Digital Bewerben: Warum der Trend für mehr Objektitivät im Auswahlverfahren sorgen kann
Prof. Dr. Uwe Kanning, Hochschule Osnabrück, Professor für Wirtschaftspsychologie, gilt als Personaldiagnostikexperte und hat sich um die Aufklärung über Pseudowissenschaften in der Personalauswahl und im Personalmanagement verdient gemacht.
Am 14. Oktober spricht er beim digitalen Format NWXnow HR-Special über das Recruiting von morgen und die Auswirkungen, die diese Veränderungen für Bewerber und für Unternehmen haben. Wir haben vorab mit ihm gesprochen. Im Interview verrät er uns, wie digitales Recruiting die Gefahr mindert, dass Bewerber bei der individuellen Interpretation ihrer Daten einfach nur Glück oder Pech haben.
Der Einstellungsprozess hat sich während der Corona-Krise gewandelt und Gespräche wurden, wenn überhaupt, nur remote geführt. Wie verändert das die Kommunikationssituation?
Prof. Dr. Uwe Peter Kanning: Das ist vom Erleben her eine deutlich andere Situation, sowohl für Bewerber als auch für die Entscheidungsträger in den Unternehmen. Man sieht sein Gegenüber nicht live vor sich, so wie man es seit vielen Jahren gewohnt ist. Gefühlt gehen dabei Informationen verloren. Aus der Forschung wissen wir, dass solche technikbasierten Auswahlverfahren zu strengeren Bewertungen führen, wenn diese Informationen, die sonst in einem Gespräch nebenbei mitlaufen, fehlen.
Setzt dieses Remote-Gespräch einen Bewerber zusätzlich unter Stress oder im Gegenteil, fühlt er sich wohler in seiner Komfortzone am Computer?
Prof. Dr. Uwe Peter Kanning: Die ganze Situation kann sowohl von Vorteil als auch von Nachteil sein. Grundsätzlich wissen wir, dass sich Bewerber bei computergestützten Auswahlverfahren, zu denen auch Interviews via Telefon oder Videotools zählen, weniger wohlfühlen. In Zeiten von Corona ist dieser Effekt vermutlich nicht so stark, weil alle verstehen, dass es sich um eine Ausnahmesituation handelt. Es kann aber durchaus sein, dass manche es als Erleichterung empfinden, dem Druck persönlicher Gespräche nicht ausgesetzt zu sein. Andere wiederum gehen vielleicht bei Video-Interviews zu locker an die Sache heran. Dabei ist aus der Forschung bekannt, dass Menschen dann maximale Leistung bringen, wenn sie ein mittleres Erregungsniveau erreichen. Wenn ich also zu aufgeregt oder auch zu entspannt bin, fällt es mir schwer, Leistung abzurufen.
Was verlangt das den HR-Abteilungen ab, wie müssen sie sich auf diese veränderte Situation einstellen?
Prof. Dr. Uwe Peter Kanning: Wer den Empfehlungen der Forschung folgt und strukturierte Interviews einsetzt, dürfte durch den Einsatz der Technik auch nicht so stark beeinflusst werden. Hoch strukturierte Interviews – mit einem strikten Leitfaden, den gleichen Fragen für alle Bewerber und einer einheitlichen Bewertung der Antworten – sind in Deutschland aber nicht der Regelfall. Hier haben wir es mehrheitlich mit gering strukturierten oder völlig unstrukturierten Interviews zu tun, bei denen eigentlich mehr oder weniger geplaudert wird.
Es gibt vielleicht ein paar Standardfragen, aber ansonsten wird in Abhängigkeit davon entschieden, was der einzelne Bewerber auf spontane Fragen antwortet, wie sie sich in einem normalen Gespräch ergeben. Daraus nimmt man dann irgendwie den Eindruck mit, ob jemand passt oder nicht, ohne es genau messen zu können. Dieses Bauchgefühl des Personalers wird auch durch nonverbale Informationen beeinflusst, die nur noch reduziert zur Verfügung stehen, wenn ich jemanden lediglich am Bildschirm sehe und weder dessen Körperhaltung wahrnehmen kann, noch seine Hände im Blick habe. In einem hoch strukturierten Interview hingegen kann ich dieses Gefühl an den Rand drängen und sagen, ich WEISS, das kann der Bewerber gut und das kann er nicht gut.
Die Recruitment-Plattform Taledo zum Beispiel bietet die Möglichkeit, über einen Filter das Profilbild der Bewerber unkenntlich zu machen und nur noch die Initialen des Namens anzuzeigen. Damit soll Diskriminierungen vorgebeugt werden. Ist es eine psychologische Herausforderung für die Entscheider, gegen die Neugier anzukämpfen?
Prof. Dr. Uwe Peter Kanning: Methodisch ist es erst einmal gut, das Foto wegzulassen. Zumindest bei solchen Berufen, wo das Aussehen offensichtlich keine Bedeutung hat, und das dürften die meisten sein. Es ist bekannt, dass Menschen, auch Personaler, sich stark durch visuelle Eindrücke beeinflussen lassen. Wir wissen beispielsweise, dass Menschen, die gut aussehen, systematisch positiver erlebt werden in ihrer Fachkompetenz, Sozialkompetenz und Intelligenz. Obwohl das alles Kriterien sind, die nichts mit dem Aussehen zu tun haben. Wir wissen auch, dass Menschen, die ausländisch aussehen, eher im Nachteil sind, dass sie weniger leistungsstark wahrgenommen werden als Inländer.
Es wird der Validität des Auswahlverfahrens dienlich sein, wenn ich bei der Vorauswahl das Foto nicht sehe. Aber jetzt kommt wieder das Problem, dass der durchschnittliche Personaler seit vielen Jahren immer diese Fotos sichtet. Und sie auch sehen will, weil er zum Teil tatsächlich glaubt, dass er in den Bildern irgendwas erkennen kann, das ihm weiterhilft bei der Frage, ob er einen gewissenhaften Mitarbeiter vor sich hat oder nicht. Der Verzicht auf das Bewerbungsfoto wird also zumindest für diejenigen Personaler unbequem sein, die lange im Geschäft sind und bisher in der beschriebenen Art und Weise Bewerbungsmappen gesichtet haben. Die müssten nun umlernen, denn letztendlich geht es nicht darum, dass sich der Personaler mit seiner Entscheidung wohlfühlt, sondern im Vordergrund steht die Aufgabe, gute Leute im Bewerberpool zu finden.
Welche Rolle spielen Algorithmen bei der Bewertung von Bewerbern, etwa Sprachanalyse oder die Möglichkeit des Abrufs von persönlichen Informationen aus Social-Media-Kanälen, und wie beeinflusst das die Sicht des Bewerbers auf die Auswahlkriterien des Unternehmens?
Prof. Dr. Uwe Peter Kanning: Das führt definitiv zu einer Reduzierung des Vertrauens. Wir haben dazu mehrere Studien durchgeführt, und auf beiden Seiten steht man dieser Technologie kritisch gegenüber. Weil eben niemand so genau weiß, was da eigentlich passiert in dieser Blackbox. Weder die Anwender noch die Bewerberinnen und Bewerber begreifen, wie die Software zu ihren Ergebnissen kommt. Wir haben in unseren Studien festgestellt, dass Bewerber negativ darauf reagieren, wenn ein Unternehmen mit Algorithmen arbeitet, um beispielsweise Facebook-Daten zu analysieren. Dadurch wird der Arbeitgeber unattraktiver und die Bewerbungsbereitschaft sinkt. Denn den Bewerbern wird die Entscheidungshoheit darüber genommen, welche Informationen sie dem Arbeitgeber zur Verfügung stellen. Völlig nachvollziehbar wird das als übergriffig erlebt. Bestimmte Dinge gehen den Arbeitgeber schlichtweg nichts an.
Welche Vorteile bringt dann ein digitaler Recruiting-Prozess überhaupt?
Prof. Dr. Uwe Peter Kanning: Der digitale Recruiting-Prozess kann zu einer höheren Objektivierung führen. Wenn ein halbes Dutzend Informationen pro Bewerber vorliegt und ich muss auf der Grundlage dieser wenigen Informationen entscheiden, welcher der Kandidaten zum Interview eingeladen wird, dann könnte eine gute Software dabei helfen, eine optimale Kombination dieser Kriterien zu erzielen und dadurch eine inhaltlich bessere Auswahl zu treffen. Das gibt mir als Bewerber die Gewissheit, dass nicht subjektiv ausgewählt wird, dass nicht Personaler A eine andere Entscheidung fällt als Personaler B und ich deshalb Glück oder Pech haben kann, je nachdem, wer gerade meine Daten aus dem Bauch heraus interpretiert.
Das wäre die Chance, die in einer solchen digitalen Personalauswahl mit Künstlicher Intelligenz liegt. Das Ganze hat allerdings nur dann einen realen Nutzen, wenn es tatsächlich gelingt, einen Algorithmus zu finden, der besser ist als der Mensch. Es gibt aber auch digitale Abläufe, die unabhängig von der KI funktionieren und die in den USA schon lange praktiziert werden. Indem beispielsweise fünf Kriterien festgelegt werden, die man zur Vorauswahl der Bewerber braucht. Im Eingabefeld muss der Bewerber Fragen beantworten – Was haben Sie studiert? Wie haben Sie abgeschnitten? etc. Anschließend bewertet ein Computer, ob die gewünschten Voraussetzungen erfüllt sind. Weil der Bewerberpool anschließend doch noch recht groß ist, erfolgt im zweiten Schritt ein Online-Leistungstest. Über diese Ergebnisse kann dann scharf gefiltert werden, um festzulegen, wer in die nächste Runde kommt. Vorausgesetzt, die Tests sind gut, befürworten wir aus der Forschung ein solches Vorgehen, da es zu einer besseren Vorauswahl der Bewerber führt und nicht so intransparent ist wie die Künstliche Intelligenz.
Wie kann man sich als Bewerber mental auf den digitalen Wandel im HR-Bereich einstellen?
Prof. Dr. Uwe Peter Kanning: Meiner Meinung nach gehört die Einsicht dazu, dass das Personalwesen sich wandelt wie die ganze Welt auch und dass digitale Prozesse in Zukunft immer stärker dazugehören werden. Es gab auch an analogen Bewerbungsprozessen immer Kritik. Was soll ein Anschreiben in der Bewerbungsmappe über mich aussagen, das ich vielleicht aus der Ratgeberliteratur abgeschrieben habe? Mit diesem Einwand hätte man auch vollkommen recht. Aber man spielt einfach mit, weil das Spiel so ist. Jetzt kommt eine neue Methodik hinzu, von der wir noch nicht wissen, wie gut sie am Ende sein wird. Und auch da muss ich dann als Bewerber letztendlich ein Stück weit mitspielen. Wir wissen aus der Forschung, dass Bewerber eine Methode umso positiver bewerten, je häufiger sie sie schon selbst durchlaufen haben. So, wie wir im Alltag selbstverständliche Dinge nicht mehr hinterfragen, so werden sich Bewerber auch an die neuen digitalen Verfahren gewöhnen.
Tipp: Youtube-Kanal von Prof. Dr. Kanning mit der Serie "15 Minuten Wirtschaftspsychologie“
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Über NWXnow HR-Special
Wer mehr von Prof. Dr. Uwe Peter Kanning erfahren möchte, sollte am 14.10.2020 beim NWXnow HR-Special vorbeischauen. Gemeinsam mit XING E-Recruiting und unseren Tochtermarken kununu, Prescreen und Honeypot präsentieren wir mit dem „NWXnow HR-Special“ ein attraktives Programm über alle fünf Veranstaltungstage vom 12.10. bis 16.10.2020.
Die NWXnow ist unsere digitale Formatreihe, die analog zu unserem jährlichen Offline-Event NEW WORK EXPERIENCE, ein Forum für die Diskussion zur Zukunft der Arbeit bietet. Denn wir sind davon überzeugt: Es geht mehr denn je um die Frage, wie wir die Weichen für eine zukünftige Arbeitswelt stellen, in der wir arbeiten wollen. Mit der NWXnow HR-Special startet nun das zweite Digital-Format der NWX.
In dieser Woche sprechen wir mit HR-Experten, Vordenkern und Praktikern, um Klarheit und Orientierung zu schaffen. Und jede Menge Know-How aufzubauen. Dabei stellen wir zu jedem Thema die zentrale Frage: Was kommt, was bleibt und was ändert sich?
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