, dass die Bereitschaft mitzugestalten in Veränderungsprozessen eine Schlüsselrolle spielt. Innerhalb des AQ spiegelt sich diese Bereitschaft im Handeln-Cluster wider.
Die Unternehmen in der Studie teilten ihre Mitarbeiter in 75 Arbeitsgruppen mit 75 verschiedenen Vorgesetzten auf. Obwohl der Innovationsbedarf bei dieser Art von Arbeit vielleicht nicht offensichtlich ist, sucht die Branche ständig nach effizienteren wie auch nach „grüneren“ Methoden. Über drei Monate begleiteten die Forscher diese Teams, die von kleinen Zwei-Personen-Tandems bis hin zu 18-köpfigen Gruppen reichten. Sie identifizierten deutliche Zusammenhänge zwischen dem Promotionsfokus, also dem risikobereiten Auf-das-Ziel-Zuarbeiten, und den kreativen Ergebnissen. Einfach gesagt: Je mehr AQ, desto mehr Kreativität.
Wie Führungskräfte auch selbst von einem hohen AQ profitieren, zeigt eine Untersuchung von Gary Yukl aus dem Jahr 2012. Zusammen mit seiner Forschungskollegin Rubina Mahsud konnte der Organisationspsychologe nachweisen, dass anpassungsfähige Führungskräfte in Krisensituationen handlungsfähiger blieben. Der Grund war ihre gesteigerte mentale Flexibilität. Sie konnten besser ihren Führungsstil anpassen, offener auf einzelne Mitarbeiter eingehen und sie motivieren.
Wie flexibel wir auf Veränderungen reagieren, ist nicht in Stein gemeißelt. Egal ob Sie alt oder jung sind, Sie können an Ihrer Anpassungsfähigkeit arbeiten – das ist wissenschaftlich erwiesen. Vergessen Sie Scheinweisheiten wie „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“. Setzen Sie zunächst bei dem Cluster an, in dem Sie in Ihrem Selbsttest die größten Defizite feststellen.
Methoden für den Denk-AQ
Wie wir eine Situation wahrnehmen, diktiert, wie wir darauf reagieren. In der Mehrzahl sehen die Menschen mehrdeutige Situationen als gefährlich oder bedrohlich an. Manchmal liegt dies in unseren Erfahrungen in der Vergangenheit begründet (siehe Kasten „Hinfort mit der Nostalgie!“ unten), meistens ist es jedoch schlicht auf das Sicherheitsbedürfnis zurückzuführen, das jeder und jede von uns verspürt. Diese ablehnende Sichtweise verstärkt unsere Überzeugung, dass Unklarheit etwas ist, das wir lieber vermeiden sollten.
Der Anpassungsfähigkeit steht dies im Weg. Wenn Sie Ihr Denken in diesem Punkt verändern möchten, müssen Sie das Narrativ ändern. Definieren Sie Mehrdeutigkeit neu und üben Sie sich in mentaler Flexibilität. Das gelingt in zwei Schritten.
1. Machen Sie den Könnte-Schritt. Viele Führungskräfte limitieren ihr Denken, indem sie sich selbst Sätze sagen wie „Wenn ich eine gute Führungskraft wäre, sollte ich wissen, was ich meinem Team sagen muss“. Begriffe wie „sollte“ gleichen einem Türsteher, der das Gehirn nicht in den Klub des Möglichen lässt. „Sollte“ suggeriert, dass es nur einen alleinigen Weg nach vorn gibt. Das führt zu einem kreativen Blackout – zu einer Situation mit hohem Druck, in der Sie die einzige Lösung finden müssen. In der Ungewissheit gibt es aber ja gerade nicht die eine richtige Antwort.
Der „Könnte-Schritt“ ist hingegen ein Sprungbrett für neue Ideen. Machen Sie sich klar: Der Klub des Möglichen ist ziemlich cool, Sie wollen da rein. Denken Sie im Konjunktiv und öffnen Sie die Tür. Wenn Sie in erreichbaren Möglichkeiten formulieren, schrauben Sie Ihre mentale Flexibilität eine Ebene höher. Erlauben Sie es sich, Gedanken zu formulieren, die im totalen Gegensatz zum bisherigen Denken stehen.
In einem Workshop mit dem bereits erwähnten Automobilzulieferer Hirschvogel beschäftigten sich die Teammitglieder zum ersten Mal ernsthaft mit einem völlig neuen Absatzkanal. Sie fragten sich: „Könnten wir nicht auch, genauso wie die asisatischen Anbieter, über die bestehenden digitalen Marktplätze anbieten, anstatt nur auf den direkten Kontakt zu setzten?“ Dieser Gedanke galt bis zu dem Zeitpunkt als „No-Go“, sowohl im Unternehmen als auch in der gesamten Branche. Der Weg vom „Sollte“ zum „Könnte“ ist der Weg in die Vielfalt, weg vom Diktat einer einzigen richtigen Antwort. Sie entwickeln Alternativen.
2. Schieben Sie die Lösung auf. Wenn Sie sich gedanklich Optionen erlauben, müssen Sie diese einzeln beleuchten und überlegen, in welchem Kontext sich diese umsetzen lassen. Das ist deshalb wichtig, weil es eine Neigung umschifft, die uns in ungewissen Situationen immer wieder im Weg steht: unseren Drang zur schnellen Lösung.
Nehmen Sie sich für diesen Schritt Zeit. Hüten Sie sich davor, „in den Umständen“ eine Ausrede zu sehen, dass eine Option nicht erreichbar ist. Auf den Kontext können Sie auf viele Arten Einfluss nehmen. Seien Sie kreativ und erarbeiten Sie sich ein umfassendes Verständnis Ihrer Möglichkeiten, bis Sie sich für eine Lösung entscheiden.
Mit diesen zwei Schritten – „Könnte“-Schritt und Lösungsaufschub – setzen Sie unsichere Situationen in einen neuen Rahmen; im Englischen spricht man vom „Reframing“. Sie verwandeln eine herausfordernde Situation dabei von einem Zustand, der das Denken im Kopf begrenzt, in einen Ausgangspunkt, der einen weiten Lösungshorizont aufspannt.
Methoden für den Emotions-AQ
Viele Menschen verharren in unsicheren Situationen am Arbeitsplatz in Passivität, weniger aus einer bewussten Entscheidung als aus einem Gefühl der Ohnmacht heraus. Sie glauben, sie könnten eh nichts verändern, und sehen sich der Chefin, den Kollegen oder anderen Menschen ausgeliefert. Durchsetzungsvermögen ist die Antwort auf diese Situation – und ein zentraler Aspekt beim Umgang mit Mehrdeutigkeit. Es hilft Ihnen, ein Gefühl von innerer Beherrschung, Kompetenz und Selbstwirksamkeit zu erlangen. Sie brauchen dafür etwas, das Psychologen „Locus of Control“ nennen, auf Deutsch „Kontrollüberzeugung“. Betrachten Sie es als ein Tool, das Ihnen hilft zu denken, dass Sie eine Situation bewältigen können.
Natürlich gibt es äußere Umstände, die sich nicht beeinflussen lassen – eine Pandemie ist eine Pandemie, ein neuer Chef ein neuer Chef. Trotzdem finden sich fast immer Stellschrauben, auf die Sie mit Erfolg einwirken können. Tun Sie das. Damit steigern Sie Ihre innere Kontrollüberzeugung und nach und nach Ihr Durchsetzungsvermögen. Gehen Sie wie folgt vor:
1. Legen Sie einen Zielraum fest. Die meisten Menschen haben in unsicheren Situationen nur ein einziges Ziel vor Augen. Das schränkt ihre Handlungsmöglichkeiten ein. Schaffen Sie besser einen Zielraum. Sehen Sie das Ziel nicht als Punkt, sondern als Skala: Was ist das Minimum, das Sie erreichen wollen, was ist das Maximum, das Sie erreichen könnten?
2. Klären Sie Ihre Einflussmöglichkeiten. Zeichnen Sie einen Kreis. Schreiben Sie in diesen Kreis alles hinein, was Ihnen helfen könnte, Ihr Minimal- oder Ihr Maximalziel zu erreichen. Diese Aspekte sollten Sie in dieser Situation kontrollieren können. Konzentrieren Sie sich als Nächstes auf den Raum außerhalb des Kreises. Dort notieren Sie all die Dinge, über die Sie keine komplette Kontrolle haben und die außerhalb Ihrer Einflussmöglichkeiten liegen.
3. Verändern Sie, was Sie verändern können. Schauen Sie auf die Dinge, die außerhalb Ihrer Kontrolle liegen, und sagen Sie sich: „Das kannst du sowieso nicht ändern, konzentrier dich auf das, was in deinen Händen liegt.“ Dann nehmen Sie sich die Dinge vor, die Ihrer Kontrolle unterliegen. Wählen Sie die aus, die Sie weiterbringen können, und planen Sie Ihre nächsten Schritte.
Ein solches Kreisdiagramm ist in vielen Situationen hilfreich. Egal, ob Sie selbstständig sind und eine neue Geschäftsidee verfolgen wollen; ob Sie als Mitarbeiterin Ihr Arbeitsumfeld so verändern wollen, dass es Ihnen Kraft gibt statt nimmt; oder ob Sie als Führungskraft in Zeiten der Unwägbarkeit eine Entscheidung treffen müssen: Das Gefühl zu haben, die Dinge gestalten zu können, statt Ihnen ausgeliefert zu sein, verleiht Energie und erhöht Ihre Anpassungsfähigkeit immens.
Methoden für den Handlungs-AQ
„Es gibt nichts Gutes, außer: Man tut es“ heißt ein Buch von Erich Kästner. Der Titel ist in vielen Coachings aus guten Gründen zum geflügelten Wort geworden. Es sollte Sie nicht überraschen, dass Menschen, die etwas verändern wollen, auch aktiv werden müssen. Und zwar je eher, desto besser.
Wir sprechen von Proaktivität, wenn wir etwas angehen, bevor es passiert. Die Forschung hat unter anderem gezeigt, dass proaktive Makler mehr Häuser verkaufen, proaktive Berater in Werbeagenturen bessere Kundenbeziehungen haben und proaktive Führungskräfte als leistungsstärker wahrgenommen werden.
Mona Mensmann und Michael Frese von der Leuphana Universität Lüneburg haben ein ganzes Trainingsprogramm rund um die Stärkung der Proaktivität entwickelt. Im Kern geht es immer darum, zukunftsgerichtetes Handeln zu erzeugen. Wir können dabei auf zwei Arten motiviert sein: Wir können mit Vollgas zum Ergebnis vorpreschen und in Kauf nehmen, dass uns Fehler unterlaufen. Wir sagen uns dann: Nicht so schlimm – wo gehobelt wird, fallen Späne. Das nennen wir den Promotionsfokus. Oder wir wollen auf dem Weg zum Ziel so wenig Fehler wie möglich machen. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Das ist der Präventionsfokus.
Menschen mit einem Promotionsfokus wollen ihr Bedürfnis nach Leistung, Aufstieg und Wachstum befriedigen. Sie denken darüber nach, was gut laufen könnte, und entscheiden sich dann für eine zielführende Handlung. Wenn sie ihr Ziel erreichen, empfinden sie energiereiche Emotionen: Glück, Freude und Aufregung. Beim Präventionsfokus geht es darum, das Bedürfnis nach Sicherheit zu befriedigen. Die Präventionsmotivierten konzentrieren sich darauf, was schiefgehen könnte (wenn sie nicht vorsichtig genug sind). Sie wollen wachsam bleiben und denken deshalb darüber nach, was sie tun müssen, um nicht zu versagen.
In jedem von uns steckt beides, doch fast immer dominiert ein Fokus. Führungskräfte können sich dies zunutze machen, um sich selbst zu motivieren oder ihre Teammitglieder. Stimmt die Motivation, geraten Menschen eher ins Handeln, das stärkt die Anpassungsfähigkeit. Hier sind zwei Möglichkeiten, wie Sie vorgehen können:
1. Formulieren Sie das Ergebnis so, dass es zu Ihrem Fokus passt. Wenn Sie sich auf die Promotion konzentrieren, sagen Sie sich selbst zum Beispiel, dass Sie etwas gewinnen können, wenn Sie etwas tun und dabei gut abschneiden. Einfach nur etwas anders zu formulieren, mag Ihnen im ersten Moment trivial erscheinen. Doch es ist nicht der Satzbau, sondern vielmehr das Verhalten, das durch den jeweiligen, in der Formulierung eingebetteten Fokus ausgelöst wird. So kreieren Sie das, was die Motivationsforscher Heidi Grant und Tory Higgins einen „Motivational Fit“ nennen (siehe auch ihren Artikel „Spielen Sie auf Sieg – oder auf Sicherheit?“, Harvard Business manager, April 2013).
Jacquelien van Stekelenburg von der Universität von Amsterdam konnte zeigen, dass sich dieser Effekt bereits durch die Wahl von Sprichwörtern in der Kommunikation erreichen lässt. Selbst das Motto, das Sie einem Projekt geben, kann diesen Effekt auslösen. Der Motivational Fit prägt das Verhalten aller Mitglieder eines Teams und ist besonders bei der Führung von Innovationsteams ein wichtiger Erfolgsfaktor.
Hat Ihr Team einen Promotionsfokus, könnten Sie einen Arbeitsauftrag etwa so angehen: „Lassen Sie uns zuerst erarbeiten, was wir gewinnen können – als Team und als Firma!“ Wenn Sie später den Fortschritt bewerten, könnten Sie fragen: „Was ist in diesem Projekt bisher gut gelaufen? Was wird sich aller Voraussicht nach gut entwickeln?“ Liegt der Fokus auf Prävention, sollten Sie deutlich machen, dass Sie etwas verlieren werden, wenn Sie jetzt nicht handeln. Formulieren Sie etwa: „Was genau ist bisher in diesem oder in vergleichbaren Projekten schiefgelaufen?“, „Welche Fehler könnten uns unterlaufen und das Projekt scheitern lassen?“ oder „Lassen Sie uns genau erarbeiten, was auf dem Spiel steht, wenn wir das Ziel nicht erreichen.“
2. Geben oder erbitten Sie Feedback, das zum Motivationsfokus passt. Zu erklären, wie gut die Dinge in der Vergangenheit gelaufen sind oder wie gut sie in der Zukunft laufen werden, wirkt Wunder für das Selbstvertrauen von Menschen mit Promotionsfokus. Aber eben nur bei ihnen. Für Menschen mit einem ausgeprägten Präventionsfokus bringen negative Rückmeldungen, die die Wachsamkeit aufrechterhalten, die besten Ergebnisse. Damit sind keine gemeinen oder kritischen Rückmeldungen gemeint, sondern die Warnung, dass jemand sein Ziel nicht erreichen oder scheitern könnte, wenn er oder sie sich nicht genug anstrengt.
Angesichts der vielen Krisen auf der Welt müssen sich Unternehmen häufiger anpassen, als es ihnen lieb sein mag. Der Wandel auf organisatorischer Ebene wirkt sich auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus, die sich mit Veränderungen ihrer Aufgaben und der Art und Weise, wie sie ihre Arbeit verrichten, konfrontiert sehen. Anpassungsfähigkeit wird so immer stärker zum hervorstechenden Leistungsmerkmal guter Führungskräfte und ihrer Teammitglieder. Das gilt umso mehr in Zeiten, in denen mehr unerwartete Situationen auftauchen als erwartete Routinen.
Der AQ lässt sich mit einem kurzen Test erheben und mit relativ einfachen Methoden verbessern. Er kann so eine echte Alternative zu traditionellen Auswahltests für die Arbeit in instabilen Umgebungen sein. Er kann aber auch ein starkes Tool für das Selbstmanagement sein. Managerinnen und Manager können die Ergebnisse nutzen, um ihr Denken, ihre Emotionen und ihre Handlungen an die Anforderungen der heutigen Arbeitswelt anzupassen. Das kann ihrem persönlichen Wachstum und ihrer Karriere einen echten Schub verleihen. © HBm 2022
Autor
Carl Naughtonist Wirtschaftspsychologe und Hochschuldozent für Wirtschafts- und Führungspsychologie an der FOM Hochschule in Frankfurt. Zu seinen Schwerpunkten gehören die Themen berufliche Neugier, psychologisches Kapital und die Anpassungsfähigkeit von Organisationen und Menschen. Er ist unter anderem Autor der Bücher „Neugier: So schaffen Sie Lust auf Neues und Veränderung“ (Econ 2016) und „AQ: Warum Anpassungsfähigkeit die wichtigste Zukunftskompetenz ist“ (Gabal 2022).
Kompakt
Das Problem Unternehmen erwarten von ihren Managerinnen und Managern heute, dass sie Veränderungen positiv begleiten und gestalten, sprich: sich ihnen anpassen. Forschungen zeigen, dass anpassungsfähige Menschen zielorientierter, initiativfreudiger und erfolgreicher sind. Doch diese Fähigkeit wird nirgends gelehrt – und die meisten Führungskräfte sind darin nicht besonders gut. Tatsächlich bevorzugen viele – wie die meisten Menschen – von Natur aus den Status quo.
Die Lösung Neue Studien zeigen, dass sich Anpassungsfähigkeit erlernen lässt – was das Denken, die Emotionen und die Handlungen angeht. Mit einem wissenschaftlich validierten Fragebogen können Führungskräfte die eigene Anpassungsfähigkeit testen und Schwachstellen identifizieren. Bewährte Tools und Methoden des Selbstmanagements helfen, die eigene Kompetenz in dem Bereich zu steigern.
Hinfort mit der Nostalgie!
Veränderung heißt, Gewohntes loszulassen – etwas, das wir Menschen nicht gut können. Diese Neigung kann uns im Weg stehen, wenn wir uns beruflich verändern. Die Konstanzer Organisationspsychologin Cornelia Niessen beobachtete, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter neue Arbeitsrollen schneller erlernten und bessere Leistungen erbrachten, wenn sie in der Lage waren, sich von ihrer alten Rolle und ihren Routinen zu lösen und sich auf die Anforderungen der neuen Aufgabe zu konzentrieren.
Die Bindung an einen vorherigen Job wirkt sich aus zwei Gründen negativ auf unseren AQ aus. Zum einen erinnern wir uns an die schönen Momente und fangen an, das Frühere mit dem Neuen zu vergleichen. Dieses Schwelgen in der Vergangenheit nimmt uns Energie und Kraft. Beides bräuchten wir, um die neuen Abläufe, die neuen Kollegen und die neuen Gepflogenheiten kennenzulernen. Zum anderen bleiben wir in den Werten und Zielen des alten Jobs hängen. Mit Stolz denken wir an die Erfolge, das Gefühl, etwas Sinnvolles geleistet zu haben – und auch das steht dem Neuen im Weg. Nostalgie ist eine Lernbremse. Sie ist ein Aufmerksamkeitsmagnet. Es lohnt sich, sich von ihr zu lösen, wenn Ihre Aufmerksamkeit woanders benötigt wird.
Doch wie gelingt das? Indem Sie das Alte aktiv ignorieren. Stellen Sie das Denken an Ihre alte Arbeitsrolle und Ihr früheres Verhalten ein. Konzentrieren Sie sich darauf, was die neue Rolle von Ihnen verlangt, und vergleichen Sie diese Anforderungen nicht mit denen in Ihrem früheren Job. Auf diese Weise vermeiden Sie es, in „Verlusten“ zu denken. Sie nehmen das Neue eher als Chance wahr und trauern nicht mehr um das Vergangene. Notieren Sie sich gezielt, was an Neuem auf Sie wartet, ohne es gleich zu bewerten. Dadurch lenken Sie die Konzentration auf die Zukunft. Versuchen Sie, Ihre Einstellung neu zu justieren: Begegnen Sie dem neuen Job mit Neugier und Lernbereitschaft – zu lernen gibt es immer. Damit bahnen Sie positiven Gefühlen den Weg, was Ihre Wahrnehmung verändert. Wenn Sie das Alte loslassen, fällt Ihnen die Anpassung leichter, und vielleicht entwickeln Sie dann sogar richtig Freude an der neuen Arbeit.
Dieser Beitrag erschien erstmals in der November-Ausgabe 2022 des Harvard Business managers.
