Navigation überspringen
article cover

Bewerben über TikTok? So verändert die Digitalisierung den Bewerbungsprozess

Gero Hesse, Geschäftsführer von Territory Embrace, Experte für Employer Branding, Personalmarketing und Recruiting, betreibt seit zehn Jahren den Blog „Saatkorn“. Anlässlich unseres "NWXnow HR-Specials" haben wir ihn vorab getroffen. Im Interview verrät er uns, wann Personalabteilungen wirklich einen TikTok Kanal brauchen und auf welche Trends sich Bewerber und Personaler gleichermaßen einstellen können.

Mehr zum Thema gibt es in der Woche vom 12.10. bis 16.10.2020 im "NWXnow HR-Special". Hier sprechen wir mit HR-Experten, Vordenkern und Praktikern, um Klarheit und Orientierung zu schaffen. Und jede Menge Know-How aufzubauen. Dabei stellen wir zu jedem Thema die zentrale Frage: Was kommt, was bleibt und was ändert sich?

Welche von den vielen Veränderungen der letzten Monate ist der wichtigste Wandel, dem sich HR in der Post-Corona-Zeit stellen muss?

Gero Hesse: Aus meiner Sicht ist es das komplexe Thema Neue Arbeit. Die Zeiten der ständigen Anwesenheit im Büro, der Mitarbeiterkontrolle durch Führungskräfte, gehören seit Corona – zumindest bei den Wissensarbeitern – der Vergangenheit an. Es geht darum, eine Vertrauenskultur zu etablieren.

Mitarbeiter geben in der Regel ihr Bestes, wenn sie das Gefühl haben, etwas Sinnvolles zu tun. Die dazu gehörige Purpose-Diskussion halte ich für äußerst relevant. Zu den einschneidenden Veränderungen gehören die Flexibilisierung von Arbeit, die Entkopplung von Arbeitszeit und Arbeitsort und damit verbunden auch die Individualisierung, also tatsächlich die Rücksichtnahme auf die Individualbedürfnisse von Bewerbern oder Mitarbeitern.

Das sind die ganz großen HR-Themen, die sich durch die Corona-Krise deutlich offenbaren. Verbunden mit der Frage, ob dieses Höher-Schneller-Weiter des Turbokapitalismus überhaupt noch das Paradigma unserer Zeit sein kann vor dem Hintergrund von Klimawandel, Nachhaltigkeit etc. Human Resources ist Teil dieser Welt und spiegelt insofern alle Entwicklungen, die sich darin vollziehen.

Digitales Recruiting als Buzzword – was zählst Du alles darunter?

Gero Hesse: Natürlich verwende ich diesen Begriff selber auch oft, allerdings ist er nicht klar definiert. Eigentlich impliziert modernes Recruiting ja schon digitale Methoden, die sind eher Standard als Ausnahme. Nahezu jeder Kandidat schickt heute seine Bewerbungsunterlagen in digitaler Form, und von diesem Punkt an fächert sich das Feld ganz weit auf, so dass wir am Ende auch über Machine Learning, künstliche Intelligenz und Algorithmen reden.

Interessant ist allerdings, dass die neuen Abläufe nicht alle althergebrachten Formen substituiert haben. Es gibt nach wie vor Print-Stellenanzeigen. Natürlich viel weniger als früher, weil ja immer mehr Kanäle hinzu gekommen sind, von den ersten Online-Karrierewebseiten über Jobbörsen, Karrierenetzwerke und Social Media bis hin zum neuen Performance-orientierten Recruiting.

Aber zum Digital Recruiting zähle ich zum Beispiel auch, dass Unternehmen überhaupt in der Lage sind, digitale Bewerbungen zu händeln. In großen Konzernen ist das keine Frage, die haben alle ihre Bewerber-Management-Systeme, die mit sämtlichen Kanälen, die ich eben aufgezählt habe, verbunden sind. Aber wenn man in den Mittelstand schaut, dann läuft da vieles noch analog ab. Insgesamt würde ich gar nicht behaupten, alles verschwindet ins Digitale, sondern ich glaube, dass die digitalen Möglichkeiten Personalarbeit weniger fehleranfällig machen und deren Qualität verbessern. Aber die Technologie ist bei aller Schwärmerei für Künstliche Intelligenz noch nicht so weit im Jahr 2020, als dass man ihr die Arbeit komplett überlassen könnte. Außerdem muss man nicht alles, was technologisch möglich ist, auch zwangsläufig umsetzen. Am Ende des Bewerbungsprozesses sollten immer noch zwei Menschen miteinander sprechen.

Welche digitalen Tools spielen heute beim Employer Branding eine Rolle?

Gero Hesse: Employer Branding ist ja erst einmal nichts anderes als die strategische Antwort auf die Frage, was mich als Arbeitgeber besonders macht. Ob ich das Ergebnis analog oder digital kommuniziere, hängt u.a. von der Zielgruppe ab, an die ich mich wende. Wenn ich ITler, Digitaltalente und Nachwuchskräfte erreichen will, dann macht es natürlich Sinn, sich digitaler Kanäle zu bedienen. Auch hier möchte ich betonen, dass HR nicht außerhalb dieser Welt liegt, in der sich die Mediennutzung in den vergangenen zehn Jahren massiv gewandelt hat. Wenn ich also modern denkende Menschen erreichen will, dann führt auch kein Weg daran vorbei, dass ich eine Karrierewebsite habe oder dass ich bestimmte Social-Media-Plattformen mit meinen Botschaften bespiele.

Muss eine Personalabteilung einen TikTok-Account vorhalten, um gutes Ausbildungsmarketing machen zu können?

Gero Hesse: Es fällt mir schwer, darauf eine pauschale Antwort zu geben. Das hat damit zu tun, wie risikoaffin jemand ist. Stichwort Datenschutz, Stichwort politische Vorbehalte. Viele HRler sind vom Background her Juristen, und die sehen naturgegeben eher die Risiken als die Vorteile. Man kann aber auch ganz anders darauf blicken.

TikTok hat 100 Millionen Mitglieder in Europa, die meisten davon sind zwischen 14 und Anfang 20. Ergo, wenn ich junge Menschen für eine Ausbildung begeistern will, dann ist das vielleicht nicht der schlechteste Weg oder vielleicht sogar der Weg, über den ich die größte Reichweite bekomme. Diese beiden Seiten muss jeder für sich abwägen. Diese ganzen Datenschutz- und Zensur-Diskussionen gibt es ja nicht nur bei TikTok. Also entweder, man lässt die Finger komplett von Social-Media-Kanälen, oder man sagt, so verändert sich die Welt, die Risiken sind uns bewusst und wir gehen mit Maß und einer konstruktiv-kritischen Haltung an die Themen ran. Das ist der Weg, den ich vertreten würde, weil man sich sonst jeglichem Fortschritt verschließt.

In Deinem Blog Saatkorn gibt es eine Serie, in der sich unzählige HR-Start-ups vorstellen. Besteht da ein Gründungsboom?

Gero Hesse: Als ich damit anfing, habe ich gedacht, dass die Anzahl der HR-Start-ups wohl für 20 Folgen reichen würde. Inzwischen sind weit über 100 Folgen erschienen. Ich glaube schon, dass es da einen gewissen Gründungsboom gibt. Das ist auch naheliegend, zumindest wenn man an die hervorragenden Marktbedingungen vor Corona denkt: Fachkräftemangel bei gleichzeitiger Demografie-Entwicklung, die nicht unbedingt im Sinne der Arbeitgeber vonstatten geht, bei zunehmender Digitalisierung, die die Arbeitgeber vor große Herausforderungen stellt.

Ich hoffe sehr, dass sich auch künftig die Start-up-Szene in diesem Feld weiter entwickeln wird. Denn dabei entstehen viele coole Ideen und mich persönlich freut es, dass dieses ganze vermeintlich dröge Personal-Thema in den letzten Jahren deutlich an Sexiness gewonnen hat. Früher hat sich doch kaum ein junger Mensch für diesen Personalarbeit interessiert. Aber durch die digitale Entwicklung, verbunden mit all den neuen Möglichkeiten im Recruiting und Employer Branding, ist da Dynamik reingekommen. Ich bin jetzt Anfang 50, beschäftige mich seit über 20 Jahren mit den Themen und es wird einfach nicht langweilig. Im Gegenteil, es wird immer spannender. Insofern gucke ich mit großer Freude auf die Start-up-Szene.

Beeinflusst diese Entwicklung die klassischen HR-Bereiche der Unternehmen?

Gero Hesse: Ich würde mir wünschen, dass es mehr HR-Vorständinnen und -Vorstände gäbe, die mutig sind, neue Wege zu gehen. Die Technologie umarmen und nicht wegschieben. Der Status Quo hat viel damit zu tun, dass früher HR vornehmlich aus der juristischen Fraktion besetzt wurde, die nicht besonders offen ist für neue Dinge. Das ist gar nicht als Vorwurf gemeint, sondern es liegt in der Natur der Profession, dass man eher die Gefahren sieht als die Chancen.

Aber die Herausforderungen der Zukunft liegen weniger darin, arbeitsrechtlich alles richtig zu machen, sondern vielmehr darin, Antworten auf wichtige Fragestellungen zu finden: Wie sieht bessere Arbeit aus? Wie wollen wir als Wirtschaftssystem insgesamt agieren, volkswirtschaftlich, aber auch in den Unternehmen? Beugen wir uns dem Diktat des Turbokapitalismus und sagen, es reicht uns, Geld zu verdienen, oder achten wir auch auf die Umwelt, auf die Gesundheit der Mitarbeiter und viele andere Bereiche? Dann hat man auf einmal auch gesellschaftspolitisch etwas zu sagen. Denn wer außer der HR-Vorständin oder dem HR-Vorstand sollte denn diese Stimme im Unternehmen erheben? Doch wohl nicht der Finanzvorstand. Der hat andere Dinge zu regeln.

Was für Recruiting-Trends erwartest Du in den kommenden Monaten und Jahren?

Gero Hesse: Viele Bereiche werden enger zusammenwachsen. Zum Beispiel macht die Trennung von Employer Branding und Recruiting in meinen Augen wenig Sinn, weil man das ganzheitlich betrachten muss und nicht innerhalb der Organisation getrennt aufhängen sollte, wie es derzeit noch oft zu beobachten ist.

Weiterhin werden wir einen Individualisierungs-Trend beobachten können. Wir brauchen individualisierte Bewerberansprachen, die ja durch die Entwicklung der Technologie durchaus möglich sind. Selbst beim Massen-Recruiting wie im Handel, wo reihenweise Leute für die Filialen eingestellt werden, müsste man eigentlich stärker individualisiert auf die Bedürfnisse der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und eben auch der Bewerberinnen und Bewerber Rücksicht nehmen. Wir müssten auch vermehrt über Möglichkeiten nachdenken, die ich Opportunity Branding nenne.

Ein Bewerber fragt sich ja nicht in erster Linie, was ein Arbeitgeber für eine Employer Brand hat, sondern seine vordringlichsten Fragen lauten: Was will ich tun? Was will ich dafür haben? Und dann erst: wo kann ich das tun?

Weiterhin wird meiner Meinung nach Active Sourcing immer wichtiger und das ganze Thema Performance-Recruiting, wo man wirklich fokussiert auf Einstell-Erfolge die Kanäle einsetzt, was sowohl bei Personal- als auch Fachabteilungen zu einem Umdenken führt, da man – wenn man nicht selbst Teil der Zielgruppe ist – die Stellenanzeige ja im Zweifel gar nicht mehr zu sehen bekommt.

Was bedeutet das für Arbeitnehmer bzw. Bewerber, worauf können und sollten sie sich einstellen?

Gero Hesse: Grundsätzlich glaube ich, dass die Entwicklung tendenziell positiv für Bewerberinnen und Bewerber zu bewerten ist, sofern sie gewillt sind, sich einzubringen und bestimmte Wissensgebiete abdecken, die gefragt sind. Aber die Digitalisierung bringt natürlich auch mit sich, dass gerade Wissensarbeiter theoretisch immer und überall arbeiten können. Ich finde, dass es – im Sinne von erwachsen sein – wichtig ist, sich selbst Grenzen zu setzen. Bis wohin gehe ich mit und wo sage ich: Jetzt reicht's mal! Sonst kann ich zum Sklaven meiner selbst werden. Insbesondere für junge Leute, die ihre ersten Berufserfolge herbeisehnen, besteht die Gefahr, dass sie ausbrennen. Das ist selbstverständlich etwas, das man nicht nur Richtung Bewerber aussprechen muss, sondern auch Richtung Arbeitgeber.

Ist Digital Personal Branding ein Muss oder ein Plus?

Gero Hesse: Das gehört nicht zwangsläufig dazu, man muss auch der Typ dafür sein. Es gibt ja durchaus Leute, die gar keine Lust haben, irgendwo im Brennpunkt einer wie auch immer gearteten Öffentlichkeit zu stehen. Umgekehrt, wenn ich meinen eigenen Blog und Podcast betrachte, hat mir das langfristig zu mehr Bekanntheit und letztendlich auch mehr Aufträgen verholfen. SAATKORN war zwar nie so angelegt, aber sie ist natürlich irgendwie auch ein Saleskanal für mich selbst geworden. Es muss einem liegen und es muss Spaß machen. Am besten ist es eigentlich, wenn man begeistert von einer Sache ist und sich das Digital Personal Branding quasi nebenbei entwickelt.

––––––––––––––––––––

Über NWXnow HR-Special

Wer mehr von Gero Hesse erfahren möchte, sollte am 12.10.2020 beim NWXnow HR-Special vorbeischauen. Gemeinsam mit XING E-Recruiting und unseren Tochtermarken kununu, Prescreen und Honeypot präsentieren wir mit dem „NWXnow HR-Special“ ein attraktives Programm über alle fünf Veranstaltungstage vom 12.10. bis 16.10.2020.

Die NWXnow ist unsere digitale Formatreihe, die analog zu unserem jährlichen Offline-Event NEW WORK EXPERIENCE, ein Forum für die Diskussion zur Zukunft der Arbeit bietet. Denn wir sind davon überzeugt: Es geht mehr denn je um die Frage, wie wir die Weichen für eine zukünftige Arbeitswelt stellen, in der wir arbeiten wollen. Mit der NWXnow HR-Special startet nun das zweite Digital-Format der NWX.

In dieser Woche sprechen wir mit HR-Experten, Vordenkern und Praktikern, um Klarheit und Orientierung zu schaffen. Und jede Menge Know-How aufzubauen. Dabei stellen wir zu jedem Thema die zentrale Frage: Was kommt, was bleibt und was ändert sich?

Sei jetzt mit dabei und schau täglich vorbei: NWXnow HR-Special >>

Kommentare

NWX – New Work News schreibt über Alles zur Zukunft der Arbeit

Alles zur Zukunft der Arbeit: Auf dieser News-Seite finden alle New Work-Interessierten multimedialen Content rund um das Thema. Neben Experten-Interviews, Debatten, Studien, Tipps und Best Practices, erwarten die Leser auch Video- und Podcastformate. Und natürlich ein Überblick unserer gesamten New Work Events, die mehrmals im Jahr im gesamten deutschsprachigen Raum stattfinden. Weitere spannende Inhalte zum Thema New Work finden Sie auf: nwx.new-work.se

Artikelsammlung ansehen