Hybrides Arbeiten: Vorsicht vor Proximity Bias
Hybrides Arbeiten vereint das beste aus beiden Welten – kann aber auch zu Ungleichbehandlungen führen. Wie lässt sich umgehen mit „Proximity Bias“?
Ab sofort bleibt alles anders. So oder so ähnlich dürften die Ankündigungen in vielen deutschen Unternehmen gelautet haben, als zum 1. Juli die Home-Office-Pflicht auslief. Zwar ordern einige CEOs ihre Mitarbeiter:innen nun wieder täglich ins Büro. Mit Blick auf die Ausbreitung der Corona-Deltavariante, die Impfquote und die guten Erfahrungen mit der Remote-Arbeit in den vergangenen eineinhalb Jahren wollen aber viele Unternehmen und Mitarbeiter:innen gar nicht zurück zur Vollzeitpräsenz. Das hybride Arbeiten zwischen heimischem Schreibtisch und Büro gilt als neues Ideal.
Zwei Tage im Büro für Meetings, drei Tage konzentriertes Arbeiten im Home Office – dieses Modell scheint das Beste aus beiden Welten zu vereinen: wenig Pendelzeiten, eine bessere Balance zwischen Privatleben und Arbeit, aber gleichzeitig genügend Möglichkeiten für den persönlichen Austausch mit Teammitgliedern.
Es gibt allerdings ein Problem mit diesem Yin-und-Yang-Prinzip für die Arbeitswelt: es ist wesentlich schwieriger zu managen. Wenn alle im Home Office oder alle im Büro sind, herrschen gleiche Bedingungen für alle. Sitzt ein Teil im Büro, während andere Teammitglieder zuhause sind, birgt das die Gefahr des sogenannten Proximity Bias. Darunter versteht man die Tendenz von Führungskräften, Mitarbeiter:innen, die sich in unmittelbarer Nähe befinden, als bessere Arbeitskräfte wahrzunehmen – einfach, weil sie mehr Zeit mit ihnen verbringen. Diese Voreingenommenheit kann dazu führen, dass Mitarbeiter:innen im Büro bessere (Aufstiegs-)Chancen bekommen.
Vor diesem Effekt warnte kürzlich Darren Murph, „Head of Remote“ beim Softwareentwickler Gitlab. Proximity Bias sollte die größte Sorge für Unternehmen sein, die hybride Arbeitsumgebungen implementieren, sagte er kürzlich gegenüber dem US-Portal Protocol. Denn der Effekt könne schnell für Ungerechtigkeit sorgen: „Wenn man zwei Spielfelder zu verwalten hat, sind sie von vornherein ungleich.“
Wenn man Menschen die freie Wahl lässt, ob sie ins Büro kommen oder nicht, werden sie sich vor allem am Verhalten ihrer Führungskräfte orientieren. Und die sind in Deutschland nun mal überwiegend mittelalt, männlich und ziemlich flexibel. Heißt, sie können mit größerer Wahrscheinlichkeit relativ frei darüber entscheiden, wann und wieviel Zeit sie im Büro oder zuhause verbringen. Für Menschen, die zum Beispiel die Betreuung ihrer Kleinkinder organisieren, gilt das nicht in gleichem Maße.
Murphs Vorschlag ist deshalb, das Büro ganz abzuschaffen. Das klingt zunächst radikal – doch die Pandemie hat gezeigt, dass es auch so funktionieren kann – und Studien zufolge sogar zu mehr Jobzufriedenheit führt. Für diejenigen, die gelegentlich den eigenen vier Wänden entfliehen müssen oder die ihre Kolleg:innen für ein Brainstorming treffen wollen, könnten Plätze in Co-Working-Spaces angemietet werden.
Wem die Disruption des Büros zu weit geht, der sollte sich zumindest ernsthaft Gedanken darüber machen, wie sich Proximity Bias im hybriden Arbeitsalltag vermeiden oder zumindest reduzieren lässt. Zum Beispiel, indem bei Meetings alle Anwesenden im Büro ihren eigenen Laptop mit Videokonferenz vor sich öffnen, sodass auch die Teilnehmer:innen zuhause alle gleichberechtigt sehen und hören können. Oder durch das Aufstellen von klaren Regeln für Präsenzzeiten, an die sich vor allem die Führungskräfte strikt halten müssen. Wer sein Team bittet, an zwei festen Tagen ins Büro zu kommen, aber selbst jeden Tag dort ist oder nur gelegentlich vorbeischneit, sendet ein falsches Signal.
Die mitunter leidenschaftlich geführte Debatte über das richtige Maß an Remote-Work zeigt: der Übergang zur hybriden Arbeitswelt läuft nicht automatisch. Es ist ein Aushandlungsprozess, der viel Zeit und klare Kommunikation braucht – aber große Chancen birgt.