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Tesla Model 3 auf einer deutschen Autobahn: Ein Gutachter brach nach einer riskanten „Phantombremsung“ seine Fahrt ab. - IMAGO/Bihlmayerfotografie
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Gutachter muss Testfahrt im Tesla nach Phantombremsung abbrechen

Ein Model 3 bremst abrupt um fast 50 Stundenkilometer ab. Nachfolgende Autos können gerade noch ausweichen. Erstmals bestätigt ein deutscher Gutachter jetzt das Phänomen.

Düsseldorf, Berlin. Das Gutachten eines gerichtlich bestellten Sachverständigen wirft ein neues Schlaglicht auf die Sicherheit des sogenannten Autopiloten in Tesla-Fahrzeugen.

Der vom Landgericht Traunstein beauftragte unabhängige Experte sah sich gezwungen, eine Testfahrt abzubrechen, weil das Fahrzeug aus seiner Sicht eine „Phantombremsung“ vollzog – also ohne erkennbaren Anlass überraschend und abrupt abbremste. Schon zuvor hatte das Auto nach seinen Angaben mehrfach Auffälligkeiten beim Bremsverhalten gezeigt.

Es sei dabei zu erheblichen Gefahrensituationen gekommen, schreibt der Ingenieur für Fahrzeugtechnik. Die weitere Fahrt im öffentlichen Verkehrsraum „ohne abgesperrte Autobahnabschnitte“ sei nach den Bremsungen „aus Sicherheitsgründen nicht mehr durchführbar“ gewesen, hielt er in seinem Gutachten fest, das dem Handelsblatt vorliegt.

Hintergrund des Gutachtens ist ein Rechtsstreit zwischen einem Tesla-Kunden und dem US-Konzern vor dem Landgericht Traunstein. Der Fahrer eines Tesla Model 3 Long Range hatte Tesla verklagt, weil er bei eingeschaltetem Autopiloten unerklärliche und gefährliche Bremsmanöver bemerkt haben will. Er hatte den Wagen im März 2022 für 60.920 Euro bestellt, im Dezember war das Auto an ihn ausgeliefert worden.

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Insbesondere bei Ein- und Ausfahrten von Tunneln, im Umfeld größerer Fahrzeuge und beim Wechsel des Fahrbahnbelags soll der Tesla wie von Geisterhand abgebremst haben. Beschwerden bei Tesla blieben erfolglos, im März 2023 zog der Kunde deshalb vor Gericht. Nun fordert er von Tesla ein neues Fahrzeug als Ersatz.

Im Januar dieses Jahres beauftragte das Landgericht Traunstein einen unabhängigen Gutachter. Der Auftrag: Der Experte möge Beweis erheben über die Behauptung des Kunden, das Fahrzeug bremse bei voller Fahrt mit Tempomat bzw. aktiviertem Autopiloten von selbst plötzlich und stark (ca. um 30 km/h) ab, ohne dass sich tatsächlich Hindernisse in der Fahrspur befinden.

Rund 700 Kilometer fuhr der Gutachter ab dem 6. August mit dem Tesla des Klägers, vor allem auf den Autobahnen A3 und A9 von München über Ingolstadt und Nürnberg bis Würzburg und zurück. Mit zwei Kameras im Innenraum des Autos dokumentierte der Ingenieur die Fahrten.

Sein Ergebnis fiel verheerend aus: Es habe fünf Situationen gegeben, in denen sich der Autopilot „unplausibel verhielt“. Vier Fälle habe er durch persönliches Eingreifen bereinigen können, ohne dass eine Gefahr entstanden sei, so der Gutachter. Dabei habe der Tesla zweimal in Baustellen bei verengter Fahrbahn die Geschwindigkeit verringert, weil das Assistenzsystem den Abstand zu den Autos auf der Nebenspur als zu gering eingeschätzt habe.

Tesla empfiehlt seinen Kunden auf seiner Website, den Lenkassistenten „nicht in Gebieten mit Baustellen“ zu nutzen.

„Erhebliche Gefahrensituationen“

Im Anschluss an die fünfte Situation aber sah sich der Ingenieur gezwungen, die Probefahrt mit dem Autopiloten abzubrechen. Der Gutachter fuhr demnach mit einer Geschwindigkeit von 140 km/h auf der linken Spur eines dreispurigen Autobahnabschnitts, als das Fahrzeug plötzlich auf 96 km/h abbremste. Einen erkennbaren Anlass für das Manöver habe es nicht gegeben – weder eine entsprechende Beschilderung noch andere Einflüsse im laufenden Verkehr.

Ein Unfall konnte gerade noch vermieden werden. Der Gutachter hielt fest: „Durch diese Situation kam es im nachfolgenden Verkehr zu erheblichen Gefahrensituationen. Dort konnten Ausweichmanöver und starke Bremsmanöver der nachfolgenden Fahrzeuge beobachtet werden.“ Ob die entsprechenden Sicherheitsabstände eingehalten wurden, habe sich nicht mehr rekonstruieren lassen.

In seiner Zusammenfassung bemerkte er, insbesondere diese Situation entspreche aus seiner Sicht der Beschreibung einer sogenannten „Phantombremsung“.

Tesla-Chef Elon Musk: Der Konzern verwies bei Beschwerden bislang immer auf angebliche Bedienfehler von Kunden - REUTERS
Tesla-Chef Elon Musk: Der Konzern verwies bei Beschwerden bislang immer auf angebliche Bedienfehler von Kunden - REUTERS

Tesla äußerte sich bisher nicht auf Handelsblatt-Nachfragen zu dem Ergebnis des Gutachtens. Bislang hat der Konzern sogenannte Phantombremsungen stets zurückgewiesen und dabei regelmäßig auf Bedienfehler der Kunden verwiesen. Christoph Lindner, der Anwalt des klagenden Tesla-Fahrers, sieht in dem Gutachten des Experten entsprechend „ein Beweisergebnis mit ziemlicher Sprengkraft“.

Das Gutachten sei bedeutsam, „weil erstmals ein unabhängiger, gerichtlich bestellter Sachverständiger das Auftreten von Phantombremsungen bestätigt hat“, so der Jurist. Lindner vertritt zahlreiche Tesla-Kunden und hat sich als sogenannter Tesla-Anwalt bundesweit einen Namen gemacht.

Kritik am „Vision only“-System

Lindner kritisiert, es sei „zu spät, wenn solch gravierende Sicherheitsrisiken erst im Rahmen eines Zivilrechtsstreits bemerkt und ernst genommen werden“, sagt er. Auf den Straßen seien Tausende vergleichbare Fahrzeuge unterwegs. Seine Kritik zielt auf das „Vision only“-System hinter dem Autopiloten.

Tesla verfolgt damit im Vergleich zu anderen Autobauern einen Sonderweg, denn üblicherweise liefern Radar- und Ultraschallsensoren die Informationen für Funktionen wie Abstandstempomat, Einparkhilfe und Notbremsung. Hinter dem im Herbst 2022 etablierten Konzept der Amerikaner steckt der Ansatz, die Umgebungsdaten nur über Kameras zu beziehen.

Probleme mit dem Autopiloten gibt es schon länger. Dies dokumentieren etwa interne Tabellen in den 2023 vom Handelsblatt aufgedeckten Tesla-Files. Diese enthielten mehr als 2400 Beschwerden über Selbstbeschleunigungen und mehr als 1500 Probleme mit Bremsfunktionen, darunter 139 Fälle von ungewollten Notbremsungen und 383 gemeldete Phantombremsungen infolge falscher Kollisionswarnungen.

Unterlagen aus dem Konzern zeigen zudem: Selbst Tesla-Mitarbeiter hielten Fahrten mit dem Autopiloten offenbar für lebensgefährlich. Tesla hingegen verweist bei solcher Kritik regelmäßig auf Bedienfehler und betont, dass Fahrer die Hände am Lenkrad lassen müssen.

Ein Ende des Streits vor dem Landgericht Traunstein scheint derweil noch nicht in Sicht. Aktuell laufen noch Stellungnahmefristen für beide Parteien. Ein konkreter Termin für die Fortsetzung des Verfahrens steht noch nicht fest.

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